Microcinemas und Pop-ups – alternative Kinoformen zwischen Sixpacks und Champagner-Bar

Thema

Während einerseits von der Krise des Kinos gesprochen wird, blühen gleichzeitig neue und alternative Formen der Filmpräsentation geradezu auf. Leider gibt es nur wenige Untersuchungen und Publikationen über alternative Kinoformen und noch weniger über Filmvermittlung, insbesondere, wenn man Filmvermittlung nicht nur als ‚distribution’ versteht, sondern als Vermittlung zwischen Filmen, Filmautoren und Zuschauern. Dies ist ein Versuch einige alternative Filmpräsentationsformen vorzustellen, die gerade virulent sind und darauf beruhen beziehungsweise darauf setzen, dass zur Filmpräsentation im Kino vor allem das gemeinsame Erlebnis gehört.

Microcinema historisch

Der Begriff Microcinema geht auf die Filmemacher Rebecca Barten und David Sherman zurück, die 1994 im Keller ihres Apartments in San Francisco ein Kino eingerichtet haben. Sie nannten es das „Total Mobile Home MicroCinema“. Wie der erste Teil des Namens andeutet, gehörte zu dem Projekt auch ein mobiles Kino in einem Fahrzeug, das an jeder Straßenecke oder Parkplatz Filme zeigen konnte. Es ist aber das Konzept des Microcinema als fester Veranstaltungsort, das bald andernorts Nachahmer fand und zum Gattungsbegriff wurde.

Das Kino von Barten und Sherman war winzig, hatte 30 Plätze, die Zuschauer saßen auf schmalen Bänken und der Eintritt betrug 3 Dollar. Die Programme wurden kuratiert – von Gastkuratoren, Filmemachern oder den Betreibern selbst. David Sherman arbeitete zu dieser Zeit noch für den nichtgewerblichen Verleih Canyon Cinema. Gezeigt wurden vor allem Kurz- und Avantgardefilme, die keine Chance in herkömmlichen Kinos haben oder sowieso nicht in ein kommerzielles Popcorn-Kino passen. Zu den Filmemachern der ersten Jahre, die meist persönlich anwesend waren, gehörten unter anderem Luther Price, Steve Anker, Owen O’Toole und Vertreter der historischen amerikanischen Avantgarde. Im Eröffnungsjahr standen erstaunlich oft deutsche Filme auf dem Programm. Neben Kurzfilmen von Caspar Stracke, wurden lange Filme von Alexander Kluge, Hans-Jürgen Syberberg, Rainer W. Fassbinder und Werner Herzog, die allesamt damals nicht in San Francisco zu sehen waren, als 16mm-Kopie gezeigt.

Das dahinterstehende Konzept verbreitete sich bald in andere amerikanische Städte und dann auch nach Europa: nämlich ästhetisch und filmhistorisch wichtige Filme oder Filme des zeitgenössischen Nachwuchses, die im kommerziellen Kino nicht zu sehen sind, in privaten oder privatisierten öffentlichen Räumen, die eigentlich hierzu nicht ausgestattet sind, regelmäßig öffentlich zu zeigen. Persönlich kuratiert und mit rudimentärer oder nicht-professioneller Filmtechnik für einen niedrigen Eintrittspreis gezeigt. Ein wesentliches Merkmal, das letztlich auch für den Erfolg dieser Kinoform ausschlaggebend war, ist das Gespräch und die Diskussion – als Einführung in das Programm, als Gespräche zwischen Filmautoren und Publikum und als Diskussion unter den Besuchern.

Es ist unmöglich zu beziffern wie viele Microcinemas es in den 90er Jahren oder aktuell gibt, da manche nur für kurze Zeit existierten oder inzwischen Standort und Namen wechselten. Einige von ihnen erweiterten ihre lokalen Aktivitäten in Richtung Filmverleih oder entwickelten internationale Netzwerke der Filmverbreitung. Eine solche, sehr erfolgreiche Organisation war Microcinema International. Von Joel S. Bachar und Patrick Kwiatkowski gegründet, entwickelte sich Microcinema International (MI) zu einem Netzwerk für Filmemacher, Kuratoren und Festivals. Neben monatlichen Screenings in San Francisco, bot MI in mehr als 40 Ländern Programme und Filme an – die meisten davon Kurzfilme. 2003 wurde außerdem unter dem Label Blackchair ein DVD-Vertrieb gegründet. Erst kürzlich, im Mai 2014, löste sich Microcinema International leider auf.

