Corona-Strategien von Filmfestivals (Teil 2)

– Online-Streaming anstelle von Kinoprojektionen

Thema

VoD-Angebote von Filmfestivals – Screenshot-Collage (Ausschnitte der Plattform Eventive)

Festivals erfüllen vor allem zwei Funktionen. Sie stellen in einem feierlichen Rahmen neue Filme vor und ermöglichen Begegnungen zwischen der Branche und dem Publikum. Unter Pandemie-Bedingungen ist beides nicht im realen Raum und nicht an einem physischen Ort möglich. Alternative Online-Formate für Gespräche und Diskussionen hatte ich bereits im ersten Teil des Artikels beschrieben und analysiert. In diesem zweiten Teil geht es um Streaming-Lösungen anstelle von Kinoprojektionen.

 

Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass sich diese Analyse auf den Kurzfilmsektor bezieht, der einige Besonderheiten aufweist, die nicht auf andere Film- und Festivalformen übertragbar sind. Der wesentliche Unterschied liegt im anderen ökonomischen Umfeld. Insofern man beim Kurzfilm überhaupt von einem Markt sprechen kann, so besteht er aus weit verzweigten Nischenmärkten, die meist im intermediären Dritten Sektor[1] angesiedelt sind oder er ist Teil anderer Märkte, etwa dem Bildungs- oder dem Kunstmarkt. Insofern gilt vieles, was ich hier beschreibe, nur für den Kurzfilm.

 

 

Hello World!

 

Am Anfang der Pandemie brachen viele Festivalveranstalter über die Zugriffszahlen in Begeisterung aus. Ein Festival meldete im April sogar mehr als 1 Million ‚Besucher‘. Eine sonst unerreichbare Zahl. Viele Festivals haben in der Anfangseuphorie, ob aus Unwissenheit oder Kalkül sei dahingestellt, die jeweils höchste Zahl ihrer Webstatistiken kommuniziert, die aber nichts über die Qualität des Besuchs aussagt und Aufrufe ihrer Webseite (‚visits‘), inklusive von Robots, wie Festivalbesucher*innen addierten.

 

Leider haben bisher zu wenige Festivals statistische Daten kommuniziert, um sich einen detaillierten Überblick zu verschaffen. Wichtig wären, zum Beispiel, die Zahlen der Aufrufe einzelner Filme und die Verweildauer der Zuschauer*innen. Deshalb war ich auf indirekte Messmethoden angewiesen, die nur Tendenzen widerspiegeln. Wie etwa mit SEO-Tools ermittelte Verweilzeiten auf Festivalseiten, die meist zwischen 2 und 5 Minuten lagen. Dies sind dann aber nur Durchschnittwerte inklusive der ‚Drive-by-Clicks‘, während wirklich interessante Werte, wie die Verweildauer je Filmstreaming, verdeckt bleiben.

 

»Filmemacher*innen müssen (aber) wissen, wie viele Menschen ihren Film gesehen haben, wie viel sie davon gesehen haben, und sie müssen in der Lage sein, diese Daten zu nutzen, um eine Argumentation für ihren Film bei Verleihern, Presse und anderen Zielpublika aufzubauen« meint der Produzent und Distributor Brian Newman in einem IndieWire-Artikel[2] über die Frage, ob Filmemacher*innen sich überhaupt online an Festivals beteiligen sollen.

 

 

Visibility – Vor- und Nachteile

 

Unter der Voraussetzung eines funktionierenden Filmmarkts ist die größere Visibility im Netz kontraproduktiv. Das gilt aber nur für Filme, die Aussichten auf eine TV- oder VoD-Auswertung haben. Für diese Filme wäre nur eine physisch einmalige Ausstellung oder Premiere auf einem renommierten Festival vorteilhaft. Ein flächendeckendes Streaming – durch wen auch immer – hingegen geschäftlich schädlich.

Letzteres mag für Kurzfilme nicht zutreffen. Allerdings gibt es auch hier Werte, die nur auf physisch stattfindenden Festivals generiert werden. Zu diesen gehören die Aufmerksamkeit und der Wert des direkten Feedbacks anwesender Personen[3].

Und die Modevokabel Visibility verschleiert den Unterschied zwischen Quantität und Qualität der Sichtbarkeit. Es ist schließlich ein Unterschied, ob ein Film als Datenstream auf einem Laptop bei einem einsamen Zuschauer abgeliefert wird oder als Projektion auf einer großen Kinoleinwand im Rahmen eines öffentlichen Ereignisses vor Publikum.

