Obsoleszenz – Teil 1: Erhalt und Restauration elektronischer Medien

Neue digitale Medien machen alte analoge Medien obsolet. Innovationen haben schon immer dazu geführt, dass alte Techniken ersetzt werden. Doch der aktuelle Wandel von alt zu neu ist besonders gravierend. Denn die Beschleunigung der Lebenszyklen von Produkten ist geradezu ein Wesensmerkmal der digitalen Medien. Der Fachbegriff für den Umstand, dass ein Produkt altert und aus dem Verkehr gezogen wird, lautet Obsoleszenz. In der Film- und Medienproduktion sind sowohl die Soft- als auch die Hardware von beschleunigter Obsoleszenz betroffen. Obsoleszenz verhindert nicht nur die Weiterverwendung von Produkten, sondern auch die Sicht- oder Lesbarkeit der Werke, die mit ihnen hergestellt wurde. Es steht also einiges auf dem Spiel! Im Folgenden sollen Strategien der Erhaltung von Werken auf obsoleten Medien dargestellt werden. In einem zweiten Teil, der in einer anderen Ausgabe folgt, geht es dann um Gegenbewegungen, die bewusst obsolete Techniken einsetzen.

Obsoleszenz tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf. Die wohl häufigste Form im Bereich der elektronischen Medien ist die so genannte funktionelle Obsoleszenz. Diese bedeutet, dass ein Produkt zwar funktionstüchtig bleibt, aber durch neue Anforderung der Umgebung nutzlos wird. Dies geschieht, wenn komplementäre Techniken so geändert werden, dass sie ihre Funktion in der veränderten Umgebung nicht mehr erfüllen kann. Ein klassisches Beispiel ist die Abhängigkeit „šalter‘ Software von bestimmten Betriebssystemversionen.
Von geplanter Obsoleszenz wird gesprochen, wenn von einem Hersteller bewusst Schwachstellen in ein Produkt eingebaut werden, um es vorzeitig obsolet zu machen. Die meisten Fälle, in denen Konsumenten gezwungen sind ein neues Produkt zu kaufen, liegen aber in einer Grauzone, wenn mit der Erneuerung Verbesserungen oder Funktionserweiterungen möglich werden. Oft genug sind es aber die Verbraucher selbst, die sich unnötigerweise drängen lassen ein noch funktionstüchtiges Produkt mit dem Kauf eines neuen der letzten Generation ersetzen. Das nennt man dann modische oder ästhetische Obsoleszenz.

 

Obsoleszenz und digitale Medien

Bruce Sterling, der sich seit Jahren mit diesem Thema beschäftigt und in seinem Blog „Dead Media Beat“ auf WIRED beinahe täglich neue Meldungen zu Obsoleszenz-Fällen postet, meint, dass Obsoleszenz grundsätzlich in alle elektronischen Medien eingebaut ist. In seinem Dead Media Manifest schrieb er bereits 1995, „Es ist ein eher seltenes Phänomen, dass etablierte Medien sterben. Normalerweise verbreiten sie sich in ihren frühen Tagen ungestüm und schwinden anschließend in den Schutzraum einer Nische, wenn sie von späteren oder höher entwickelten Konkurrenten bedroht werden … aber einige Medien sterben tatsächlich aus“. [1]

Die reinen Daten eines digitalen Werks, das mit obsoleter Technologie geschaffen wurde, lassen sich zwar kopieren und bewahren, doch die Lesbarkeit des Werks lässt sich damit nicht sichern. Und schon gar nicht originale Charakteristiken wie etwa Farbqualitäten, Tonnuancen oder die visuelle Anmutung. Dieses Handicap haben alle elektronischen Medien. Es gehört zu ihrer Natur, weil für die „šÜbersetzung‘ der Algorithmen nicht nur spezifische Software, sondern auch spezifische Hardware nötig ist. Da diese Übersetzung oder Wandlung notwendig ist, um Töne oder Bilder hör- und sichtbar zu machen, nutzt es wenig, dass der zugrunde liegende Code als Folge von Nullen und Einsen immer wieder verlustfrei kopiert und – vermutlich sogar für die Ewigkeit – erhalten werden kann. Anders als bei einem in Stein gemeißelten oder gedruckten Text und anders als bei einem mit Pigmenten gemalten Bild, enthalten die zugrunde liegenden Algorithmen eines elektronischen Werks überhaupt keine Spuren seines Erscheinungsbildes.

Das bedeutet, dass für die Sichtbarkeit digitaler Werke, nicht nur ihr Code, sondern auch die jeweils historisch zeitgenössische Soft- und Hardware erforderlich ist. Selbst Algorithmen können der Obsoleszenz zum Opfer fallen, wenn die Sprache, in der sie geschrieben wurden, nicht mehr unterstützt wird. So sind zum Beispiel Informationen, die mit der ersten standardisierten höheren Programmiersprache FORTRAN II geschrieben wurden, bereits heute verloren.