Wie Microcinemas ökonomisch überleben können, ist nicht so leicht zu erklären – zumal fast jedes seinen eigenen Weg gefunden hat. Ein zumindest kostendämpfender Effekt ist die Umgehung von Zwischenhändlern, sprich Filmverleihen. Microcinemas treffen in der Regel direkt mit den Filmemachern Vereinbarungen, zum Beispiel über ein Honorar oder teilen mit ihnen die Kasseneinnahmen der betreffenden Vorstellung. Dies kann aber nur funktionieren, wenn sie mit Filmemachern oder Kuratoren kooperieren, die in ähnlichen Strukturen leben und im Idealfall selbst mit ihren Filmen auf Tournee gehen. Jenseits dieses „film tramping“, bei dem wenig mehr als Kost & Logi für die Filmemacher herausspringt, haben sich unabhängige Verleihorganisationen entwickelt, auf die Microcinemas zugreifen können. Ein weiterer Kostenvorteil ist, dass Microcinemas bezüglich der technischen Ausstattung nicht die Ansprüche eines Multiplex-Publikums erfüllen müssen und entsprechende Investitionen sparen können (4K-Projektion, Dolby Surround Ton, gepolsterte Sessel etc.).

Dass Microcinemas trotzdem funktionieren und ihr Publikum finden, liegt nicht nur an außergewöhnlichen Filmen, sondern vor allem am diskursiven Ambiente und der sozialen Kompetenz ihrer Macher. In diesem wesentlichen Punkt, in dem Kino nämlich gegenüber anderen Filmverbreitungsformen wie Fernsehen, Internet und mobilen Abspielgeräten noch ein Alleinstellungsmerkmal hat, sind Microcinemas unschlagbar. Sie können leisten, was kein noch so gut ausgestattetes Kino um die Ecke, kein Fernsehkanal und keine Video-on-Demand-Plattform bietet: direkte Begegnungen zwischen Filmemachern und Publikum, Diskussionen mit Fachleuten, Gespräche nach dem Film und soziale Kontakte. Den sozialen Aspekt beschrieb Andrea Grover, Gründerin des alternativen Kinos Aurora Picture Show (Houston) treffend wie folgt: »Microcinemas sind äußerst soziale Räume. Im Gegensatz zu den riesigen Multiplex-Kinos, die dich von deinem Nachbarn zu isolieren versuchen, sind Microcinemas oft Treffpunkte für Gespräche und zum Ausgehen. Sie teilen sich eher Gemeinsamkeiten mit Cafés, Bars und Clubs als mit Kinos. Microcinemas finden Anklang bei einem Publikum, das der technologiebedingten Isolation müde ist« (MovieMaker Magazine #41, 2001).

 

Pop-up Cinemas an außergewöhnlichen Orten

Auch Microcinemas fanden oder suchen außergewöhnliche Räume und exotische Orte. Sie erobern öffentliche Räume zurück oder nutzen Leerstände in krisengeschüttelten Innenstädten. In den USA waren es oft ehemalige Kirchen (z.B. in Houston und Cape Cod), in Belgrad eine ehemalige Schießpulverfabrik und in Paris ein Kahn auf der Seine („Batofar“). Auf die Spitze getrieben haben dies die so genannten Pop-up Cinemas. Anders als Microcinemas sind Pop-up Cinemas nicht ortsgebunden und haben keinen festen Spielplan. Ursprünglich als soziokulturelle Nachbarschaftsinitiativen an kinolosen Orten erfunden, sind heute die meisten Pop-up Cinemas kommerzielle Veranstaltungen. Sie suchen außergewöhnliche Räume oder attraktive Kulissen für einzelne Filmvorführungen mit Eventcharakter. Das können Fabrikanlagen, Bergwerke, Schwimmbäder oder Burgen und Schlösser sein.

