Was ist das Herzstück eines Festivals? Ein Interview mit der neuen ITFS-Leitung

Jedes Jahr ein neuer Besucher*innenrekord, neue Spielstätten in und um den Kessel, Animation in allen möglichen Spielarten: Das war meist Fokus und Fazit der Festival- und Pressearbeit der letzten Jahrzehnte beim Internationalen Trickfilm-Festival Stuttgart. Dabei gab es einige Kontinuitäten: Von 1982 bis 2002 leitete Prof. Albrecht Ade als ITFS-Gründungsvater die Geschäfte, 2005 bis 2022 war es Prof. Ulrich Wegenast, zusammen mit ihren jeweiligen kaufmännischen Leitungskollegen. 2022 markierte mit Wegenasts Weggang einen Cut – 2023 fand die 30. Jubiläumsausgabe des Festivals unter einer Interimsleitung nur in abgespeckter Form statt.

WHITE PLASTIC SKY © ITFS, Sarolta Szabó, Tibor Bánóczki Ungarn Sowakei 2021

Inzwischen gibt es ein neues, weibliches, Führungsduo, das sich aus der AG Animationsfilm-Geschäftsführerin Annegret Richter (künstlerische Leitung) und Heike Mozèr (kaufmännische Leitung) zusammensetzt. Sie haben nun unter anderem die Aufgabe, Deutschlands größtes, publikumsstärkstes Animationsfilmfestival regional und international weiter zu etablieren. Denn natürlich ist das ITFS ein Fixpunkt für die deutsche Animationsfilmszene – auch durch die pulsierende Branche drum herum – aber vor allem international kann das Festival durchaus an seiner Reputation arbeiten. Ob es nun um das persönlich-familiäre Aufgehobensein-Feeling geht, für das beispielsweise das Animafest Zagreb oder auch die Animateka in Ljubljana stehen, oder den FOMO-Magnetismus, den Events wie Annecy (das „Cannes des Animationfilms“) mit seinem vor Animationsstars und Networking berstenden Programm erzeugen.

 

 

Heike Mozèr und Annegret Richter – Leitungsteam des-ITFS © Reiner Pfisterer

 

Sich erstmal „auf seinen Kern“ konzentrieren – das ist der Ansatz, den das Duo für seinen neuen Kurs gewählt hat. Programmatisch wurde deshalb oder trotzdem für die 31. Edition, die vom 23. bis 28. April über die Bühne geht, groß, aber nicht überbordend aufgefahren: Gezeigt werden 400 Filme im Kino und über 100 Filme auf dem Open Air aus 34 Ländern (zum Vergleich: 2019 wurden über 1000 Filme gezeigt, es gab 200 Veranstaltungen). Unter den präsentierten Langfilmen befinden sich künstlerisch-düstere Filme wie WHITE PLASTIC SKY, der Europäische-Filmpreis-Gewinner ROBOT DREAMS, der lyrisch-sinnliche SULTANA’S DREAM, aber auch viele kindergerechte Produktionen, darunter die Weltpremiere von ELLI – UNGEHEUER GEHEIM oder SIROCCO, KINGDOM OF THE WINDS. Der Länderfokus hebt dieses Jahr den irischen Animationsfilm ins Spotlight. Auch „Women in Animation“ sind ein Thema, wenn prominente Gäst*innen wie Špela Čadež, Isabella Herguera oder Michaela Pavlátová Einblicke in ihre Arbeit geben. Zusammen mit der Fachkonferenz FMX und den Animation Production Days (APD) ruft das ITFS außerdem die „Stuttgart Animated Week“ aus – und steuert neben seinem Filmprogramm, Game-Zone-Programm sowie Serienspecial (u.a. mit adult swim) auch einen Diskursschwerpunkt bei: Die Insights bieten Talks & Panels sowie Masterclasses & Workshops.

 

 

Marie Ketzscher hat für shortfilm.de mitten in der heißen Vorbereitungsphase mit Annegret Richter und Heike Mozèr über strukturelle Veränderungen, Schwerpunktsetzungen und Highlights des diesjährigen Programms sprechen können.

shortfilm.de: Ich würde gern mit euren Backgrounds anfangen, weil ihr ja beide so frisch in der Leitung seid. Annegret, du hast ja durch die DOK Leipzig und auch das Filmfest Dresden bereits Leitungserfahrung, aber in den letzten Jahren warst du ja vor allem für die AG Animationsfilm tätig, also mit Fokus auf Netzwerk- und Lobbyarbeit. Was bringst du mit für die Position, was gibt es auch für Herausforderungen?