Manch älteren digitalen Dokumenten ist nur noch mit Forensik beizukommen. Was früher die Domäne von Kriminalisten und Geheimdiensten war, wird zunehmend eine Notwendigkeit für Archivare und Medienkunst-Sammlern. Professionelle Hilfe hat sich hierfür bereits aufgestellt, wie zum Beispiel ein amerikanisches Projekt zur Entwicklung forensischer Methoden für institutionelle Sammlungen mit dem kurios treffenden Namen „BitCurator“!

 

Erste Erfahrungen: Restaurierung und Erhaltung von Medienkunst

Die Problematik der Obsoleszenz ist im Bereich der Medienkunst sehr früh aufgetreten. Denn bereits die ersten, noch analogen, elektronischen Medien unterlagen dem immer schnelleren Wandel und der Beschleunigung der Produkterneuerung. Betroffen waren und sind vor allem Museen, Sammlungen und Ausstellungsmacher, aber natürlich auch die Künstler, die ihre Werke nicht mehr zeigen können.

Kaum waren, zum Beispiel, die ersten portablen Videoaufnahme-Einheiten auf dem Markt, gab es bereits Probleme mit der Aufzeichnung auf Videobändern – von quietschenden Bändern über das Sticky-Tape-Syndrom bis zu Störungen in der Magnetisierung. Auch die Hardware war schnell betroffen: in nur wenigen Jahren wurden mehrere Videosysteme, wie etwa Portapak, U-matic oder VHS-Video, obsolet.

 

Beispiele in Deutschland

In Deutschland war wohl das ZKM Karlsruhe die erste Institution, die von den Problemen betroffen war und sich um Lösungen bemühte. Dazu gehörte unter anderem die Restaurierung des Videomagazins „Infermental“ (http://www.infermental.de/). Dieses erste, internationale Kurzfilm-Magazin auf Videokassetten wurde 1980 von Gábor Bódy initiiert. 10 Jahre später umfasste es mehr 600 Videoarbeiten aus 36 Ländern. Um diese für die Geschichte der Videokunst bedeutende Sammlung zu erhalten, mussten die Bänder digitalisiert werden. Sie wurden schließlich 2006 auf einer interaktiven Abspielstation öffentlich zugänglich gemacht. Die Technik, nämlich die Speicherung auf interaktiven CD-ROMs, ist inzwischen selbst obsolet und die Sichtung ist nur noch vor Ort im ZKM möglich.

Bereits seit 2004 unterhält das ZKM außerdem mit dem „Labor für antiquierte Videosysteme“ einen Maschinenpark von mehr als 300 Geräten, um verschiedene obsolete Videoformate abspielen und digitalisieren zu können. Im Jahr 2009 unternahm das ZKM mit dem Projekt „RECORD > AGAIN!“ einen weiteren Anlauf, dieses Mal zur Bewahrung von 40 Jahren deutscher Videokunst (http://www.record-again.de/).

Die Düsseldorfer Stiftung Inter Media Art Institute (imai), zu deren Sammlung annähernd 1.500 audiovisuelle Werke gehören, hat von 2006 bis 2011 im Rahmen eines Forschungsprojekts die Problematik der Erhaltung und Re-Inszenierung von Medienkunstinstallationen untersucht. Dazu gehörten Fallstudien zu Werken von Studio Azzurro, Gary Hill, Nan Hoover, Bill Seaman und Katharina Sieverding. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts wurden in einem Buch [2] veröffentlicht. In einer Einführung heißt es, „Medienkunst ist zwar eine erst wenige Jahrzehnte junge Kunstgattung, aber ihre Erhaltung stellt schon heute Kuratoren und Restauratoren vor enorme Herausforderungen (…) Die Technik entwickelt sich so schnell, dass Geräte und Speichermedien in regelmäßigen zeitlichen Abständen zu erneuern sind, um die Funktionalität der Installationen zu erhalten.“ In den Fallstudien stellte sich unter anderem heraus, dass es jeweils nur individuelle Lösungen geben kann und, dass für die Wahl der Erhaltungsstrategie entscheidend ist zunächst die Kernaspekte heraus zu arbeiten, die für die jeweilige Authentizität eines Werks ausschlaggebend sind. Die daraus folgende Strategie kann eine Re-Inszenierung, ein Nachbau oder der Versuch einer Präsentation mit den originalen Geräten sein. Dabei sollte nicht zuletzt auch der Künstler ein Wort mitzureden haben.

