Im Kino

Thema

Ungeduldig schalten wir von Fernsehkanal zu Fernsehkanal, wenn das Programmangebot nicht gleich unser Interesse weckt. Wir sind alle längst zu Channel-Hoppern und Surfern geworden mit Aufmerksamkeitsspannen, die so kurz sind, dass wir uns im Internet immer häufiger mit Synopsen und Wikipedia begnügen oder überhaupt nur noch von Link zu Link springen. Wir benehmen uns wie postindustrielle Affen, die auf digitalen Bäumen turnen. Im Kino hingegen hat der Projektionist das Heft in der Hand. Keine Fernbedienung, kein Mausklick, kein Touchscreen gibt uns die gewohnte Macht über das, was wir uns anschauen. Wir sitzen im Dunkeln. Vielleicht genießen wir sogar diese temporäre Aufgabe unserer Entscheidungsgewalt. Jedenfalls setzen wir uns im Kino bereitwillig den Ideen eines anderen Menschen aus, der Vision eines Filmemachers. Wir bleiben sitzen und lassen uns überraschen.
Das Kino ist ein Ausstellungsort, den ich besuche wie eine Galerie oder ein Museum. Das Betrachten von Kunst in Büchern oder im Internet kann die Begegnung mit den Werken im Original ebenso wenig ersetzen wie das Anschauen von Filmen auf DVD, im Internet oder im Fernsehen. Ich gehe also ins Kino um einen Film im Original zu erleben, d.h. im ursprünglichen Bildseiten- und Tonformat, mit der beabsichtigten Bildauflösung und Farbwiedergabe, in Originalsprache und voller Länge sowie mit der korrekten Bildrate und natürlich auf der intendierten Projektionsfläche, der großen Leinwand.
Wie eine Malerin, die sich gezielt für einen Bildträger entscheidet (Papier, Leinwand, Holz etc.), wählt auch der Filmemacher sein Trägermedium bewusst aus, sei es Filmmaterial, analoges Magnetband, Digitalband oder eine digitale Datei. Und so wie eine Grafikerin in der bildenden Kunst eine Drucktechnik im Hinblick auf die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten auswählt, entscheidet sich auch der Filmemacher für ein bestimmtes Aufnahmeformat. Es handelt sich in erster Linie um eine künstlerische Entscheidung (auch wenn sie in der Praxis häufig von budgetären, kommerziellen oder technischen Abwägungen beeinflusst wird). Das Aufnahmeformat verleiht dem Bild seine Textur und wird so zu einem integralen Teil des Films. Die neueste Technologie mit der höchsten Bildauflösung produziert nicht notwendigerweise auch das beste Bild, lediglich das schärfste. Ein Kameramann hat mir einmal geraten nicht auf VHS zu filmen, sondern in HD, wegen der besseren Kontrolle. Ich könne ja „in der Postproduktion das Bild degradieren um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen“. Ich mache jedoch grundsätzlich einen Unterschied zwischen der Herstellung einer Illusion und Täuschung. Also filmte ich auf VHS, akzeptierte die Charakteristika des Formats und lies den Zufall intervenieren. Man kann ja eine weitere Aufnahme machen. (Das heißt natürlich nicht, dass die Bildmanipulation in der Postproduktion abzulehnen sei, sehr wohl aber die „we fix it in post“ Mentalität). Die gezielte Entscheidung für ein Aufnahmeformat verleiht nicht nur dem Film Authentizität, sondern auch dem Schaffensprozess selbst.
Als Walter Benjamin im Jahre 1935 über die Auswirkungen der technischen (mechanischen) Reproduktion schrieb, verwies er auf den Verlust der Aura von Kunstwerken. Die digitale Technologie hat die Qualität von Kopien zwar weiter erhöht, aber die Herstellung der ersten Kopie im Zuge einer digitalen Konvertierung ist nach wie vor (nicht nur mit dem Verlust der Einzigartigkeit des Werks, sondern auch) mit einem Qualitätsverlust verbunden. Ein fertig gestellter Film wird auf einem analogen oder digitalen Master ausgespielt. Das Format des Masters muss nicht dem Aufnahmeformat entsprechen, doch es stellt gewöhnlich die Originalversion des Filmemachers dar. In naher Zukunft wird diese Version wohl nicht mehr als Vorführformat akzeptiert werden, da Filmfestivals, Kinos und Kuratoren begonnen haben, ihre eigenen Videodateispezifikationen