 

Interessant wäre auch zu erfahren, welche Publikumstypen aus welchen Regionen durch Festivalfilm-Streamings überhaupt und zusätzlich zu normalen Festivals erreicht werden. Theoretisch kann ja jeder Mensch auf diesem Planeten, der einen Internetanschluss hat, auf Online-Angebote zugreifen.

Abgesehen von globalen Ungleichheiten[4], eventuell zu teuren Paywalls oder Zensur im Empfängerland, hat die Reichweite keine Grenzen. Jedoch haben fast alle Filmfestivals und die meisten Kurzfilmfestivals sich für das Geoblocking entschieden.

 

 

Reichweiten – Global und/oder Village?

 

Fast alle Festivals gaben an, dass die Zahl der erreichten Länder höher war als die Zahl der Länder, die normalerweise am Festivalort physisch vertreten sind. Das ist wenig überraschend, müsste aber quantifiziert werden – auch im Vergleich zu Online-Angeboten vor der Pandemie. Mithilfe von Serverstatistiken sind solche Auswertungen für die auftraggebenden Festivals möglich – für Außenstehende jedoch schwierig! Auch ist ein Vergleich insofern kompliziert, da im Falle von Geoblocking jeweils andere Territorien ausgeschlossen werden.

 

Inzwischen sind online zugängliche Webstatistik-Tools kostenpflichtig. Was ich herausfinden konnte, ohne Dienste zu abonnieren, beruht auf kostenfreien Ergebnissen, die als Teaser für ein Abo angeboten werden.[5] So lassen sich nur grobe Trends erkennen und Vermutungen anstellen.

Was die geographische Reichweite angeht, erhalten nach diesen Einblicken alle Festivals jeweils die meisten Zugriffe aus ihrem eigenen Land. Zehn Tage vor Beginn des aktuellen Sundance-Festival zum Beispiel kamen mehr als 80% Zugriffe aus den USA, gefolgt von einstelligen Anteilen anderer Länder. Während des Festivals sank der US-Anteil auf 62% und die Zugriffe aus anderen Ländern stiegen.

Sundance „Analytics by country“ – Screenshot SimilarWeb

 

Manche Festivals äußerten sich über die Herkunft der Nutzer*innen ihrer Online-Angebote. Hier im Folgenden einige aufschlussreiche Aussagen von Festivals, ungeachtet Festivaltyp oder vorherrschende Filmgattung, zu diesem Thema:

• CPH:DOX berichtete, »vorher kamen 90% unseres Publikums aus dem Großraum Kopenhagen. In diesem Jahr sind es 70%, wobei 30% aus dem Rest des Landes kommen.[6]«.

• Laut Pressemitteilung der Kurzfilmtage Oberhausen sahen Internet-Nutzer*innen in knapp 100 Ländern die Festivalfilme im Netz. Festivalpässe wurden in rund 60 Länder gekauft und Fachbesucher*innen aus fast 70 Ländern nutzten die Online-Angebote. Im Vergleich dazu waren 2019 Vertreter*innen aus mehr als 50 Ländern persönlich anwesend.

• Laut der Bilanz des DOK.fest München, kam »bei den regulären Festivals (…) das Publikum zum überwiegenden Teil aus dem Großraum München. Dieses Jahr kam mehr als die Hälfte der Besucher.innen nicht aus Bayern«.

• Das Filmschoolfest Munich (kein Geoblocking) gab 10.000 internationale Views bekannt, wobei aber »auch das Münchner Stammpublikum dem Festival die Treue gehalten« habe.

• Das Filmkunstfest MV in Schwerin meldete: »37,14% der Nutzer*innen von #filmkunstzuhause stammten aus Mecklenburg-Vorpommern, fast 20% aus Berlin und über 14% aus Hamburg. Neben den Metropolen besuchten aber auch Internetnutzer*innen aus anderen Bundesländern die Seite, so z.B. fast 7% aus Nordrhein-Westfalen«.