 

Annegret Richter: Ich glaube, dass das eigentlich ein gutes Zusammenspiel aus verschiedenen Erfahrungen und Tätigkeiten bei mir ist. Ich kenne die Branche, bin gut vernetzt. Ich bin durch die AG Animationsfilm sehr nah an der deutschen Animationsszene dran, weiß, was ihre Bedürfnisse sind. Und ich habe die letzten Jahre auch immer wieder bei Festivals oder auch in der Programmberatung gearbeitet, zum Beispiel beim ITFS letztes Jahr. Das ist ein Teil meiner Biografie, der war nie weg.

shortfilm.de: Du arbeitest jetzt weiter in der Geschäftsführung der AG Animationsfilm, Annegret. Man könnte natürlich sagen: Durch deine Festivalleitung entstehen ja auch vielleicht Begehrlichkeiten. Also potenzielle Interessenskonflikte.

Annegret Richter: Das sehe ich nicht so. Für mich sind das eher Synergien, die sich ergeben. Und ich bin ja auch nicht allein bei den beiden Organisationen, sondern habe Menschen, mit denen ich mich austausche und mit denen wir gemeinsam einen Weg finden, was und wie wir etwas umsetzen.

Und vieles ändert sich auch gar nicht, zum Beispiel, wenn es um Filmpolitik geht. Hier kann ich in beiden Rollen für die Stärkung des Animationsfilms in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung kämpfen.

shortfilm.de: Kommen wir zu dir, Heike. Du hast vorher als kaufmännische Leiterin des Animationsinstituts an der Filmakademie Baden-Württemberg gearbeitet und hattest die Projektleitung der FMX, die sich ja eher an ein Fachpublikum richtet. Was hat dich daran gereizt, beim ITFS zu arbeiten, das ein breites Publikum adressiert?

Heike Mozèr: Für mich war das eine schöne Herausforderung, weil ich ja viele Erfahrungen mitbringe, die ich beim ITFS einsetzen kann. Ich weiß durch die FMX, was es braucht, um Großevents zu organisieren, habe Transformationsprozesse begleitet. Durch den Umgang mit den Student*innen weiß ich auch, welche Bedürfnisse Filmemacher*innen haben. Außerdem war ich schon in der Vergangenheit für das ITFS als Organisationsleitung tätig, von 1992 bis 1998. Ich bin auch politisch gut vernetzt und habe jahrelange Erfahrung im Umgang mit Budgets ­– Stichwort Wirtschaftlichkeit..

shortfilm.de: Es ist eure erste gemeinsame ITFS-Ausgabe, und quasi ein Neuaufschlag nach der abgespeckten Ausgabe im letzten Jahr. Was sind die strukturellen Veränderungen, die ihr am Festival vorgenommen habt?

Heike Mozèr: Der Festivalkern setzt sich nach wie vor aus den Wettbewerben und den Themenschwerpunkten zusammen. Uns war es wichtig, dass wir das gesamte Programm klar und strukturiert gestalten – für die Filmemacher*innen, die Besucher*innen und die Branche im Allgemeinen. Es war uns in diesem Prozess auch sehr wichtig, uns mit den Partnern immer wieder auszutauschen und sie ins Boot zu holen. Wir haben für diese Ausgabe ein „Festival der kurzen Wege“ etabliert, das sich zwischen dem neuen Festivalzentrum, den Festival-Kinos und dem Open-Air-Gelände abspielt. Zwischen diesen die Locations, alle nur einen Katzensprung voneinander entfernt, findet alles statt – von Screenings über Workshops bis zum Filmemacher*innen-Gespräch.

MY SUNNY MAAD © ITFS, Michaela Pavlátová, Frankreich, Tschechische, Republik, Slowakei

Annegret Richter: Richtig, der Austausch rund um das Programm ist uns sehr wichtig – dass die Filmemacher*innen miteinander, aber eben auch mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Ich würde noch gern ergänzen, dass man viele der Veränderungen, die wir vorgenommen haben, von außen vielleicht gar nicht sieht. Wir haben interne Prozesse verändert, Workshops gemacht und die Kommunikation verbessert. Das hat auch damit zu tun, dass wir ein anderes Verständnis von Leitung einbringen wollten – das Team bekommt viel mehr Verantwortung.

shortfilm.de: Das sind wahrscheinlich ohnehin auch Transformationsprozesse, die weitergehen, und nie richtig enden, weil sich ja auch die Festivalwelt ständig verändert.