 

Strategien zur Erhaltung digitaler Medien – Born Digital und danach

Die Erhaltung analoger Medien, sei es Film oder Videokunst, mit Hilfe der Digitaltechnik ist schwierig und problematisch genug. Vielleicht überraschenderweise stellt die Erhaltung von Werken digitaler Medien eine noch viel größere Herausforderung dar. Es sind insbesondere Kunstmuseen, die sich dieser Herausforderung stellen und Lösungen suchen.

2001 fand im Guggenheim Museum New York die Variable Media Conference statt, auf der Jon Ippolito, Mitgründer von Still Water, vier unterschiedliche Lösungsstrategien vorstellte, die internationale Anerkennung erhielten: Storage, Emulation, Migration und Re-Interpretation. [3]

„Storage“ bedeutet, dass ein Werk auf Originaldatenträgern zusammen mit allen Originalgeräten aus der Zeit der Herstellung des Werks gelagert und gepflegt wird. Diese Strategie verfolgt vor allem das Ziel der physischen Authentizität und den Erhalt der Aura und der Anmutung eines Werks. Die Präsentation des Werks ist aber nur möglich, solange das Trägermedium und seine technische Umgebung intakt erhalten sind. Letzteres kann unter Umständen noch eine Zeitlang durch einen Gerätepark und ein Ersatzteillager gewährleistet werden. Storage ist jedoch keine nachhaltige Strategie gegen Obsoleszenz, da beschädigte Datenträger die Präsentation des Werks unmöglich machen und jede weitere Präsentation oder Aufführung seine Obsoleszenz beschleunigt – ein Problem, das auch den Archivaren analoger Filme allzu bekannt ist …

„Emulation“ [4] bedeutet die nachahmende Einbettung obsoleter Software in aktuelle Soft- und Hardware-Plattformen. Die Emulationsstrategie zielt sowohl auf den Erhalt des Originalcodes und der Funktionalität des Werks. Sie ist sehr aufwändig und kostspielig, da jeweils spezielle, gegebenenfalls unikate Software für die Simulation auf neuen Geräten geschrieben werden muss. Mit Emulationen gibt es allerdings in der Computerszene einschlägige Erfahrungen (wie z.B. die Emulation alter Betriebssysteme, um historische, aber beliebte Computerspiele zum Laufen zu bringen).

„Migration“ ist eine alternative Strategie zur Emulation. Digitale Informationen werden durch Transkodierungen so aufbereitet und angepasst, dass sie mit aktueller Software auf beziehungsweise mit zeitgenössischer Hardware präsentiert werden können. Im Mittelpunkt dieser Strategie steht die Erhaltung der Funktionalität der digitalen Werke. In dem Maße, wie sich die technische Umgebung ändert, muss auch die Migration wiederholt werden. Es besteht daher die Gefahr, dass mit jeder Generation mehr Eigenheiten des Originals verloren gehen. Ein Beispiel für eine Migrationskette ist die Überspielung eines Videofilms von einer Portopak-Rolle auf Digibeta-Kassette und von dort auf BluRay-Disk usw.

Die „Re-Interpretation“ ist eine Nachahmung der ursprünglichen künstlerischen Intention mit aktueller Technik auf einer völlig anderen oder neuen Plattform. Sie verzichtet komplett auf den Erhalt des Originalcodes, auf das authentische Trägermedium und auch auf authentische Hardware. Re-Interpretationen sind, da problemlos und relativ unaufwändig wiederholbar, am Wenigsten von Obsoleszenz betroffen, aber im Ergebnis auch am Weitesten vom Original entfernt. Sie ist daher nicht nur flexibelste, sondern auch die radikalste der vier Strategien.

 

Variable Media Questionnaire

Einige der wichtigsten Institutionen und Initiatoren der Medien-Erhaltung in den USA  haben das gemeinsame Projekt „Forging the Future“ ins Leben gerufen. Zu dem Konsortium gehören unter anderem das Whitney Museum, Berkeley Art Museum and Pacific Film Archive at the University of California, Rhizome.org und Still Water an der University of Maine. Die Ziele sind sehr ambitioniert und weit reichend: es sollen Standards und Instrumente zur Erhaltung elektronischer Medien entwickelt werden und zwar auch für solche, die momentan noch gar nicht existieren!

Auf der gemeinsamen Plattform „The Variable Media Network“ schlägt das Konsortium eine Erhaltungsstrategie vor, die auf Untersuchungen basiert, wie künstlerische Arbeiten den Lebenszyklus ihres ursprünglichen Mediums überleben können. Zu diesem Zweck wurde, unter Einbeziehung der oben genannten Vorschläge von Jon Ippolito ein Online-Fragebogen, das Variable Media Questionnaire, erarbeitet (URL: http//variablemediaquestionnaire.net/) .