Die interessantesten und auch exotischsten Beispiele finden sich in London, eine Art Hauptstadt der Pop-up Cinemas, was möglicherweise die Folge der Schließung vieler Programmkinos und der exorbitant hohen Ticketpreise in den Innenstadtkinos ist. Während es zwar immer noch rührige Community-Pop-ups und Dutzende ehrenamtlich organisierte Kurzfilmabende in Pubs gibt, sind die großen Pop-up Cinemas längst kommerziell ‚optimiert’ und durchkalkuliert. Dazu gehört, daß die Ticketpreise längst im oberen Segment und oft darüber angekommen sind und zusätzlicher Gewinn aus gastronomische Angeboten gezogen wird. Statt Sixpacks, wie in den kulturellen Microcinemas, gibt es bei manchen Events sogar Table-Service mit Austern und Prosecco. In einem Umfeld, in dem Musik, Bars, Bier- und Essensstände fester Teil des Eventcharakters geworden sind, gerät der Film selbst dann oft genug zur Nebensache.

Beispiele für solche Veranstaltungen sind The Nomad Cinema, Future Cinema, Secret Cinema, Hot Tub Cinema oder The Power of Summer. Im Sommer 2014 zeigte zum Beispiel The Nomad Cinema in Londoner Parks, vor dem Fulhalm Palace, auf dem Brompton Friedhof oder im Hyde Park Lido Filme wie „Hairspray“, „Pulp Fiction“ oder „Dirty Dancing“.
Das wohl exotischste Unternehmen, zumindest was die Sitzgelegenheiten angeht, ist das Hot Tub Cinema. Die Zuschauer sitzen in Bikinis und Badehosen in runden, aufblasbaren Kinderschwimmbassins. Standort ist das Dach eines Hochhauses in Shoreditch. Im feucht-kalten Dezember zieht das Hot Tub Cinema auf einen Bahnsteig der Shoreditch Railway Station um. Gezeigt werden – selbstverständlich mit warmem Wasser in den Mini-Pools – Filme wie „The Gremlins“, „Aladdin“ und „Bad Santa“. Die billigsten Tickets kosten £35, ein privates Hot Tub für maximal 6 Gäste kostet £190. Filme sind hier Nebensache, wie man schnell auf den Werbefotos der Hot Tub Website mit Sekt schlürfenden Bikini-Girls erkennen kann.

Eine etwas andere Strategie verfolgt Future Cinema, eine Firma zu der auch Future Shorts gehört, mit ihren Secret Cinema Events. Future Shorts veranstalteten ab 2003 in London Kurzfilmevents mit Party-Charakter. Meist waren es DVD-Vorführungen in beliebten Clubs und Szenelokalen in Verbindung mit Shows und Auftritten von Bands oder DJs. Future Shorts kam wegen unfairer Verträge mit den Filmemachern und Franchise-Praktiken ins Gerede. Inzwischen lizenziert Future Shorts Ltd. sein Veranstaltungskonzept mit Kurzfilmen aus dem eigenen Verleihkatalog weltweit an Filmveranstalter. (s.a.: Future Shorts – die internationale Verbreitung eines Veranstaltungsmodells als Franchise-Marke)

Future Cinema’s Secret Cinema Events zeichnen sich durch Inszenierungen in außergewöhnlichen Räumen aus. Rund um die Thematik oder das Setting eines Films wird ein von der Kostümierung des Personals bis zu aufwendigen Kulissenbauten ein Ambiente inszeniert, das die Filmwelt in die reale Welt verlängert – eine Art Expanded Cinema, wenn man so will. Die Filmauswahl ist mit gelegentlichen Filmklassikern und Arthouse-Filmen meist etwas anspruchsvoller als bei den Konkurrenten.
Im Juli 2014 mehrmals kurzfristig abgesagt, zeigte Secret Cinema im August Robert Zemecki’s Film „Back to the Future“ auf einem Gelände in der Nähe des Olympischen Dorfs in East London entstand eine halbe Stadt mit Replikas von Gebäuden im Film. Die Besucher, und das gehört mit zur Attraktion dieser immersiven Filmereignisse, waren selbstverständlich film-authentisch im Modestil der 50er Jahre gekleidet.
Nach dem großen Erfolg in London, soll die Veranstaltung 2015 in Los Angeles wiederholt werden. Bei solchen Veranstaltungen erreicht Future Cinema an der Spitze mehr Besucher als manches Kino in einer mittelgroßen Stadt in einem Jahr– laut Firmengründer Fabien Rigall bis zu 85.000 Zuschauer!

