Corona-Strategien von Filmfestivals – ein kritischer Blick auf Techniken und Formate (Teil 1)

Thema

Tücken, Tricks und Glitches in Videokonferenzen (mit Zoom-Bombing;-), Meme von rww © CC BY-ND

 

Seit Beginn der Pandemie haben Filmfestivals auf bewundernswerte Weise Alternativen gesucht und gefunden, um ihrem Publikum ein Angebot zu machen, obwohl ihnen die Veranstaltungsorte abhanden gekommen sind.

In diesem Artikel beschreibe und analysiere ich im ersten Teil Online-Formate, die anstelle physischer Begegnungen für Gespräche und Diskussionen gewählt wurden. Im zweiten Teil, der später erscheinen wird, geht es um Online-Lösungen anstelle von Kinoprojektionen.

 

Grundlage sind Aufzeichnungen von Webseitenbesuchen und Veröffentlichungen der Festivals. Per dato habe ich stichprobenhaft knapp 90 Kurzfilmfestivals und Festivals mit Kurzfilmen im Wettbewerbsprogramm ‚besucht‘. Die meisten Daten – etwa 1000 Screenshots und Dokumente – stammen aus der Zeit am Anfang der Pandemie.

 

 

Die Ausgangslage: Online-Ausstattung vor der Pandemie

 

Fast alle Festivals hatten vor ihrer ersten Online-Ausgabe bereits Erfahrungen gesammelt, auf die sie bauen konnten. Nämlich Social-Media-Nutzungen sowie Anwendungen für die Eventverwaltung und die Filmsichtung. Diese Bereiche wurden zu den neuen tragenden Säulen der nicht-physischen Präsenz ausgebaut. Erstere als Plattform für diskursive Formate und letztere zu Verteilern für Streaming-Formate. Die Erwartung war, dass so die essentiellen Merkmale eines Filmfestivals – einerseits Begegnungen und Gespräche untereinander, andererseits Filmsichtungen und Kinoprojektion vor Publikum – ins Digitale ‚übersetzt‘ werden könnten.

 

Social-Media-Plattformen wurden bislang von Filmfestivals eher halbherzig und mit gehörigem inneren Abstand genutzt. In der Regel waren die Öffentlichkeits-Abteilungen der Festivals dafür zuständig. Mit der Pandemie rückten sie plötzlich ins Zentrum der Aktivitäten, weil sie das Versprechen bergen, etwas von der sozialen Geselligkeit und Gesprächskultur retten zu können. Die Frage ist, ob und wie das gelingen kann. Im Folgenden versuche ich Antworten zu finden. Die Darstellung habe ich ‚down-to-top‘ von weniger aufwändigen zu komplexeren Anwendungen und Formaten als Optionen für Festivals gegliedert.

 

Um nicht selbst in die ‚Falle‘ zu tappen, die existierenden und von Festivals überwiegend genutzten Mainstream-Plattformen als quasi natürliche Verlängerung physischer Aktivitäten in digitale Netze zu verstehen, versuche ich auf der Basis konkreter Beispiele und Umsetzungen, die mir beim Browsing von Festivalwebseiten auffielen, darzustellen und kritisch zu hinterfragen. Um die innere Logik digitaler Angebote und Kulturtechniken besser verstehen und vermitteln zu können, werfe ich dabei auch einen Blick auf deren medienhistorische Genese.

 

 

Option 1: Virtual Communities – Facebook & Co

 

Brickfilmfestival, BBS-ähnliche Online-Festivalparty mit traditionellem Rhabarberkuchen auf Discord, Screenshot 13.06.2020

In der Frühzeit des Internets entstanden als Gesprächsforen sogenannte Bulletin Board Systems (BBS). Eines der bekanntesten BBS war The Well[1] in der Bay Area Kaliforniens. Howard Rheingold beschreibt The Well noch 1993 hoffnungsvoll als Vorbild für demokratisch organisierte ‚virtual communities‘: »social aggregations that emerge from the Net when enough people carry on those public discussions long enough, with sufficient human feeling, to form webs of personal relationships in cyberspace“[2]. Eine solche Plattform für den offenen Diskurs, die globale Vernetzung ermöglicht, wäre ideal für die Situation, in der wir uns heute befinden. Denkwürdig und sehr interessant ist, was an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt werden kann, dass laut Rheingold The Well nur für Leute, die in der selben Region leben (Bay Area), funktionierte.

Die Visionen der Cyber-Pioniere scheiterten allerdings bereits vor einem Jahrzehnt an der ökonomischen Realität[3].