• Das Kurzfilmfestival Flatpack (UK ohne Geoblocking) teilte mit: »Etwa die Hälfte des Publikums für unser physisches Festival kommt in der Regel aus Birmingham, aber in diesem Fall war es weniger als ein Viertel. Der Anteil der internationalen Web-Treffer stieg von 5 % im Jahr 2019 auf 20 % im Jahr 2020, wobei Länder wie Frankreich, Ungarn und Japan, die im Programm vertreten waren, besonders stark vertreten waren. 68 % der Zuschauer waren in Großbritannien ansässig«.[7]

 

 

Festival-Communities und Nachbarn aus der Heimat

 

Es ist augenfällig, dass die meisten Filmfestivals ihr Stammpublikum halten und, dass die Personen, die zusätzlich online erreicht werden, dem jeweiligen Festival entweder geographisch (Nachbarn) oder soziokulturell (Communities) nahestehen. Ob eher das eine oder das andere zutrifft, hängt davon ab, wie das Festival zuvor physisch aufgestellt war, und wie gut es sich regional oder international etabliert hat.

Festivals, die sich konzeptionell auf bestimmte Filmformen festlegen oder wichtige Begegnungsorte für Filmemacher*innen und Fachleute (‚Branchenfestival‘) sind, können online ihre Reichweite international zwar ausdehnen, bleiben aber auf ihre Kreise (‚communities‘) angewiesen. Das fand ich subjektiv auch in den Online-Diskussionen mir vertrauter Festivals bestätigt: die Namen der meisten Kommentator*innen waren mir bekannt.

Sogenannte Publikumsfestival erreichen auch online überwiegend Zuschauer*innen aus ihrer geographischen Umgebung. Sie profitieren dabei auch von klassisch-analoger Mund-zu-Mund-Propaganda. Unterstützt werden sie dabei von den sozialen Bindungen, die Festivalkinos pflegen.

Beispiel: Filmfestival Traffic-Zahlen und Herkunftsländer in Prozent (Screenshot, Site Traffic Estimator sitetr)

Auch wenn die Reichweite der Festivalprogramme geographisch ausgedehnt werden kann, so deutet doch vieles daraufhin, dass neue Zielgruppen oder andere Publika eher im geringen Umfang hinzugewonnen werden.

 

 

Nochmal ‚Visibility‘: Eintritte vs. Klicks

 

Viele Kurzfilmfestivals haben oder konnten die Zugriffe auf einzelne Filme selbst nicht registrieren. Insbesondere, wenn sie Kurzfilme in Programmblöcken online stellten. Nur wenige haben Daten über die gesehenen Filme veröffentlicht. Im Folgenden einige interessante Äußerungen hierzu:

• Laut Pressemitteilung der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2020 sahen Internet-Nutzer und Nutzerinnen in knapp 100 Ländern die Festivalfilme online. Weit über 2.500 Festivalpässe wurden in rund 60 Länder verkauft. Zusätzlich nutzten über 1.000 Fachbesucher und Besucherinnen aus fast 70 Ländern die Angebote. Da aber Festivalpässe (9,99 € flat) verkauft wurden, lassen sich die Zahlen nicht direkt mit den Vorjahren vergleichen. Im Jahr zuvor meldete das Festival 18.200 Eintritte zu Programmen, davon waren 3.800 sogenannte Kaufkarten. Die Zahl der akkreditierten Fachbesucher und Besucherinnen unterschied sich nicht.

• Das DOK.fest München war mit 75.000 gezählten ‚Zuschauer*innen‘ unter den deutschen Festivals online bislang (per 12/2020) am erfolgreichsten. Allerdings wurde in der Pressemitteilung nicht genannt, wie viele Personen auf die Filmprogramme zugriffen. Nach eigener Kalkulation auf Grundlage der Meldung über die anteilige Solidaritäts-Auszahlung an Kinos (19.000 €) und über die Ticketverkäufe, schätze ich etwa 25.000 gekaufte Online-Tickets für Filmprogramme.

• Nippon Connection verbuchte 15.200 „on Demand Plays“ und etwa 10.000 Seitenbesuche von Live-Programmen (überwiegend Gespräche und Diskussionen). Im Jahr zuvor wurden 17.000 Einlässe zu Veranstaltungen vor Ort registriert.

• Das Filmkunstfest in Schwerin, das sich als Publikumsfestival versteht, hat normalerweise bis zu 19.000 Besucher*innen. In der Online-Ausgabe wurden die Filmprogramme (darunter fünf Kurzfilmrollen, je Programm 4,99 €) knapp 2.500 Mal aufgerufen.