Annegret Richter: Absolut. Es wird beim Festival deswegen auch ein Panel geben, das sich mit den Transformationsprozessen in Festivals beschäftigt. Denn das betrifft ja nicht nur uns. Festivals müssen sich ständig verändern und auch gesellschaftliche Gegebenheiten abbilden. Dazu gehören auch Themen wie Nachhaltigkeit und Inklusion, die wir beim ITFS auch noch nicht genügend bearbeitet haben. Aber ich finde es wichtig, dass man das alles im Blick hat.

Heike Mozèr: Nachhaltigkeit und Modernisierung waren uns wichtig. Das Festival hat ein neues Erscheinungsbild und auch das Open Air ein Makeover bekommen. So haben wir das etwas angestaubte Setting mit Biertischen modernisiert. Es hat jetzt einen frischeren Look mit einer höheren Aufenthaltsqualität und an den Ständen gibt es – neben der roten Wurst – auch mehr vegetarisches und veganes Essen.

shortfilm.de: Ein bisschen klingt das, als würdet ihr euch auf das Wesentliche konzentrieren wollen. Das erscheint mir doch auch wie ein anderer Grundgedanke. Schließlich war das ITFS über Jahre sehr divers aufgestellt, hat an ungewöhnlichen Orten stattgefunden – zum Beispiel in der Oper, im Konzertsaal (Scala), Planetarium und so weiter. Das haben viele als aufgebläht empfunden, aber es war natürlich auch etwas Ungewöhnliches, Besonderes. Und es gab den Ansatz: Animationsfilm eben auch dorthin bringen, wo man ihn nicht unbedingt erwartet.

Heike Mozèr: Uns ging es wirklich darum, uns sowohl programmatisch als auch strukturell auf den Kern zu besinnen: Was kann und soll ein Festival leisten? Und natürlich muss das auch finanzierbar sein. Mit dem Open Air haben wir einen tollen Publikumsmagneten vor allem für die Gäst*innen aus Stuttgart und der Region. Daneben möchten wir für die internationalen Filmemacher*innen sowie die Branche eine angenehme Atmosphäre zum Netzwerken und für persönliche Begegnungen schaffen. Deshalb haben wir auch das Programm klarer strukturiert, um den Festivaltag besser planen zu können.

Annegret Richter: Es gab in der Vergangenheit Leute, die saßen auf dem Schlossplatz und wussten nicht, dass sie beim ITFS sind. Da wollen wir zum Beispiel ansetzen, sie an das Festival heranführen und zusätzlich bereits bewährte Programmpunkte optimieren. Zum Beispiel die Game Zone, die wir weiter entwickeln wollen, auch namentlich, weil der Begriff längst nicht mehr abbildet, was dort passiert. Und wenn dieser Kern stimmt, dann kann man auch mal eine Ausstellung, Veranstaltungen in anderen Städten oder etwas ganz anderes stattfinden lassen. Aber gerade nach der Pandemie ist es vielleicht auch einfach nicht schlecht, erst mal zu stabilisieren, zu konsolidieren – und dann aus dieser Entwicklung heraus wieder zu wachsen.

shortfilm.de: Die programmatische, inhaltliche und strukturelle Stärkung der Marke ITFS ist euch also ein wichtiges Anliegen. Meint ihr das auch visuell?

Heike Mozèr: Auf jeden Fall. Durch das jährlich wechselnde Hauptmotiv konnte sich das Erscheinungsbild der Marke nicht etablieren. Nun hat auch Trixi, unser ITFS-Maskottchen, ein Makeover bekommen, um die Wiedererkennbarkeit der Marke zu verbessern. Nun rufen wir erstmals die Stuttgart Animated Week aus: ITFS, FMX und APDs rücken noch enger zusammen und sind dieses Jahr auch erstmals visuell durch ihre Trailer verbunden, die aus einer Hand stammen. Wir möchten nach außen und vor allem für die Stuttgarter*innen diese drei Events sichtbarer machen. Es ist doch fantastisch, dass hier die Animationsbranche für eine Woche zusammenkommt.

 

NEXT © ITFS, Christel Guibert

shortfilm.de: Was ist denn inhaltlich, filmisch besehen neu in diesem Jahr?