Nichts an dem Konzept ist, außer dem professionellen Marketing und der geschickten Verbindung von Microcinema- Ideen mit anderen älteren Konzepten, wirklich neu. Dies fängt, wenn man kleinlich sein will, beim Namen Secret Cinema an, unter dem 2006 – 2011 der Kurator Mark Webber Experimental- und Avantgardefilme (und Expanded Cinema) vorstellte, und hört bei den Online Guerilla-Marketing-Strategien für die Events auf. Die Einbeziehung vorhandener Umgebungen, Architektur oder Landschaft, gibt es als Site Specific Art seit Ende der 60er Jahre, Kostümierung der Zuschauer schon zu Zeiten von „Rocky Horror Picture Show“ (1975) und nachgebaute Filmwelten in jedem Disneyland …

 

Enjoy!

Trotz der vielen Fans finden solche Veranstaltungen nicht nur Zustimmung. Viele Filmliebhaber fühlen sich abgelenkt von dem, was sie eigentlich sehen wollen – nämlich einen bestimmten Film. In dem Bericht „The Problem With Pop Up Cinema“ schildert James Arden auf der Website des Raindance Film Festivals seine Erlebnisse bei verschiedenen Londoner Kino-Events. Schlechte Projektionen, verdeckte Sicht auf Untertitel und Filmton mit Echo, der auch noch im Lärm und Gelächter der Zuschauer untergeht. Arden schreibt, »Es wird als selbstverständlich angenommen, dass es den Leuten nichts ausmacht, wenn sie Teile des Films verpassen, die ganze Zeit quatschen, ihre Telefone checken und an die Theke ziehen, weil sie den Film ja sowieso schon kennen. Einige Pop-ups scheinen nur als Entschuldigung zu dienen eine Party zu feiern oder sich zu betrinken.«

Es ist paradox, dass bei solchen Events der Vorteil des Kinos gegenüber anderen Formen der Filmrezeption, nämlich die gemeinsame Teilnahme und Teilhabe, aus kommerziellen Gründen dermaßen in den Vordergrund gerät, dass der eigentliche Anlass – das Filmeschauen – fast verschwindet oder sogar unmöglich wird. Positive Merkmale und Errungenschaften von Microcinemas werden so adaptiert, dass ihr eigentliches Ziel pervertiert wird.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass nicht nur unabhängige Organisationen oder spezialisierte Unternehmen, sondern auch Kinoketten auf den Zug aufgesprungen sind. In London veranstaltete zum Beispiel Everyman Media Group, eine Aktiengesellschaft, die unter dem Namen „Everyman“ Programmkinos betreibt, im Sommer 2014 zusammen mit Heineken auf dem Gelände der abgeschalteten Battersea Power Station das Pop-Up Cinema „The Power of Summer“. Interessant ist das, weil sich hier der Kreis zur Kinowirtschaft schließt. Denn längst haben auch große Kinoketten die Vorteile des Ambient Marketing erkannt. So wird auch im normalen Multiplexkino versucht aus jedem Filmstart ein Event zu machen und das Publikum (pseudo-)interaktiv einzubinden.

Nicht weit vom Schauplatz des „Power of Summer“, nämlich in der Turbinenhalle der Tate Modern, wurde 2006 Carsten Höller’s „Test Site“ ausgestellt. Die Ausstellungsbesucher waren eingeladen durch fünf spiralförmige Röhren zu rutschen – vergleichbar den Rutschen in Erlebnisbädern. Das ist aber nicht der Punkt, sondern ein anderes kulturelles Phänomen: Höller und seine Arbeiten stehen für Beispiele der so genannten Relational Art, die wiederum auf den theoretischen Überlegungen des Ausstellungsmachers Nicolas Bourriaud beruhen (esthétique relationnelle/relational aesthetics). Kurz gesagt, schafft Relational Art Kommunikationszonen für soziale Begegnungen und Interaktionen, in denen die Besucher nicht mehr als Zuschauer, sondern als ‚User’ des Kunstwerks zu spontan Beteiligten werden. In den Tate-Papers wies Mark Windsor darauf hin, dass „Test Site“ zwar in Nachbarschaft der Installation eine ‚micro-community’ der Teilnehmer aktiviert, dies aber auf einer politischen Ebene keine führende Funktion erfülle. Es sei vielmehr die private Interaktion mit der Rutsche, und damit also Höller’s Agency, die in erster Linie die Beziehung erzeugt.