• Das Festival interfilm Berlin meldete: »Über 18.800 digitale Kinoplätze wurden besetzt. Das ist fast so viel wie bei einer ’normalen‘ Edition« (PM vom 18.12.20). Das Festival hatte 32 Programme auf der VoD-Plattform Sooner einen Monat lang zum Gesamtpreis von 7,95 € (Festivalpass) angeboten.

• Das Vilnius International Film Festival zog wie folgt Bilanz: »IFF-Filme wurden 56.000 Mal gestreamt. Nach Angaben des Marktforschungsunternehmens Kantar sahen meist zwei Personen pro Vorführung zu. Das summiert sich auf 112.000 Gesamtzuschauer*innen. Zum Vergleich: Im letzten Jahr wurde das Festival von 126.000 Kinogänger*innen besucht. Trotz dieser Zahlen haben wir mehr als die Hälfte unserer angestrebten Ticketeinnahmen verloren, was ein erheblicher finanzieller Schlag ist (…)«.[8]

 

Was also die ‚Visibility‘ der Filme in den Programmen angeht, ist der Unterschied zwischen online präsentierten und im Festivalkino gezeigten Filmen oft gar nicht so groß, wie Seitenbesuchszahlen vermuten lassen. Und sehr lokal orientierten Publikumsfestivals gelingt es seltener, die Zahl der Eintritte zu physischen Filmvorstellungen mit Abrufen ihrer Streaming-Angebote zu übertreffen. Allerdings muss man davon ausgehen, dass hinter einem Klick mehr als nur eine zuschauende Person steht (die weder zählt noch zahlt).

 

Bemerkenswert ist, dass Festivals für Dokumentarfilm online erfolgreicher sind als Festivals, die hauptsächlich Spielfilme zeigen. Vielleicht wegen der durch Fernsehen erlernten medialen Rezeption, in dem Dokumentarfilme häufiger zu sehen sind als im Kino?

 

Auch fällt auf, dass im Zeitverlauf der Pandemie, der Zuspruch für Online-Angebote von Filmfestivals sinkt. Dies korrespondiert mit dem allgemeinen Trend der Mediennutzung im Verlauf der Pandemie, in der nach einem extremen Anstieg am Anfang ein Absinken folgte (Streaming Fatigue[9]).

 

 

Streaming Modelle

 

Die meisten Kurzfilmfestivals haben sich für ein Online-Konzept entschieden, das physische Festivals imitiert. So zeigen sie auch online Wettbewerbsfilme in Programmen abendfüllender Länge. Diese Nachahmung ist insofern vernünftig, als die Bereitschaft für einzelne Kurzfilme zu zahlen sehr niedrig ist. Das potentielle Geschäft wird von den vielen Anbietern, die (nur) Kurzfilme gratis streamen, untergraben. Außerdem ist es unrealistisch von einem Heimpublikum zu verlangen, dass es für Filme bezahlt, die ihm unbekannt sind.

Festivalbezahlmodelle für einzelne Filme benachteiligen ohnehin unbekannte Filmemacher*innen, nicht nur im Kurzfilmbereich. Richtig hohe Einschaltquoten haben in der Regel nur medial beworbene Filme oder Filme von und mit großen Namen.

 

Zur Simulation physischer Festivals gehören auch geographische und zeitliche Beschränkungen. Fast alle Kurzfilmfestivals haben sich für Geoblocking entschieden. Ernstzunehmende wirtschaftliche Argumente für territoriale Beschränkungen gibt es im Kurzfilmbereich kaum. Die Beschränkungen haben eher festivalpolitische Gründe. In einer idealen Welt müssten Kurzfilmemacher*innen nicht befürchten, dass ihnen wegen internationaler Verfügbarkeit der Zugang andernorts wegen Premierenforderungen versperrt bliebe.

 

Allerdings sieht man an diesem Beispiel in welch‘ vertrackte Situation man kommt, wenn sich traditionelle Konzeptionen der einen Kulturpraxis (Kino, Festivals) mit Charakteristiken und Erwartungen einer anderen Kulturtechnik (ubiquitäres Internet) vermengen. Einen zugänglichen Ort gibt es im Internet (in der Wolke;-) ebenso wenig wie eine „Premiere“, wenn damit das zeitlich einmalige Ereignis und die Anwesenheit an einem konkreten Ort gemeint ist.

