Dem Unausgesprochenen auf der Spur – im Gespräch mit André Eckardt über den (kurzen) Animationsfilm bei DOK Leipzig

ZOOPTICON, Jon Frickey, Thies Mynther, Sandra Trostel © DOK Leipzig

Wie sinnvoll ist es, Grenzen zwischen Filmformaten zu ziehen? Bei der 66. Ausgabe von DOK Leipzig, das vom 8. bis 15. Oktober stattfindet, dürfen sich das Fachbesucher*innen und Leipziger Publikum wieder fragen. Schließlich begleitet das Festival seit seiner Entstehung das Thema, wird mit Formatdiskussionen um AniDocs und hybride Konzepte weiterhin aktuell gehalten. Denn kein anderes deutsches (und sehr wenige internationale A-Festivals überhaupt) konzentriert sich schließlich so ausgiebig und liebevoll auf den Dokumentar- und den Animationsfilm, präsentiert ihn in Kurz- und Langfilmwettbewerben, kuratierten Events sowie Branchenveranstaltungen.

 

In diesem Jahr gibt es ihn noch einmal ganz konkret, und zwar von Festivalseite: Den Versuch, die Formen auseinanderzuhalten, indem nun auch der lange Animationsfilm eine eigene Bühne bekommt. Nun werden die Langfilme in jeweils drei Wettbewerben gezeigt – international, national und Animation. Damit blickt das Kuratorium und im Anschluss die Jurys (und am Ende das Publikum?) 2023 sehr viel konzentrierter auf die State-of-the-Art sowie Entwicklungen in beiden Bereichen; es entstehen Optionen für eine sogenannte „Vergleichbarkeit“. Hoffentlich trennt dieser neue Wettbewerb aber die Zuschauer*innen und Filmemacher*innen nicht voneinander, kreiert noch mehr Bubble-Feeling in einer bubble-isierten Kulturwelt.

 

Insgesamt finden sich unter den 225 gezeigten Filmen und XR-Arbeiten aus 60 Ländern 67 kurze Arbeiten, nämlich 36 Animationsfilme und 31 Dokumentarfilme. Unter den animierten Filmen finden sich einige Beiträge, die sicherlich auch den internationalen Festivalrun im Animationsbereich dominieren werden – das ist jedenfalls ein gutes Zeichen dafür, dass DOK Leipzig auch in diesem Bereich verstärkt wahrgenommen wird. Dazu gehören 27 von Flóra Anna Buda oder auch Zima von Kasumi Ozeki und Tomek Popakul, der mit seinem Acid Rain 2019 fast alle wichtigen Animationspreise abräumte.

 

BRANDEN, Juliane Ebner © DOK Leipzig

Unter den deutschen kurzen Animationsfilmen, die fast allesamt Weltpremieren sind, findet sich das wundersame 2D-Tier-Musical Zoopticon von Thies Mynther, Sandra Trostel und Jon Frickey, bei dem man gespannt sein darf, ob es an die Erfolgsgeschichte von Cat Days anknüpfen kann.  Juliane Ebner erkundet mit ihrem auf Tuschezeichnungen basierenden Animationsstil in Branden ihre eigene DDR-Kindheit in Stralsund; Marcus Grysczok betrauert den Verlust seines Bruders in Brother; und Bianca Scali nimmt in It’s Just a Whole, ihrem Diplomfilm am Animationsinstitut der Filmakademie Baden-Württemberg, die intimen Momente und Gedanken rund um ein Hautkrebsscreening unter die Lupe.

 

Drei kuratierte Programme lenken den Blick auf ganz bestimmte Themenbereiche und Stilistiken im Animationsfilm. Die von Franka Sachse kuratierte „Animation Night: ZwischenWelten – Ein Abend für und mit Tess Martin“ widmet sich beispielsweise Tess Martins autobiografischen, oftmals analogen Animationsfilmen. Franka Sachse, die selbst eine profilierte Animationsfilmemacherin ist, gehört zum Animationsfilmkuratorium – ebenso wie André Eckardt, der seinerseits wieder zwei Programme konzipiert hat. Zum Einen „Zuhause – Grundriss, Aufriss & Leben“, eine audiovisuelle Reise durch verschiedene Blicke auf das (Eigen)heim und zum Anderen „Animation Perspectives“, das schon zum 5. Mal stattfindet. Die „Animation Perspectives“ wurden vor fünf Jahren, als der Wettbewerb „Deutsche Animation“ im „Internationalen Wettbewerb Animationsfilm“ aufging, ins Leben gerufen. Eckardt, der von 2008 bis 2015 als Geschäftsführer das Deutsche Institut für Animationsfilm in Dresden leitete, bereits seit 2017 als Kurator und Auswahlkommissionsmitglied für DOK Leipzig arbeitet und darüber hinaus 10 Jahren im Bereich der audiovisuelles Archivarbeit tätig ist, würde sich im Grunde irgendwann mal eine Art „Alumnitreffen“ idealerweise mit angedockter Ausstellung wünschen. In diesem Rahmen könnten die Begegnungen – und vielleicht auch die daraus entstehende Zusammenarbeit – auch nachhaltiger sichtbar werden.