Es mag weit hergeholt klingen, aber auf ähnliche Weise funktionieren die Verhältnisse in den immersiven Ambient Media Umgebungen der Pop-up Cinemas. Nur das hier als ‚Agency’ nicht der Künstler mittels Werk, sondern mittels ‚Kino-Installation’ der Filmverleih die Verhältnisse definiert. Der Sinn des ganzen Unternehmens ist es, aus dem Spaß, den die Besucher/Zuschauer zweifellos haben, Wert zu schöpfen. In dieser Hinsicht ist bei den Pop-ups die Vermarktung eines konsumgeleiteten Vergnügens das Schlüsselelement zum Verständnis des Phänomens.

Inzwischen haben sich Pop-up Cinema-Veranstaltung weltweit zu einer richtigen Industrie entwickelt. Siehe zum Beispiel: www.popupcinema.com.au, www.eventcinemas.com.au, www.popupcinema.co.za, www.popupcinema.ca/, www.tcmeurope.com/F/popupcinema/.
Es ist allerdings sehr schwierig gegen derart entpolitisierte und mächtig aufgeblasene Entertainment-Strategien anzureden: Beim werten Publikum würde man mit solcher Kritik sicher schnell als Spaßverderber dastehen, so wirkmächtig ist dieser „Imperativ des Genießens“(nach Lacan & Zizek).

 

Kulturelle Pop-up Cinemas

Auch ehemalige Microcinema-Aktivisten haben sich, sei es freiwillig oder aus Not, dem lukrativeren Event-Kino zugewandt und organisieren Pop-ups. Der Avantgarde-Filmverleih Canyon Cinema bot 2013 zum Beispiel in einem Laden im Mission District, der wie eine Videothek dekoriert wurde, ein Pop-up Cinema mit DVD-Kopien aus seinem Verleih. Und auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Microcinema eröffnet, in dem 16mm-Filme projeziert und diskutiert wurden.

Viele internationale Filmfestivals sind auf den Trend aufgesprungen und organisieren außerhalb der Wettbewerbsprogramme Pop-up-Events. Das Internationale Kurzfilm Festival Hamburg ist eng mit der Initiative „A Wall is a Screen“ verbunden, die inzwischen weltweit mit ihren Projektionen auf Hausfassaden erfolgreich ist. Das Filmfest Dresden zeigte Programme in einem entkernten, vor der Sanierung stehenden Hochhaus aus der Vorkriegsmoderne und machte diesen Ort damit vielleicht zum letzten Mal im alten Zustand zugänglich. Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen reaktivierten 2014 das ehemalige Kino Europa für Expanded-Cinema-Programme und 2013 für eine Luther-Price-Filmshow einen vorübergehend leerstehenden Raum im Hauptbahnhof.

Auch etablierte Kulturinstitutionen nutzen inzwischen das Format, sei es um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sei es um Filmkultur in die breitere Öffentlichkeit zu tragen oder einfach nur um ihr Budget aufzubessern. So veranstaltet seit 1995 das Deutsche Filminstitut in Frankfurt fast jeden Sommer eine Kinowoche mit Filmvorführungen an ungewöhnlichen Orten, wie zum Beispiel 2014 auf einer Galopprennbahn, in einer Kläranlage, in einer Apfelweinkelterei oder auf einem Flugsteig des Rhein-Main-Airports. Gezeigt wurden unter anderem „Fantômas“, „Die Stadt der verlorenen Kinder“ und „Melancholia“. In den Jahren zuvor auch Filmklassiker wie Eisenstein’s „Streik“ und „Der müde Tod“. Zum Programm gehörte aber auch „Der weiße Hai“ in den Titus Thermen. Zu „Der weiße Hai“ in Pop-up Cinemas gibt es in einer Umfrage unter ‚echten Londonern’ eine passende und witzige, aber denkwürdige Frage: „We’re going to watch Jaws at the aquarium. Why? The film won’t be improved, and neither will the fish“!