 

Plattformen wie Facebook oder Messengerdienste wie WhatsApp sind die kommerziellen Nachfolger dieser Idee. Doch Diskurs und Vernetzung dienen leider nur als Aushängeschild und Versprechen. Im Backend geht es um Nutzerdaten, nicht um die Inhalte. Den Algorithmen reicht ein Klick, um das fürs Geschäftsziel Wesentliche zu erfassen, nämlich die Zustimmung (‚like‘) zu einem Produkt oder einem Lifestyle. Die Nutzer haben sich dem angepasst und eine spezifische Kommunikationskultur entwickelt. Es geht nur um Meinungsäußerung, nicht um Dialog. Dem entsprechen dann auch die Nutzerkommentare zu Filmgesprächen und Festivaldiskussionen, wie »super, beeindruckend!« (…) »Hello world«(…) »congrats!« (…) »wow!«. Auf solche einsilbigen Rückmeldungen könnte man auch verzichten, was übrigens auf Plattformen, die einen distinguierteren Stil pflegen der Fall ist. Videokonferenz-Wiedergaben auf Vimeo, zum Beispiel, wurden fast nie kommentiert.

Fazit: Solche Plattformen haben zwar den Vorteil, dass sie eine kostenlose Fläche für das Posten aufgezeichneter Gespräche zur Verfügung stellen. Die ‚Besucher‘-Kommentare sind jedoch monodirektionale Ausrufe, kein Gesprächsangebot. Für eine Kommunikation im Sinne der Gesprächspraxen auf Filmfestivals sind sie daher unbrauchbar. Und als Feedback für FilmemacherInnen aus dem Publikum für FilmemacherInnen taugt dieses Format kaum.

 


Exkurs: 25 Jahre Videokonferenzen und Virtual Film Festivals

1994 kam die erste „QuickCam“ für Computer auf den Markt. 1995 brachten Forscher der Cornell University die Videokonferenz-Software CU-SeeMe in den Handel, die zuerst von ABC News professionell eingesetzt wurde. Parallel dazu entwickelte Apple QuickTime Conferencing (15 B/sec, 320p, s/w).

VFF-Webcasting vom Laptop in Oberhausen © privat (QuickPicts von Peter Wintonick)

Noch im gleichen Jahr luden Pierre Bongiovanni und Cherise Fong vom CICV Centre Pierre Schaeffer (Montbéliard, F) zum Le Festival OLE (On-LinE) ein, »um auszuprobieren, wie wir das Internet für den Austausch und die Verbreitung digitaler Kunstwerke nutzen können[4]«. 1996 streamte die Gruppe iLine (aus der Indiewire hervorging) die Eröffnungsgala des Sundance-Festivals. Der Gruppe gehörte der kanadische Dokumentarfilmemacher Peter Wintonick (Manufacturing Consent: Noam Chomsky and the Media) an. Wintonick gründete The Virtual FilmFestival. »VFF (…) hosts realtime press conferences with directors and other film notables from film events around the globe.[5]« VFF sendete vom Sundance Festival täglich. In Europa beteiligten sich 1996 zuerst die Berlinale und dann die Kurzfilmtage Oberhausen (kuratiert vom Autoren dieses Artikels).


 

 

Option 2: Digitalisierte Bildtelefonie[6] – Videochats

 

Das zeitgemäße Mittel der Wahl, um Gespräche über größere Distanzen hinweg zu führen, sind Videochats und Videokonferenzanwendungen. Sowohl Live-Übertragung als auch die zeitversetzte Wiedergabe (mit und ohne Bearbeitung) von Aufzeichnungen sind möglich. Viele Festivals haben solche Aufzeichnungen auch schon vor der Pandemie online gestellt. Der Zuwachs an Aufrufen während der Pandemie ist aber ging.

Beispiel: Teilnehmerzahlen, Aufrufe auf Vimeo und YouTube (anonymisiert)

Mit Ausnahme von Masterclasses und praktischen Workshops, die deutlich häufiger aufgerufen werden, liegen die Zugriffszahlen auf die diskursiven Angebote meist nur im zweistelligen Bereich. Bei etlichen live übertragenen Gesprächen, an denen ich selbst ‚teilnahm‘, war ich mit zwei oder drei anderen Personen allein. Ich vermute, dass technische, aber auch konzeptionelle Mängel der Grund für das geringe Interesse ist.

 

„My Creative Process“ von Regina Pessoa auf Vimeo, interfilm Berlin, Screenshot

Das konzeptionell gut durchdachte Online-Präsentationen überzeugen können, zeigt Regina Pessoa in ihrem Beitrag „My Creative Process“, den interfilm Berlin für eine Masterclass mit der Filmemacherin gepostet hat.