Was genau die „Animation Perspectives“ von Retrospektiven unterscheidet und was es mit verschiedenen Zuhause-Definitionen auf sich hat, das hat er im Gespräch mit Marie Ketzscher verraten.

 

André Eckardt und Marie Ketzscher im Gespräch © Marie Ketzscher

 

shortfilm.de: Nach welchen Kriterien wählst du die Filmemacher*innen in den „Animation Perspectives“ – und in diesem Jahr konkret: Anne Isensee und Michelle Brand – aus?

 

André Eckardt: Das ist jedes Jahr unterschiedlich. Mal schaue ich, wer in letzter Zeit konkrete Berührungspunkte mit DOK Leipzig hatte, mal lade ich Leute aus ganz anderen Kontexten ein. Streng genommen ist es aber ein Blind Date, weil die Filmemacher*innen oft nicht mal die Filme der anderen kennen, geschweige denn einander. Anne Isensee haben wir beim Festival auf dem Schirm, seit sie mit ihrem Studentenfilm Megatrick 2017 die Goldene Taube gewonnen hat. Und umgekehrt hat sie uns mit regelmäßigen Einreichungen im Blick. Uns bedeutet es sehr viel, wenn Filmemacher*innen dem Festival treu bleiben und ihre Filme bei uns zeigen. Als ich Anne gefragt habe, wem sie gern begegnen möchte, hat sie sofort gesagt: Michelle Brand! Mit Michelles Werk war ich da noch gar nicht so vertraut. Zwischen Anne und Michelle gibt es aber interessante Gemeinsamkeiten – beide gehen beispielsweise ganz klar von der gezeichneten Linie aus und arbeiten sehr besonders mit Ton und Musik – aber auch Unterschiede, weil Michelle zum Beispiel auch viel außerhalb des Filmfestivalkosmos aktiv ist. Und bei Anne die eigene Stimme und verbale Erzählung eine große Rolle spielt.

 

Anne Isensee © DOK Leipzig 2023

 

Michelle Brand © DOK Leipzig 2023

 

shortfilm.de: Mir fällt bei deiner Auswahl auf, dass es oft jüngere Filmemacher*innen sind, also dass du nicht unbedingt jüngere und ältere Filmemacher*innen miteinander „pairst“.

 

André Eckardt: Das stimmt, es sind oft Leute, bei denen wir nicht bis zur großen Gesamtwerk- Retrospektive warten möchten. Die Filmemacher*innen befinden sich zu diesem Zeitpunkt an einer interessanten Stelle in ihren Karrieren, weil viele noch gar nicht so lang aus der Uni raus sind, und einen frischen Blick auf ihre eigenen Filme und die Animationswelt haben. Was treibt sie an, wo geht es hin? Auch ich lerne dabei ungemein viel Neues, z.B. weil ich kein Digital Native bin. Das Publikum erhält einen Einblick in den State-of-Art in der Animation – insbesondere in Animation jenseits der reinen Filmwelt, denn viele Filmemacher*innen sind ebenso in anderen Kontexten, in der Musik, im Gaming oder in der bildenden und darstellenden Kunst zuhause. Wir hoffen, dass wir zudem den Filmemacher*innen mit den „Animation Perspectives“ als eine Art Werkschau an diesem Punkt ihrer Karriere etwas Startkapital mitgeben können.

 

shortfilm.de: Du bist Teil der Programmkommission. Was gibt es denn für inhaltliche und stilistische Tendenzen im Wettbewerbsprogramm?