Stellvertretend für andere Initiativen gehören die Rooftop Films in New York zu den früheren alternativen Pop-up Cinemas, die ihrem kulturellen Anspruch treu geblieben sind. Die erste Veranstaltung organisierte Filmemacher Mark Elijah Rosenberg 1997 auf dem Dach des Hauses im East Village, in dem er wohnte und war nur mit einem 16mm-Projektor und einem weißen Tuch ausgestattet. Die Grundidee war, möglichst unkompliziert ohne Räume anmieten zu müssen, Freunden Kurzfilme vorzustellen. Im Jahr darauf musste der Standort gewechselt werden, weil es der Hausbesitzer verbot. Rooftop Films wanderte und expandierte weiter zu anderen Locations. Im Sommer 2001 wurde eine gemeinnützige Trägerorganisationen gegründet und ein richtiges Underground Film Festival veranstaltet. Die Veranstaltung, die ursprünglich nur Avantgarde-Filme aus der New Yorker Community präsentierte, war international geworden. 2008 hatte die Organisation schon sieben ganzjährig fest angestellte Mitarbeiter. Heute werden die Rooftop Film Series nicht nur auf New Yorker Dächern, sondern auch an anderen attraktiven Standorten, wie zum Beispiel auf der Governor’s Island und auf dem Rocks Off Temptress Cruise Ship veranstaltet. Neben 30 abendfüllenden Independent-Filmen waren dieses Jahr auch 125 Kurzfilme in thematischen Programmen zu sehen (die Deadline für die nächste Serie ist übrigens der 16. Januar 2015).
Rooftop Films zeigt nicht nur Filme aus aller Welt, sondern unterstützt auch die Filmemacher, deren Arbeiten einmal im Programm waren, mit ihrem Filmmaker’s Fund bei der Produktion neuer Filme. Ein Dollar von jedem verkauften Ticket fließt in diesen Fund. Außerdem ist Rooftop Films in der Jugendmedienerziehung aktiv und bietet Filmemachern einen Geräteverleih.

 

Microcinemas heute

Neben den fortbestehenden älteren Microcinemas, sind die meisten gegenwärtig aktiven Microcinemas institutionalisiert oder Teil einer Institution. Das können Kulturzentren, Medienzentren, Universitäten, Kommunale Kinos, Kunst- oder Filmmuseen sein. In der jüngsten Vergangenheit gibt es interessanter Weise eine regelrechte Welle an Neugründungen.

Viele der neuen Microcinema-Initiativen greifen allerdings auf noch ältere alternative Kino-Konzepte zurück. Ein Beispiel ist das 2013 an die Öffentlichkeit getretene Filmkollektiv Frankfurt. In der Selbstdarstellung heißt es: »Wir wollen das Frankfurter Kinoprogramm ergänzen um gewagte, unabhängig kuratierte Filmprogramme, die aus inhaltlichen und/oder pragmatischen Gründen unterrepräsentiert sind. Wir wollen einen Raum für Diskussion schaffen, denn zum Kino, wie wir es uns wünschen, gehören auch Kommunikation, das Recht Fragen zu stellen und Meinungen auszusprechen. Wir werden unsere Filmprogramme im Originalformat und der originalen Sprachfassung zeigen. Dies bedeutet in den allermeisten Fällen eine analoge Projektion (35mm, 16mm).« Im Oktober wurden Filme von Light Cone gezeigt. Die erste Veranstaltung des Filmkollektiv war den Kali-Filmen von W+B Hein gewidmet, was gut zum Start der Initiative passte, insofern Wilhelm und Birgit Hein, zusammen mit dem späteren ZDF-Redakteur Hans-Peter Kochenrath und anderen, mit einer ähnlichen Programmatik in Köln die Experimentalfilm-Veranstaltungen XSCREEN ins Leben riefen – das war 1968!

Insbesondere neue Initiativen in Europa sind programm-inhaltlich auf den Experimentalfilm spezialisiert und beschränken sich projektionstechnisch auf den analogen Film. Eine Fokussierung, die nicht unproblematisch ist. Ein Beharren auf dem analogen Film droht zu einer Musealisierung des Programms zu führen und den zeitgenössischen Film, selbst wenn er inhaltlich ins Konzept passt, schon rein technisch ausschließen. Auch unter den Microcinemas, die sich dem lockeren Verbund „Kino Climates“ angeschlossen haben, gibt es diese Tendenzen. Solche Initiativen sind zweifellos löblich und unterstützenswert, weil sie wichtige, aber marginalisierte Bereiche der Filmgeschichte sichtbar machen und damit überhaupt erst wieder einen Diskurs ermöglichen. Solche Fokussierungen bedeuten aber auch, dass nur ein kleiner Teil des filmkulturellen Spektrums angemessen repräsentiert ist.