 

Als paradox erscheint die Simulation des Kinosaals mit seiner beschränkten Zahl an Plätzen (Raum) pro Vorstellung (Zeit) durch eine künstliche Limitierung des Angebots. Die Internet-Welt ist, als wahrgenommene Metaverse, ja nur durch Bandbreite und Speicherkapazität begrenzt. Ein Festivalbesucher kauft sich in der Simulation hingegen eine virtuelle Eintrittskarte in seine eigene Wohnung, in der nur wenige Personen auf seinem Sofa Platz finden, um einen Film online zu sehen.

 

Der wichtigste Vorteil der Verbreitung von Filmen im Internet, nämlich die globale und zeitunabhängige Zugriffsmöglichkeit, wird damit zunichte gemacht. Für Filmemacher*innen hat die künstliche Limitierung des Zugangs nur den Vorteil, dass ihnen die Tür zu Festivals, die Premieren fordern, nicht verschlossen wird. Insofern nicht sicher ist, dass sie ‚andernorts‘ ausgewählt und aufgenommen werden, riskieren sie mit dieser Spekulation letztlich eine größere Visibility ihrer Filme zu verlieren.

Auch aus Festivalperspektive erscheint die Limitierung zunächst anachronistisch zu sein. Zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht, denn es entgehen ihnen potentielle Aufrufgebühren. Andererseits aber funktioniert die Limitierung (noch?). VoD-Anbieter, die künstlich limitieren, wie u.a. Festivalscope oder MuBi, bestätigen das[10]. Der Erfolg der Strategie lässt sich wohl nur verhaltenspsychologisch, etwa mit dem FOMO-Phänomen (fear of missing out) oder mit einer zwanghaften ‚urgency‘, erklären.

 

 

Ist VoD eine tragfähige Option für die Zukunft?

 

2019 war in der VoD-Branche ‚Streaming Wars‘ das Buzzword des Jahres. Gemeint war die Konkurrenz zwischen Online und Kabel sowie der Wettbewerb mit IT- und Medienunternehmen, die neu in den Markt eintraten (z.B. Disney). 2020 konnten, aber nur wegen der Pandemie, wider Erwartung Alle zulegen. Marktanalysten[11] sagen aber schon für das Jahr 2021 das Ende des Wachstums und eine Marktbereinigung voraus. Das jetzt zukünftige Buzzword heißt ihnen zu Folge ‚Streaming Fatigue‘!

Allein in Europa gibt es bereits mehr als 300 VoD-Anbieter. Die Independents und Qualitätslabel unter ihnen haben – trotz EU-Hilfe – Mühe aus den roten Zahlen zu kommen[12]. Im Unterschied zur ‚guten alten‘ Analogtechnik erfordert VoD viel mehr Produktions- und Lieferschritte als ein Kopierwerk, ein Verleihbüro, ein Filmlager und ein Kino. Zu den Zwischenschritten, um einem größeren Publikum Filme angemessener Qualität[13] online anzubieten, gehören kurz gefasst: ein Digital Master, Konvertierungen für unterschiedliche Endgerätformate, das Lagern und Bereitstellen im Rechenzentrum eines Internet Service Provider (ISP) und die Verbreitung der Files über ein, gegebenenfalls weltweit vertretenes, Content Delivery Network (CDN)[14] mit regionalen Rechenzentren nahe bei den Endabnehmern. Eingebunden wird dies durch Software für die Webprogrammierung, das Rechtemanagement (DRM), ein Clientverwaltungsprogramm, ein Bezahlsystem und so weiter. All dies sind Kostenfaktoren, die erheblich sind.

 

Ob es in diesem technisch-ökonomischen Umfeld – man könnte auch sagen Haifischbecken – einem Filmfestival in Zukunft gelingen kann, mit Online-Filmangeboten Fuß zu fassen, ist noch nicht abzusehen. Die Rabattschlachten haben schon begonnen …

 

           »Sign up for a new annual subscription by 30 June and save 40%!«

          »Unlimited streaming of over 2000 films from our catalogue 6€ per month«

           »Immerse yourself in a bath of documentaries«

           »Hurry now before this offer expires!«

 

»Es ist ein Tsunami von Online-Vorführungen, Masterclasses und kostenlosen Yogakursen rund um Sie herum! Dies muss angegangen werden. Während die Bedeutung einer Online-Präsenz größer denn je ist, ist es auch schwieriger denn je, herauszustechen, um überhaupt die Chance zu bekommen, ein Publikum zu erreichen« beschrieben Asia Dér und Sári Haragonics die Situation aus ihrer Sicht als Dokumentarfilmemacher*innen.[15]

 

Netzwerke, wie sie gegenwärtig gegründet werden[16], haben vielleicht eine Chance. Nachdenklich macht aber, dass bereits länger existierende, gemeinsame Projekte von Festivals, wie etwa die Plattform dafilms.com der Doc Alliance schwer zu kämpfen haben.