André Eckardt: In der Breite der Themen fiel auf, dass es in den Kurz- und Langfilmen viel um das Erwachsen-Werden geht. Da passieren äußerliche und innerliche Transformationsprozesse, die sich mit Animation sehr gut abbilden lassen. Und emotionale Beziehungsarbeit ist ein roter Faden, egal ob in der klassischen Paarbeziehung oder in der Familie, so zum Beispiel Marcus Grysczoks Brother, ein bewegender Abschied vom eigenen Bruder, oder auch Tomek Popakuls und Kasumi Ozekis Zima, der das Aufwachsen im Dorf aus der Perspektive einer jungen Frau erlebbar macht, Bräuche und Heizmittelknappheit inklusive. Im Gegensatz dazu gibt es ebenso viele Beiträge, die vorrangig konzeptionell gehalten sind. Anton Cla’s Cyclepaths oder der Langfilm Knit’s Island von Ekiem Barbier, Guilhem Causse, Quentin L’helgoualc’h arbeiten stark mit technischen Parametern. Bei Knit’s Island begeben sich die Filmemacher*innen direkt in die Gaming-Welt hinein und reflektieren als Avatare mit ihren Mitspieler*innen, was die Kampfzone mit einem macht. Cyclepaths – der mich stimmungsmäßig an Ulrich Seidl erinnert, weil es eine ominöse Grundstimmung gibt, aber nur eine erstickte Eruption – spielt wiederum subtil viel mit der digitalen Sprache und ihren „Versprechern“, zum Beispiel den deformierten Autos, die man bei Google Streetview finden kann. Es geht viel um die Darstellung von Realität – und wie sich diese immer wieder entzieht.

 

BROTHER, Marus Grysczok © DOK Leipzig

 

 

shortfilm.de: Dieses Jahr gibt es erstmals einen Langfilmwettbewerb für die Animation. Birgt das nicht die Gefahr für den kurzen Animationsfilm, der es ja eh schwer hat außerhalb der Branche, weniger wahrgenommen zu werden?

 

André Eckardt: Wir sind gespannt, welche Erfahrungen wir sammeln – aber ich glaube nicht, dass der Kurzfilm an Publikum und Aufmerksamkeit einbüßen muss. Unsere Auswahl widerspricht meines Erachtens ganz gut dem Klischee, dass Kurzfilme Fingerübungen für die Langfilme seien. Es gibt in Leipzig ein sehr kurzfilmaffines Publikum, das sich genau an der breiten Palette von Inhalten und Formen an Filmen erfreut. Beim Langfilm sitze ich im Zweifel für genau einen Film im Kino, der mich enttäuscht. Im Grunde sind es aber zwei so unterschiedliche Filmformen, dass sie sich im besten Fall ergänzen.

 

shortfilm.de: Du hast noch ein zweites Programm kuratiert, „Zuhause – Grundriss, Aufriss & Leben“ – und die Gemeinsamkeit mit „Animation Perspectives“ erscheint mir, dass du da auch schon viele Künstler*innen im Programm hattest, die sich stark mit Räumen auseinandersetzen, beispielsweise Claudia Larcher oder Max Colson.

 

André Eckardt: Ja, der Raum ist eben der Ausgangspunkt, wenn man über Zuhause redet. Man braucht mindestens eine Linie, um zu sagen: Hier ungefähr steht das Haus – und dann stellt sich die Frage, wie weit man von dieser Linie abweicht oder ihr etwas hinzufügt. Wie viel offen bleibt und wie viel ausgesprochen wird. Der Anlass für dieses Programm war Laura Harrisons Film Limits of Vision. Der Film spielt in den 70er Jahren und ist ziemlich punkig animiert. Es geht um eine Hausfrau, die in ihre Fantasiewelt vor dem Hausstaub flieht – und dort mehr Kreativität und Tiefgang entwickelt, als alle ihre scheinbar emanzipierten Freund*innen zusammen. In der Programmvorbereitung fiel mir zudem Emily Dickinsons Gedichtsammlung Ich wohn‘ im Haus der Möglichkeiten als weitere Inspirationsquelle wieder in die Hände. So kam ich schließlich auf die Idee, zu schauen, wie „Zuhause“ definiert wird. Dass es wirklich nicht darum geht, genau abzubilden, sondern eigentlich eher mit Bildern und Tönen darüber zu sprechen, was ein Zuhause sein kann und was es nicht ist. Dass das Zuhause die Hölle sein kann, aber gleichzeitig irgendwie ein ganz fantastischer Ort, wo man sich wirklich heimisch fühlt.