(s. Bild mit Link zum Beitrag, <Grafik anzeigen> vergrößert die Darstellung im gleichen Fenster)

 

Der erste technische Mangel ist, dass es mit Verbraucher-Bordmitteln unmöglich ist, professionell zu arbeiten. Meist sind schlechte Kameras mit nur millimetergroßen Optiken verbaut, die sich auch nicht steuern lassen (Farbtemperatur, Brennweite etc.). Eingebaute Mikrofone nehmen Störgeräusche aus ihrer Umwelt auf und Lautsprecher verursachen Echos. Oft mangelt es auch an Bandbreite und Stabilität der Netzübertragung. Die Folge sind Artefakte, Asynchronität, Paketverluste und große Latenzen.

 

Beim privaten Skype-Gespräch mit der eigenen Oma oder dem eigenen Onkel mag das nicht tragisch sein – für eine öffentliche, unter Umständen weltweite Verbreitung, finde ich, aber schon! Insbesondere, wenn es der Darstellung und Selbstdarstellung von FilmemacherInnen und Filmfestivals dienen soll, die einen Qualitätsanspruch an Filmbildern haben.

 

Die vielen Pannen, manchmal Kuriositäten, manchmal nur Unbeholfenheit, die es in Online-Festivaldiskussionen gibt, brauche ich nicht weiter darzustellen, da inzwischen wohl jeder sie bereits selbst verursacht, zumindest aber gesehen hat. In einem physischen Treffen unterstützt die in Jahrtausenden gelernte Kulturtechnik die Kommunikation. Körperhaltungen, Gesten, Blicke und vieles mehr signalisieren mir wichtige Information. Gesprächsbereitschaft, Zustimmung oder Ablehnung, Desinteresse oder Erschöpfung und persönliche Befindlichkeiten bleiben ‚lost in transmission‘. Man denke nur daran, wie spontan man sich in einem Meeting auf eine kurze Pause einigen kann ohne groß darüber zu reden oder ein Voting mit Handheben zu veranstalten.

 

Die zweite Fehlerquelle sind ‚Drehs‘ ohne Assistenz wie Bildregie, Beleuchtung, Kamerabedienung oder Tonaufnahme. Das wird – wie in Überwachungskameras – dem Rechner überlassen. Oder der Bildschnitt wird unbeeinflussbar den Algorithmen der Konferenzsoftware übergeben, wenn der Tonpegel entscheidet, wessen Bild im Vordergrund steht oder in die Seitenleiste verschoben wird.

 

Fazit: Unter bescheidenen technischen Bedingungen, in den auch noch jeder sein eigener Selfie-Regisseur ist, leidet notwendigerweise die Qualität. Manche Fehler und Mängel wären aber vermeidbar (s.a. Verbesserungsvorschläge unten).

Positive Ansätze zur Fehlervermeidung fand ich beim DOKfest München. Dort gab es bei Videokonferenzen neben der Moderation offenbar eine Regie, die am Anfang des Gesprächs – auch das fand ich angenehm – meist mitabgebildet wurde. (s. Bild)

Filmgespräch auf Vimeo, Studio des DOKfest München (l. oben), Regisseurin Lina Maria Mannheimer (l. unten) und Team zuhause, Screenshot 9.5.20

Vielleicht trug das dazu bei, dass der Online-Auftritt des DOKfest zu den bislang erfolgreichsten unter den deutschen Festivals gehörte.

 

Hohe Einschaltquoten hatte auch das dänische Festival CPH:Dox, obwohl die Veranstalter nur wenige Tage hatten, um auf Online umzustellen. Die höchste Zuschauerzahl, die ich bis heute für ein Live Videochat registrieren konnte, hatte ein Gespräch mit Edward Snowdon: mehr als 2.000 Menschen schauten sich das Gespräch zeitgleich an! Das ist natürlich angesichts der Person und anderer Umstände – es war von Anfang an klar, dass Snowdon nur per Videoschalte teilnehmen kann – kein fairer Vergleich.

 

 

Option 3: Television – IP-TV

 

Besser in der Gunst der Zuschauer und der beteiligten FilmemacherInnen[7] schnitten Aufzeichnungen von Gesprächen ab, die nicht unverändert aus Live-Videochats übernommen, sondern vorbereitet und nachbearbeitet wurden. Eine gute Option sind auf jeden Fall Streamings von Gesprächen, die inszeniert und postproduziert werden können. Dies ist im Grunde Fernsehen, genauer gesagt IP-TV, also die Verbreitung von Sendungen per Internetprotokoll über Datennetze.