Das Variable Media Questionnaire soll helfen Leitlinien zur Transformation von Arbeiten, deren originales Medium obsolet geworden ist, auf neue Medien zu entwickeln. Das Vorhaben unterscheidet sich von bereits bestehenden Handreichungen und Empfehlungen zur Katalogisierung und Bewahrung von Werken. Als Fragebogen richtet es sich nämlich in erster Linie an die Künstler und Hersteller der Werke, die aufgefordert werden statt technischer Angaben oder Vorgaben, die wichtigsten inhaltlichen Funktionen zu benennen, die erhalten bleiben sollen. Mit einem gewissen Verlust („šslippage‘) wird gerechnet, jedoch sollen die Künstler selbst entscheiden wie damit umgegangen wird. So werden sie auch nach der – ihrer Meinung nach – geeigneten Erhaltungsstrategie befragt: “ storage (mothballing a PC), emulation (playing Pong on your laptop), migration (putting Super-8 on DVD), or reinterpretation (Hamlet in a chat room)“.

Dieser Ansatz beabsichtigt die Integration der Analyse des Materials mit der Definition des jeweiligen Kunstwerks unabhängig von der Medientechnik und soll den Erhalt von neuer Medienkunst vorantreiben.
Außerdem können die Resultate des Fragebogens als eine Art ethisches Testament der Künstler dienen, das den Kuratoren und Technikern, die gegebenenfalls in der Zukunft an einer Ausstellung oder Restaurierung der Werke arbeiten, autorisierte Leitlinien an die Hand gibt.

Die Konservierung und Restaurierung von Kunstwerken ist so alt wie die Kunst selbst. Sie ist Aufgabe von Konservatoren und Kuratoren. Das aktuell modische Berufsbild des letzteren wird sich in Zukunft wieder stärker zugunsten der ursprünglichen Aufgabe der Erhaltens und einer sinnvoll kontextualisierten Ausstellung zuwenden müssen.

 

Lebenslanges Umkopieren

Umkopieren und Transkodieren digitaler Medien wird uns in Zukunft lebenslang begleiten. Der deutsche Restaurator Andreas Weisser schrieb in diesem Zusammenhang: „Die Erfahrungen aus der analogen Ära sollten uns eine Lehre sein. Sowenig wie es damit getan war, ein Videokunst-Band einfach ins Regal zu stellen und dann zu vergessen, wird es in der digitalen Ära ausreichen, einfach eine Kopie auf irgendeinem Datenträger zu „šsichern‘. Konstantes Monitoring, Refreshing, Migration und Pflege sind notwendig. Dies betrifft den Datenträger, die Integrität der Files, die Soft- und Hardware sowie die Überwachung, ob File-Formate obsolet werden.“ [5]

Nebenbei bemerkt gilt dies auch für die digitalen Konservierungsstrategien von analogen Filmen. Beinahe paradox ist, dass selbst, wenn es keine Filmprojektoren mehr geben sollte, doch noch die einzelnen Bilder eines analogen Filmstreifens betrachtet werden können. Einmal digitalisiert geht diese Sichtbarkeit jedoch verloren! Die digitale Kopie eines analogen Films ist ein eigentlich neues Original, das dann den Gesetzmäßigkeiten der Obsoleszenz aller digitalen Medien unterworfen ist.

Digitale Dokumente können zwar nahezu perfekt und scheinbar verlustfrei kopiert werden. Dass digitale Informationen ewig halten, ist ein ebenso weit verbreiteter wie  unbegründeter Mythos. Dies gilt übrigens auch – und das ist irgendwie sogar beruhigend – für die Aussage, das Internet vergesse nichts!

p.s. Im zweiten Teil des Artikels über Obsoleszenz wird es unter anderem folgende Themen gehen: Avant-garde Film, Circuit Bending, Media Zombies, Open Source und DIY als Gegenbewegung

Fußnoten:

[1]
Bruce Sterling’s Dead Media Manifesto: http://www.deadmedia.org/modest-proposal.html

[2]
Medienkunst Installationen. Erhaltung und Präsentation. Konkretionen des Flüchtigen; Hrsg. von Renate Buschmann und Tiziana Caianiello; Berlin (Dietrich Reimer Verlag), 2013; URL http://www.imaionline.de/content/view/216/74/lang

[3]
Variable Media Conference: http://www.guggenheim.org/new-york/press-room/releases/press-release-archive/2001/687-march-15-variable-media-conference

[4]
Die Emulationslösung wurde erstmals von Jeff Rothenberg vorgeschlagen in: Avoiding Technological Quicksand: Finding a Viable Technical Foundation for Digital Preservation (1998): http://www.clir.org/pubs/reports/rothenberg/contents.html

[5]
Zitat Andreas Weisser: http://www.faz.net/asv/blinkvideo/videokunstwolken-12160747.html
Website von Andreas Weisser: http://www.restaumedia.de/

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