 

LIMITS OF VSISION, Laura Harrison © DOK Leipzig

 

shortfilm.de: Dabei interessierst du dich ja durchaus auch für die politische Komponente, die „Zuhause“ bedeuten kann. Ich denke hier vor allem an It’s Raining Frogs Outside von Maria Estela Paiso, da wird ja das Zuhause auch von Lockdown-Politik und politischen Spannungen auf den Philippinen in einen anderen Ort transformiert. Aber auch an Brand von Jan Koester und Alexander Lahl, bei der es um ein Pastorenehepaar geht, dass sich nach ihrem Engagement für Geflüchtete in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher fühlt.

 

André Eckardt: Ja, mich hat interessiert, wie einem das Zuhause plötzlich „entgleiten“ kann. Das ist ja bei beiden Filmen, die du ansprichst, so: Dass alles, was sie anfassen, mit einem Mal nicht mehr das ist, was es früher mal war. Dazu passt auch Blight von John Smith, wo es um Verdrängung einer ganzen Community geht. Als schöner Gegensatz war Krtek a televizor (The Little Mole and the TV) über den kleinen Maulwurf von 1970 gedacht. Den hatte ich allerdings viel gemütlicher und unschuldiger in Erinnerung! Dabei zeigt er sehr krass, wie es in der Nachbarschaft eskalieren kann, negativ verstärkt durch die Medien. So einen „Maulwurf“ kuratiere ich sehr gern: Filme, die die Zuschauer*innen vermeintlich kennen und erinnern. bekommen durch einen anderen Kontext eine andere Tiefe oder neue Aspekte.

 

shortfilm.de: Der absolute Kontrast zum Maulwurf ist sicherlich Jeremy Blake, mit ihm wird das Programm zusehends abstrakt-psychedelisch.

 

André Eckardt: Ja, hier nehme ich das Publikum am Beginn immer gern etwas mit –tief durchatmen und auf sich wirken lassen, Bilder und Töne erst einmal nur emotional zu verstehen. Oft funktioniert das, weil die Leute sich dann entspannter und besser auf Ungewohntes einlassen. Für mich schlägt Blake den Bogen zu Emily Dickinson, vor allem mit der Winchester-Trilogie. Die Witwe des Waffenfabrikanten Winchester hat ein Haus 1884 bis 1922 zu einem Alterssitz mit bis zu 500 Zimmern ausgebaut – um sich vor den Geistern der im Frontierland Erschossenen zu schützen. Und Blakes Winchester überblendet Haus, Geistererscheinungen, mediale Geschichten und Politik und nimmt sich dabei ganz viel Zeit. Streng genommen ist seine Timelapsetechnik keine Animation bzw. eine, die den zeitlichen und inspirierenden Raum zwischen den Einzelbildern noch mehr ausdehnt.

 

WINCHESTER, Jeremy Blake © DOK Leipzig

 

 

shortfilm.de: Wenn du nicht für die DOK Leipzig unterwegs bist, arbeitest du in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek in Dresden in Dresden. Was glaubst du, wie formt deine Arbeit im Archiv auch deinen kuratorischen Blick?

 

André Eck

ardt: Ich arbeite seit 2001 in und mit Archiven – mal näher an der Animation, wie im DIAF (Deutsches Institut für Animationsfilm), mal etwas indirekter, wie jetzt in der Abteilung Musik und AV-Erbe der SLUB Dresden. Die häufigere Berührung mit musikalischen Themen schärft natürlich den Blick für die Animation, z.B. kuratierten die Musikkünstlerin CFM und ich für DOK Leipzig eine Programmreihe zu Musique concrète und Animation. Aber auch die dokumentarischen Nuancen spielen eine wichtige Rolle. Wir haben im Bibliotheksbestand in Dresden unter anderem zahlreiche private Filme und Tonaufzeichnungen, die wir aktuell in der SLUB-Ausstellung „Der bewahrte Blick“ präsentieren. Diese kurzfilmischen Dokumente legen, oft unbeabsichtigt, Familiendynamiken und private Hintergründe offen. Ich glaube, der Umgang mit diesen privaten Spuren in den Dokumenten hat mich noch mehr für das Unaussprechliche oder Unausgesprochene sensibilisiert.