 

Filmfestivals haben noch andere Interessen als nur die Verbreitung von Filmen. Ihr Status hängt auch von Internationalität, Zahl und Qualität ihrer Gäste ab. Öffentliche Förderer schätzen auch den wirtschaftlichen Nebeneffekt vor Ort. Festivals schaffen zum Audience Building finanzielle und ideelle Anreize. Das reicht von kostenlosen Akkreditierungen über Einladungen mit Reisekostenübernahme bis zu Honoraren.

Ein erheblicher Teil dieser Kosten ließen sich durch Verzicht auf persönliche Teilnahmen sparen – vielleicht sogar bei gleichzeitiger Erhöhung des globalen Bekanntheitsgrads eines Festivals.

 

Konsequent zu Ende gedacht wäre das aber ein kompletter Wechsel des Kerngeschäfts von Festivals zu einer Art alternativem Amazon Prime. Der kulturelle Verlust wäre, ebenso wie das von manchen prognostizierte Ersetzen des Kinos durch Streaming-Plattformen, sehr schmerzhaft.

 

Kaum ein Festival wird sich so komplett neu aufstellen, doch fast alle haben bereits mitgeteilt, in Zukunft zweigleisig zu fahren, also ‚hybrid‘ auftreten zu wollen. Tragfähige Konzepte für eine solche Doppelstrategie müssen aber erst noch weiterentwickelt werden. Insbesondere ist nicht absehbar, welche Folgen ein stärkeres Online-Engagement für das eigentliche Live-Ereignis haben könnte. Das Ausbleiben internationaler Gäste? Die Halbierung der Publikumszahlen vor Ort?

 

Online-Reichweite ist nicht gleich Auswertung und Auswertung nicht gleich Verwertung. Nennenswerte ‚fees‘ für die Filmemacher und -macherinnen werden auch im hybriden Modell kaum übrig bleiben. Letztlich müssen Vor- und Nachteile einer Online-Beteiligung im Einzelfall abgewogen werden. Film für Film und Festival für Festival. Nur eins ist gewiss: persönliche Begegnungen, das Erleben von Gastfreundschaft und Geselligkeit sind nicht durch Telekommunikation ersetzbar, müssen also im wahren Wortsinn stattfinden.

 

Erster Teil:  Corona-Strategien von Filmfestivals – ein kritischer Blick auf Techniken und Formate

 

[1] »Der Dritte Sektor schließlich ist durch eine Mischung aus den Regulationsmechanismen Vorsorge, Fürsorge, Vertrag und Solidarität charakterisiert. Organisationen des Dritten Sektors zeichnen sich durch ökonomische, politische, sowie gesellschaftlich-integrative Funktionen aus.« (Gabler Wirtschaftslexikon)

[2] https://www.indiewire.com/2020/05/filmmakers-questions-virtual-film-festivals-1202229623/

[3] siehe auch unser Artikel Online, bitte nicht für immer! Einige Erfahrungen von Filmemacher*innen

[4] Laut der neuesten Studie von We Are Social, dem „Digital 2020 Report“, haben 40 % der weltweiten Gesamtbevölkerung keinen Internetanschluss (31% davon in Südostasien und 27% in Afrika). In vielen Ländern gibt es zusätzlich einen ‚Gender Gap‘. Siehe auch: https://datareportal.com/reports/digital-2020-global-digital-overview

[5] Anm. zur indirekten Recherche mithilfe frei zugänglicher Analysetools: Die meisten Anbieter, etwa Alexa, liefern nur Beispieldaten, genauer gesagt die Resultatlisten sind gekappt. Über Umwege und durch Vergleiche lassen zumindest Hinweise extrapolieren, insbesondere, wenn es sich um größere Festivals handelt. Und nach drei Ländern ist die Liste „Audience Geography“ gekappt. Leider werden auch nur Daten von sehr großen Websites mit viel Traffic ausgegeben. In Europa ist selbst Rotterdam nicht ‚groß genug‘, geschweige denn eines der Kurzfilmfestivals.

