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Wie Webserien die vierte Wand durchbrechen und zu Serien werden

DRUCK: funk adaptierte das norwegische SKAM ins Deutsche und dessen multimediales Storytelling. © Gordon Muehle

Menschen schauen Filme und Serien auf ihren Smartphones. Da. Ich hab’s gesagt. Was Kino-Puristen die Wuttränen in die Augen treibt, lässt ein lange unterschätztes Format endlich ins Rampenlicht treten: die Webserie.

Natürlich existieren Webserien nicht erst, seitdem es LTE und 4-Zoll-Displays gibt, aber der Wandel, wie und wann wir audiovisuelle Inhalte konsumieren[1] – vielmehr die technischen Möglichkeiten dazu haben, sie überall zu konsumieren – war Dünger auf vorsichtig bestelltem Boden. Und Webserien wuchsen zum neuen Superfood der Branche. Einer Branche, die gut daran tut, sich endlich von linearen Ausspielkanälen und deren Narrativen zu trennen und sich darauf einzulassen, dass das Internet die nächste logische Evolutionsstufe des Fernsehens ist.

 

“Wow, das ist ja richtig gut produziert!” No shit, Sherlock.

Webserien sind Serien, also Geschichten, die wir via Internet konsumieren. Sie als ein Format oder gar ein Genre zu definieren, ist ein müßiges und sinnfreies Vorhaben, da die einzige Eigenschaft, die alle Webserien innehaben ihr Publikationsort ist. Das Präfix Web- ist nur ein – in einer digitalen Welt – bald überflüssiger Hinweis, wo die Serie erscheint. Die vielzitierte Definition des Medienwissenschaftlers Matthias Kuhn[2] aus dem Jahr 2012 stimmt trotzdem noch:

Webserien sind audiovisuelle Formen im Internet, die sich durch Serialität, Fiktionalität und Narrativität auszeichnen und die für das Web als Erstveröffentlichungsort produziert worden sind.

 

Sie muss nur nachjustiert bzw. aufgebrochen werden. Fiktionalität ist kein Muss mehr für eine Webserie, auch Dokformate funktionieren seriell im Web. Und die Bedeutung dessen, was im Unterhaltungsprogramm als “seriell” bezeichnet wurde, transformierte sich ebenso. Spätestens seit BBC’s Sherlock braucht eine Staffel weder eine Mindestanzahl an Folgen noch regelmäßige Abstände zwischen den Staffelpremieren. Geschweige denn eine Ausstrahlung pünktlich zur Serien-Saison. Eine weitere Justierung benötigt der Webserien-Begriff in der öffentlichen Wahrnehmung. Dort werden Webserien zu sehr entlang der bestehenden Formen der Film- und Fernsehindustrie definiert. Die Feuilletons und Branchenblätter sind überrascht von der guten Qualität, den authentischen Geschichten oder guten Laiendarstellern. Sie sehen in Webserien eine Art Vorschulklasse, in der experimentiert und gespielt werden kann, bis einige Auserwählte in die Große Gruppe versetzt werden dürfen. Sind sie sich nicht bewusst, dass technisch gesehen jedes Netflix Original eine Webserie ist? Dieses Label ist das Narrativ einer gealterten Generation und veralteten Tradition linearer Programmschaffender, die ihren Big-Player-Status behalten wollen, nun aber Territorium zurückkaufen müssen. Aber der Paradigmenwechsel ist in vollem Gange.

 

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Webserien für alle!

 

Webserien lösen die alten Formate ab. Und das nicht nur deshalb, weil wir jetzt alles im Internet schauen und dort alles kostenlos hochladen können, sondern weil das Publikum selbst bestimmen und produzieren möchte, welche Geschichten es sehen will. Und seit einigen Jahren kann es diesen Willen auch umsetzen. Es gibt kein Technikmonopol mehr. Durch Smartphones und 4K-Kameras haben Viele Zugang zu aktuellen Qualitätsstandards.