Auch nutzen eher wenige alternative Kinos die positiven Optionen, die sich durch die Digitalisierung eröffnen. Dennoch gibt es diese Beispiele auch. Also Microcinemas mit High-Definition Projektionen von BluRay-Disks oder Files, die sie aus dem Internet ziehen oder direkt vom Filmemacher bekommen. Auch gemeinsame Upload-Plattformen und Kino-on-Demand sind mögliche neue Form, die derzeit in Erprobung ist und beobachtet werden sollten (dies ist aber ein eigenes Thema und wäre Stoff für einen anderen Artikel).

Wünschenswert wären in jedem Fall mehr Kinos, die das gesamte filmkulturelle Spektrum mit der selben kuratorischen Sorgfalt und der selben fachlichen und sozialen Kompetenz der Öffentlichkeit vermitteln. Und Kinos, welche dabei die bestmöglichste Situation schaffen, in dem ein Film aufgenommen werden kann. Gewerbliche Kinos können dies schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten und viele Arthouse-Kinos versagen sogar unterhalb dessen, was für sie betriebswirtschaftlich noch leistbar wäre. Leider werden aber filmkulturelle Initiativen, die eine seriöse Beschäftigung mit dem Medium leisten, intelligent programmieren, die Kompetenzen in der Vermittlung von Zuschauern für Filme und Kompetenzen in der Vermittlung von Filmen zum Zuschauer entwickelt haben, vom öffentlichen Kulturbetrieb kaum wahrgenommen beziehungsweise unterstützt.

Dies hat weit reichende negative Folgen für die Filmbildung im Publikum und die Verbreitung von Filmkenntnissen in der Öffentlichkeit. Auch Produzenten und Filmemacher – gerade die Besten unter ihnen – werden benachteiligt. Die Qualität eines Films, kann schließlich nur schätzen und genießen, dem ein entsprechendes Wertesystem nahe gebracht wurde. Diese Vermittlung von Werten und Informationen ist Bildungs- und Beziehungsarbeit – eine Arbeit die übrigens ebenfalls gelernt sein will. Wenn es solche Vermittler und solche Orte der Vermittlung nicht oder nur noch in wenigen Metropolen gibt, kann man kaum von einer Krise des Kinos (als Medium an sich) sprechen. Gerade wegen der technologischen Entwicklung – „connected, but alone“* – sind Orte der kollektiven Filmerfahrung mehr gefragt denn je. Pop-up Events nutzen diese Vitalität des Kinos geschickt kommerziell aus, in dem sie soziale Kontakt und Erlebnisse versprechen, aber mit Boozin’ & Schmoozin’ dann doch nur die Hälfte liefern. Das alles ist also keine Kinokrise, sondern eine Systemkrise, die bei der mangelnden Filmbildung in Schule anfängt und beim Ausschluss von Filmkultur und deren Vermittlung aus der öffentlichen Förderung aufhört. Es ist an der Zeit die Gewichte zu verschieben!

Fußnote
*Untertitel des Buches „Alone together“ von Sherry Turkle

Links und Empfehlungen
http://www.davidshermanfilms.com/Total_Mobile_Home.html
http://blackchair.com/
http://www.rooftopfilms.com/
http://www.filmkollektiv-frankfurt.de/
http://expcinema.com/site/en/venues/all
http://www.undergroundfilmjournal.com/theaters-and-screening-series/

Quellen
„The Exhibition Revolution“, Taso Lagos und Joel S. Bachar: http://www.moviemaker.com/magazine/issues/41/microcinema.html
„Secret Cinema founder Fabien Riggall on future of cinema“: http://www.screendaily.com/comment/secret-cinema-founder-on-future-of-cinema/5077742.article
„The Problem With Pop up Cinema“: http://www.raindance.org/the-problem-with-pop-up-cinema/
„A Theoretical Examination of Carsten Höller’s Test Site“: http://www.tate.org.uk/research/publications/tate-papers/art-interaction-theoretical-examination-carsten-hollers-test-site
„10 things real Londoners know about their city“:  http://www.telegraph.co.uk/men/the-filter/10598913/10-things-real-Londoners-know-about-their-city.html

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