Annegret Richter: Wir möchten dieses Jahr einen Fokus auf die „Deutsche Animation“, also das nationale und regionale Filmschaffen, legen, weil man die vielen unterschiedlichen Stimmen sonst nur bruchstückhaft im Internationalen und im Studentenwettbewerb abbilden kann. Mit diesem Programmpunkt können wir den Filmemacher*innen sagen: Ihr seid uns wichtig. In der „Deutschen Animation“ zeigen wir dann zum Beispiel auch Filme, die vorher noch keine Deutschlandpremiere hatten, was ich ganz großartig finde. Für die Branche ist so ein Fokus immens relevant. Ich möchte, dass die Filmemacher*innen herkommen, sich wohlfühlen und sich das dann gleich als einen festen Termin für das nächste Jahr in den Kalender schreiben.

shortfilm.de: Es ist eure erste gemeinsame ITFS-Ausgabe – jetzt nehmen wir mal an, es kommt wirklich jemand auch zum ersten Mal zum ITFS. Was sind Highlights, was möchtet ihr empfehlen?

 

FRITZI UND SOPHIE, Episode 4 © Ralf Kukula, Matthias Bruhn, Thomas Meyer-Hermann

Annegret Richter: Wunderbar zugänglich umgesetzt ist die SerieFRITZI UND SOPHIE, hier zeigen wir alle acht Episoden, vier davon im Kino als Weltpremiere und weitere vier im Open Air. Dieses Jahr feiern wir 35 Jahre Mauerfall in Deutschland und die Serie greift dieses wichtige Thema auch, aber eben nicht nur, für eine jüngere Zielgruppe auf. Ich finde es wichtig, dass möglichst vielen Menschen sich erinnern, wie bedeutsam der Sommer/ Herbst 1989 für die deutsch-deutsche Geschichte war. Außerdem ist dieses Jahr Michaela Pavlátová bei uns und wir freuen uns sehr, dass uns der internationale Animationsverband ASIFA gefragt hat, ob wir ihr hier den ASIFA Prize überreichen. Von ihr zeigen wir ein Kurzfilmprogramm und ihren Langfilm über Afghanistan, MY SUNNY MAAD. Im Kinderlangfilm gibt es neben vielen anderen die Weltpremiere von ELLI – UNGEHEUER GEMEIN und die Deutschlandpremiere DAS GEHEIMNIS VON LA MANCHA zu sehen, beides Filme mit deutscher Beteiligung. Für unser mit Animation vertrautes Publikum würde ich dann definitiv noch die Student Competition und den Internationalen Wettbewerb empfehlen, das ist und bleibt die Königsdisziplin für den künstlerischen Kurzfilm. Aber für Menschen, die zum ersten Mal animierte Kurzfilme für Erwachsene sehen, kann die Auswahl in den Wettbewerben schon überwältigend sein, denn besonders in diesem Jahr sind viele heftige Themen dabei wie häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe, Verlust und Tod, die in den Filmen künstlerisch visualisiert werden.

shortfilm.de: Und dann habt ihr noch ein Diskursprogramm, die Insights. Insgesamt kommt es mir jetzt doch wieder sehr umfangreich vor – gefährdet das nicht dann wieder die Idee, einen erkennbaren Festivalkern zu haben, vor allem, weil auch FMX und APD ein Fachprogramm anbieten?

Heike Mozèr: Der Austausch mit den Filmemacher*innen ist wichtig. In den Filmemacher*innen-Talks erfährt das Publikum mehr über die persönlichen Beweggründe, die Techniken und die Entstehung der Arbeiten. Außerdem haben wir in diesem Jahr mehr gemeinsame Synergien mit FMX und APD und damit mehr programmatische Schnittstellen der Veranstaltungen, sodass sich das auch hier gut ergänzt wie etwa bei dem gemeinsamen Screening von Nimona am Donnerstagabend.

Annegret Richter: Vielleicht gibt es ein paar mehr Gesprächsrunden, aber wahnsinnig viel größer als im letzten Jahr ist das Programm nicht. Wir haben außerdem versucht, unsere Zeitschienen für jeden Tag zu optimieren, damit man sich auch als Festivalneuling gut zurechtfindet. Für uns ist es aber auch wichtig, dass wir Begleitformate aus Work-in-Progress, Workshops, Lectures und Masterclasses anbieten, bei denen man Hintergründe erfährt. Das ist für die Branche und für das Publikum von außen interessant. Und ich finde dieser intellektuelle Input, der gehört schon dazu bei einem Festival.