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Verleihe oder Sendelizenzen sind längst keine Schwellen mehr, die eigenen Geschichten zu veröffentlichen und zu verbreiten. Die Spielregeln dafür werden von sozialen Netzwerken, Selfpublishing-Plattformen und Content-Netzwerken aufgestellt. YouTube im Allgemeinen und funk, das Junge Angebot von ARD und ZDF, im Besonderen spielen hierzulande die wichtigsten Rollen, wenn es um die Verbreitung und Produktion von Webserien geht.

 

Und dann kam Wishlist

 

© Outside the Club

 

funk produzierte Wishlist (2016), den Gamechanger der Branche und veröffentlichte die Serie nicht zur besten Sendezeit, nicht in der Mediathek, sondern direkt auf YouTube. Dahin gehen, wo das Publikum ist. Wishlist war glücklicherweise nicht nur sehr gut produziert (4K, halt) sondern Gott sei Dank auch noch spannend. Einen Teenager-Thriller um eine mysteriöse App und melodramatische Charaktere, hätte das deutsche Publikum von angloamerikanischen Produzenten erwartet, niemals von einer vorhersehbaren, durchformatierten, deutschen Filmbranche. Und sie alle liebten es: Knapp 143.000 Kanal-Abonnenten und 6-stellige Aufrufzahlen pro Episode überzeugten dann auch die entsprechenden Stakeholder, dass diese Webserien etwas sein könnten. Wishlists Auszeichnungen mit dem Grimme- und Deutschen Filmpreis ließen das Format auch auf dem Radar der letzten Traditionalisten auftauchen.

 

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Soviel zur Medienphilosophie und dem Durchbruch der Webserien in Deutschland. Schauen wir uns jetzt endlich ein paar gelungene Beispiele an und wie Webserien erfolgreich die vierte Wand durchbrechen.

 

Eine Norwegerin hat zugehört

Die Girls: Kiki, Amira, Hanna, Mia und Sam. © Johannes M. Louis/ZDF

 

Das Großartige an Webserien und ihrer Abkehr von linearen Ausspielwegen ist die Ausweitung auf verschiedenste soziale Netzwerke und die Anpassung des Formats an die Distributionsmöglichkeit. Oder war es andersrum?

 

Nehmen wir DRUCK (2018), den aktuellsten Webserien-Coup von funk[3]. Ein Berliner Abi-Jahrgang struggelt sich durch Beziehungen und Prüfungen zur Selbstfindung. DRUCK erzählt spannende und wichtige Geschichten aus dem Alltag Heranwachsender[4] in überzeugenden Dialogen mit fein gezeichneten, dreidimensionalen Charakteren. Zuerst sitzen wir in der Beziehungsachterbahn neben Hanna, dann stecken wir in Mias drückenden, feministischen Schuhen. In der aktuellen dritten Staffel entdecken wir zusammen mit Matteo unsere Sexualität.

 

Die Boys: Jonas, Matteo, Abdi und Carlos. © Richard Hübner/ZDF

 

Dabei schafft es die Serie durch geschickte Dramaturgie und das zu Nutze machen der Ausspielplattformen seinem Publikum unglaublich nahe zu kommen. In jeder Staffel wechselt die*er Protagonist*in und damit die Identifikationsfigur der Serie. Jede Folge besteht aus Sequenzen, die mit einem Wochentags- und Uhrzeitstempel beginnen. Im Laufe einer Staffel werden die Sequenzen dann genau an ihrem Wochentag zu besagter Uhrzeit auf YouTube veröffentlicht. So entsteht der Eindruck, hautnah und in Echtzeit das Geschehen um die DRUCK-Protagonist*innen verfolgen zu können. Diese ein- bis sieben-minütigen Sequenzen werden dann nochmal zu halbstündigen Folgen zusammengefasst, die man später am Stück binge-watchen kann. Außerdem besitzt jede Figur ihren eigenen Instagram-Account, auf denen die Fans selbst sehen und kommentieren können, worüber die Figuren sprechen („Sara hat gepostet was’n krasses Arschloch du bist.”) Dazugehörigen Fan-Content gibt es zusätzlich über den DRUCK-Whatsapp-Chat.