festzulegen, um alle Filme direkt von ihren Festplatten abspielen zu können. Dabei wird offenbar kaum ein Gedanke darauf verwendet inwieweit dieser Prozess die Integrität der Filme kompromittiert. Die geläufigen Konvertierungen sind nicht verlustfrei. Filmemacher müssen sich wohl mit einer Beeinträchtigung beziehungsweise Änderung der Bild- und Tonqualität abfinden. Wenn das Kino aber aufhört jene Stätte zu sein, an der Filme in ihren individuellen Originalformaten gezeigt werden, wird man sie „im Original“ schließlich nur mehr im Filmmuseum sehen können. Film wird dann ironischerweise doch noch sein einmaliges Dasein im Hier und Jetzt erleben.
Während ein Film, der für das Kino hergestellt wurde, über alle Kanälen vertrieben werden kann (Fernsehen, Internet usw.), kann er jedoch nicht für alle Vertriebskanäle hergestellt werden. Schon die unterschiedlichen Größen der Bildschirme, Monitore und Displays erfordern verschiedene Produktionsmethoden und Aufnahmetechniken. Das Fernsehen, beispielsweise, erfordert mehr Großaufnahmen und kommuniziert verstärkt über Dialoge. Daher sehen und hören sich Fernsehproduktionen anders an als Kinofilme. Der Kontext, in dem Filme über die unterschiedlichen Vertriebskanälen angesehen werden, unterscheidet sich grundlegend in Bezug auf die Bildschirmgröße, die Orte, die Zeiten und die Umstände. Dies hat weit reichende Implikationen für die Rezeption. Die verschiedenen Situationen mögen sich für ein wiederholtes Ansehen der Filme anbieten, aber sie können den dunklen Kinosaal nicht ersetzen. Die ungeteilte, durchgehende Aufmerksamkeit, die wir einem Film im Kino entgegenbringen, führt zu einem unvergleichlich immersiven Erlebnis.
Was immer wir uns zu den enigmatischen Arbeiten eines Künstlers wie Marcel Duchamp auch denken mögen, wir versuchen uns „ein Bild zu machen“ und Bedeutungszusammenhänge herzustellen. Im Kino sehen wir auf eine Leinwand projizierte Bilder und gleichzeitig entstehen unsere eigenen Bilder dazu in unseren Köpfen. Die Absicht des Filmemachers trifft auf die Ansicht des Zuschauers, wobei der Kunstschaffende selbst seine Absicht nie vollkommen realisieren kann. Marcel Duchamp spricht von einer Differenz zwischen dem, was ein Künstler zu realisieren beabsichtigte und dem, was er tatsächlich realisierte. Diese Lücke stellt allerdings keinen Mangel dar. Gerade diese Unvermessbarkeit des Kunstwerks, die eine Absichtslosigkeit beinhaltet, ist dessen eigentliches Potential. Die Relation zwischen dem Unausgedrückten-aber-Beabsichtigten und dem Unabsichtlich-Ausgedrückten nennt Duchamp den persönlichen Kunstkoeffizient. Dem Rezipienten fällt es zu, das Werk zu dechiffrieren und zu interpretieren. So trägt er/sie zum kreativen Akt bei. Letzteres führt Duchamp nicht im Detail aus. Der rezeptive Prozess ist jedoch ähnlich komplex und idiosynkratisch wie der kreative Akt des Kunstschaffenden.
Es besteht nämlich eine Differenz zwischen dem, was ein Zuschauer zu verstehen glaubt (seine subjektive Objektivität), und dem, was er unbewusst versteht (seine objektive Subjektivität). Diese Lücke macht die Rezeption ambivalent und verleiht dem Filmerlebnis eine persönliche Resonanz. Der Rezeptionskoeffizient hängt von individuellen Faktoren ab wie dem soziokulturellen Umfeld, spezifischen Lebenserfahrungen und physischen oder genetischen Einflüssen. Der Zuschauer sieht insofern seinen eigenen Film. Es sind unsere individuellen Wahrnehmungen in Verbindung mit unseren persönlichen Geschichten, also unsere eigenen Bilder, die mit den Bildern und Tönen auf der Leinwand verschmelzen und so zu einem emotionalen und intellektuellen Erlebnis führen. Es ist ein wundersamer, osmotischer Prozess. Dafür braucht man ungeteilte Zeit – wie für die Bilder einer Ausstellung. Der dunkle Raum des Kinos schenkt uns diese Zeit.

Dieser überarbeitete Text erschien in seiner Erstfassung als Webnotiz der DIAGONALE 2013.

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