[6] »Previously, 90% of our audience was from the Greater Copenhagen area. That figure is 70% this year, with 30% coming from the rest of the country…« Tine Fischer im Interview: How CPH:DOX survived its biggest crisis, www.dfi.dk, 24.04.2020

[7] »Around half of the audience for our physical festival tends to come from Birmingham, but in this case it has been less than a quarter. The proportion of international web hits went from 5% in 2019 to 20% in 2020, with a particularly strong showing for countries like France, Hungary and Japan that had a presence in the programme. 68% of viewers were UK based.« https://www.independentcinemaoffice.org.uk/blog-how-flatpack-took-their-festival-online-during-the-coronavirus-crisis/

[8] »IFF Films were streamed 56 000 times. According to data from the research company Kantar, most often two people watched each screening. This adds up to 112 000 total viewers. In comparison, last year’s festival was attended by 126 000 filmgoers. Despite these numbers, we lost over half of our target ticket revenue, which is a significant financial blow (…)« (Pressemitteilung vom 10.04.2020)

[9] siehe auch unser Artikel: https://www.shortfilm.de/zuviel-content-studien-zeigen-wie-stayathome-die-mediennutzung-beeinflusst/

[10] siehe hierzu unser Artikel: https://www.shortfilm.de/en/kurzfilmfestivals-und-video-on-demand-teil-2-kooperationen-mit-vod-anbietern/

[11] zum Beispiel Maria Rua Aguete im Artikel „The Streaming Wars Could Finally End in 2021“: » For Netflix and Amazon, 2021 will be their smallest year of growth in absolute terms since 2015 (…) the battle may be over. It will just be a matter of which is left streaming.« (Wired, 14.12.2020, https://www.wired.com/story/disney-plus-hbo-max-streaming-wars/)

oder: „Brutally Honest Insights on a Wild Year in the Streaming Wars“ (Variety 30.12.20, https://variety.com/2020/digital/news/streaming-wars-2020-netflix-disney-plus-hbo-max-1234876686/)

[12] Anaïs Lebrun berichtete auf dem o.g. VoD-Panel in Oberhausen, dass MuBi erst in diesem Jahr (2019) eine *schwarze Null‘ geschrieben habe

[13] Man unterscheidet in die messbare Quality of Service (QoS) und die eher subjektive Quality of Experience (QoE). Bei QoS geht es u.a. um Fragen der Zuverlässigkeit und Schnelligkeit des Transports, der Ton und Bildqualität oder der automatischen Anpassung an die Ausstattung und Dimension der unterschiedlichen Endgeräte (vom Mobiltelefon bis zur XXL-Mega-Fernsehwand). QoE dient, könnte man sagen, der Bequemlichkeit des Empfängers. Also Fragen der Handhabbarkeit, Gestaltung, Navigation, Such- und Informationsfunktionen, Abwicklung (z.B. der Bezahlung) oder Steuerbarkeit während des Abspiels (z.B. Unterbrechung, Vor- und Rücklauf).

[14] Die wichtigsten Dienstleister dieser technischen Infrastruktur sind: Service Provider (in Deutschland zum Beispiel Telekom und 1&1). Data Service Provider, von denen manche auch CDN-Dienste anbieten (z.B. Amazon Web Services, Rackspace) und/oder stand-alone CDNs wie Akamei, ChinaCache, CDNetworks, EdgeCast Networks oder Wangsu. Dazwischen noch Technologie-Provider für CDNs wie etwa Adobe, Azur oder Cisco.

[15] »It’s a tsunami of online screenings, masterclasses and free yoga classes all around you! This needs to be addressed. While the importance of an online presence is greater than ever, it’s also harder than ever to stand out, to even get that chance to reach an audience.« Quelle: Umfrage des Magazins Filmmaker am Rande des Festivals Hot Docs, https://filmmakermagazine.com/109738-hot-docs-2020-doc-makers-discuss-the-digital-edition

[16] s. unsere Artikel:

Doc Around Europe und andere neue europäische Festivalnetzwerke

Vier Kurzfilmfestivals haben VoD-Plattform gegründet

Pandemiekrise der Festivals lässt Online-Aggregatoren boomen

 

 

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