 

giphy.com © via funk on GIPHY

 

Wie man auf so ein nutzerorientiertes Ausspiel kommt? Durch Zuhören. Julie Andem, die Erfinderin des norwegischen Originals SKAM („Scham“) interviewte Teenager zu ihren Meinungen über Religion, Politik, Liebe, ihren alltäglichen Erlebnissen, ihren Lieblings-Apps und wie sie sie nutzen. Außerdem beachtete sie die Kommentare unter jeder neuen SKAM-Folge und ließ sie in weitere Episoden einfließen. Die vierte Wand vaporisierte.

 

SKAM bzw. DRUCK ist neben der beeindruckenden Story ein Musterbeispiel an Publikumsinteraktion, die bisher noch zu oft auf Klickzahlen und Reichweite reduziert wird.

 

Sharing is caring

 

© Arte/BR

 

Entgegen Kuhns Definition funktionieren Webserien auch nonfiktional. Der Kultursender Arte produzierte mit Einfach gut leben (2018) eine siebenteilige Dokserie zum Thema “Bedingungsloses Grundeinkommen”, die sich die Dreiecksbeziehung Arbeit-Geld-Leben in sieben verschiedenen Ländern, Lebensgemeinschaften und Lebensauffassungen anschaut.

 

© Arte/BR

 

Obwohl die einzelnen Episoden in der Mediathek abrufbar sind, nutzt man die Webserie am besten über ihre Homepage. Ein Frage-Antwort-Spiel – als rudimentäres Point-and-Click-Quiz gebaut – führt die User durch die Serie. Ihre Antworten bestimmen, in welcher Reihenfolge sie die Episoden schauen werden. Dabei werden Situationen der vorhergehenden Episode wieder aufgegriffen und zur nächsten geführt. Somit entsteht wie von selbst ein Diskurs zwischen Nutzer*in und Serie. Der Inhalt wird nicht nur konsumiert, sondern verarbeitet.

 

Stories via Stories

 

© Screenshot Instagram @eva.stories

 

Fiktion und geschichtlich belegte Fakten werden bei The Girl with the Instagram vereint. Eine Webserie, die gänzlich auf dem Instagram-Account eva.stories stattfindet. Eva Heymann war eine 13-jährige Ungarin, die 1944 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet wurde. Von Februar bis zu ihrer Deportation im Juni ‘44 schrieb Eva Tagebuch. Um ihre Geschichte und den Holocaust einer jungen Generation nahe zu bringen, transferierte der israelische Milliardär Matti Kohavi Evas Tagebuch auf einen Instagram-Account. Aus Einträgen wurden Insta-Stories. Schauspieler*innen spielen Eva, ihre Familie, ihre beste Freundin und die Nazis.

 

© Screenshots Instagram @eva.stories

 

Anders als bei den vorangegangenen Beispielen bestimmt hier die Plattform unmittelbar die Gestaltung und das Format des Bildmaterials. Instagram ist eine App nur für mobile Endgeräte. Insta-Stories ist ein Feature, mit dem Bilder und Videos in Echtzeit gepostet werden sollen. Deshalb sehen wir die Stories, unterteilt in 15-Sekunden-Schnipsel im Hochkantformat, gefilmt mit dem Smartphone, mit wackelndem Bildausschnitt, denn Eva filmt alles. In 70 Kurzfilmen sehen wir sie an ihrem Geburtstag, beim Rumblödeln im Unterricht, das Auftauchen der Nazis, das Aufnähen des Gelben Sterns, die Massenunterkunft, das letzte Marmeladenglas, den Zug nach Auschwitz. Trotz des Wissens, dass hier Schauspieler*innen zu sehen sind und der Distanz, die durch Kostüme und Setting der 1940er entsteht, wird Evas Geschichte erlebbar. Möglich ist dies vor allem durch die Nutzung, Funktionsweise und Intention der Instagram-App.

 

Representation, Baby!

 

Was Webserien auch besser können? Repräsentieren. Im Hauptprogramm fehlt es schon immer an adäquat dargestellten, queeren Charakteren[5] oder an der Besetzung von People of Color (POC). Vor allem in den USA spielen Webserien beim Füllen dieser Lücke eine wichtige Rolle. Beste Beispiele: Issa Raes Awkward Black Girl (2011) oder die Emmy-nominierte Her Story (2016).

 

© funk/DFFB

 

Hier liefert funk mit Straight Family (2018) einen guten Versuch einer schwul-lesbischen Serie ab. Die fünf Episoden lange erste Staffel widmet sich allein dem Thema Outing in der Familie und wird sowohl für die Dialoge als auch die auffällig unauffällige Darstellung homosexueller Menschen gelobt. Straight Family entstand nicht in Zusammenarbeit mit einer Produktionsfirma, sondern mit der Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin. Vier Regisseurinnen und sieben Autor*innen sprachen sich für ein queeres Thema aus und produzierten die Geschichte um Lara (lesbisch) und ihren Bruder Leo (schwul). Dabei setzten sie außerdem auf queere Darsteller.

 

© Screenshot Polyglot, Episode 1 von Amelia Umuhire

 

Mit Polyglot (2015) schuf Amelia Umuhire ein dreiteiliges Kleinod. Amelia stammt aus Ruanda, wuchs in Neukirchen am Niederrhein auf, studierte in Wien und zieht schließlich nach Berlin. Polyglot (“Mehrsprachige*r”) handelt vom Ankommen, vom Heimweh, von der großen Identitätsfrage und begleitet Babiche, die rappen und eine WG-Zimmer finden möchte. Polyglot entstand für einen YouTube-Videowettbewerb spontan an einem Wochenende in Berlin und schafft es trotzdem, metertief in seine Protagonist*innen einzutauchen, obwohl sie nur beobachtet werden. Es gibt keine unnachgiebige Dramaturgie, nur Splitter verschiedener Situationen, einen winzigen Aspekt einer persönlichen Geschichte und die darauf angepasste, filmische Gestaltung. Wenn nötig ist das eine geduldige Kamera oder eine kühle Collage aus Überwachungsvideos.

 

Bis zur Unendlickeit

 

Webserien oder wie wir sie jetzt nennen, Serien fangen an, sich ihrer Möglichkeiten bewusst zu werden. Fangen an, zu verstehen, das Publikum einzusetzen und werden sich bewusst, dass sie alles werden können. Nicht nur der Sonntagstatort oder der FilmFilm oder das Netflix Original, sondern eine eigene Story.

 

© Arte/BR

 

Zeigt uns eure Versionen von Geschichten. Wir wollen sie sehen.

 

 

 

[1] Schließen Sie die Augen und zeigen Sie willkürlich auf eine Studie. In jeder steht, dass Smartphones Laptops und PCs ablösen und Videos bevorzugt konsumiert werden. Wie hier oder hier.

[2] Kuhn, Markus (2012): „Zwischen Kunst, Kommerz und Lokalkolorit: Der Einfluss der Medienumgebung auf die narrative Struktur von Webserien und Ansätze zu einer Klassifizierung“, in: Nünning, Ansgar/Rupp, Jan/Hagelmoser, Rebecca/Meyer, Jonas Ivo (Hgg.): Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen. Trier: WVT, S. 51–92.

[3] DRUCK ist die deutsche Adaption der norwegischen Webserie SKAM (2015). Protagonisten, Plot, Bildsprache/Design und Distributionskonzept wurden vom skandinavischen Vorbild übernommen. Weitere SKAM-Adaptionen gibt es bisher in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien, den USA.

[4] Mental Health, Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Selbstbewusstsein, sexuelle Belästigung, Missbrauch, Transgender, sexuelle Orientierung, Religion, Ausgrenzung, Mobbing, Eifersucht, Familienstress, alternative Lebensformen, Erwachsenwerden, Drogenkonsum, Erfolgsdruck, Zukunftsangst

[5] als Menschen, nicht als Sonderlinge