 

Fernsehprogrammähnlich wurden die Filmemachergespräche eingebunden, die von den Kurzfilmtagen Oberhausen zwischen den Filmen in die blockweise gestreamten Wettbewerbsprogramme geschnitten, aber nicht einheitlich nachbearbeitet wurden.

 

Live-Sendung des Internationalen Trickfilmfestival Stuttgart auf Vimeo, Screenshot vom 6.5.20

Live-Fernsehformate wurden eher selten eingesetzt. Das Internationale Trickfilmfestival Stuttgart sprang damit als erstes ‚ins kalte Wasser‘, hat sich aber durch das Engagement eines Fernsehmoderators abgesichert. (Bild)

Möglicherweise habe ich andere Livesendungen übersehen. Als Zuschauer kann man ohnehin nicht eindeutig erkennen, ob zum Beispiel eine choreografierte bzw. inszenierte Festivaleröffnung als Konserve oder live gesendet werden.

 

Obwohl es dem alten linearen Fernsehen vor Erfindung des Videorekorders entspricht, sind IP-TV-Formate immer noch besser geeignet Festivalatmosphäre zu vermitteln als die interaktiven Chat- und Klick- Beteiligungsformate!

 

 

Fazit: IP-TV sendet one to many und es gibt auch keinen Rückkanal für Zuschauerbeteiligung oder ‚virtuelle Begegnungen‘.

IP-TV bedeutet, dass erst gar nicht versucht wird ein Festival mit seinen Gesprächen und Begegnungen online zu imitieren oder zu replizieren.

 

Die verständliche Haltung vieler Filmfestivals, so zu tun als fände ihr Festival wirklich statt, verursachte nicht nur die oben genannten Pannen und Fehler, sondern irritiert auch, weil sie der Rezeptions- und den Mediennutzungserfahrung der ‚FestivalbesucherInnen‘, die ja nicht alle „digital naives“ sind, immanent widerspricht. Die naive Haltung mancher Festivalveranstalter äußerte sich auch in manchen sprachlichen Entgleisungen ihrer PR-Abteilungen. Sätze, die man immer öfter hört, wie „holt Euch das Festivalevent aufs Sofa“, „Festivalprogramm bequem zuhause“ oder „stoßt mit einem guten Glas Wein auf die Preisträger an!“ sind schlicht Schmus.

 

 

Option 4: Immersion – Virtual Environments

 

Auch, wenn manche Veranstalter von virtuellen Treffen oder Festivals sprechen (ein weiteres naives Missverständnis): zweidimensionale Bildschirmanwendungen sind keine virtuellen Umgebungen. Echte virtuelle Umgebungen wie computergenerierte 3D-Konstruktionen haben Festivals noch nicht als Option für Begegnungen entdeckt. Meines Wissens jedenfalls nur mit einer Ausnahme, die ich in diesem Artikel bereits vorgestellt habe: „Neuerfindung eines Festivals  – das GIFF in Mexico fand physisch, digital und virtuell statt“.

Als Hauptgrund für die Zurückhaltung vermute ich, dass Filmfestivals, die sich wie oben beschrieben, alle Mühe geben, sich wie ein echtes Festival anzufühlen, vom visuellen Erscheinungsbild abschrecken lassen. Und, ich muss zugeben, es ist tatsächlich sehr gewöhnungsbedürftig 3-D-Konstruktionen als Festivalorte wahrzunehmen und Avatare als sich Selbst und andere Menschen zu akzeptieren. Doch aufwändig gestaltete Spiele zeigen, dass auch fotorealistische virtuelle Umgebungen möglich sind. Praktisch ist es wohl eher utopisch[8]. Die Entwicklung solcher Umgebungen dauert länger als die eines Impfstoffs;-)

 

Kommunikationstheoretisch betrachtet haben solche Realität nachbildenden 3-D-Konstruktionen aber den Vorteil, dass sie besser Funktionen physischer Festivals erfüllen als die oben genannten abbildenden Formate. Zufällige Begegnungen, dialogische Teilnahme und selbstbestimmtes Kommunizieren und Handeln (‚empowerment‘) der TeilnehmerInnen sind möglich und sogar das eigene Aussehen der TeilnehmerInnen kann bestimmt werden. Nur an der, selbstverständlich ebenfalls virtuell vorhandenen Festivalbar stößt man, wenn das Glas mit einem Cocktail überreicht wird, dann doch an die letzte unüberwindbare Electronic Frontier.

 

 

 

Ethische Aspekte

 

Social-Media-Plattformen und Videokonferenzanwendungen sind in sozialer und technischer Hinsicht übergriffig. Sie dringen (mit Kamera und Mikrofon) in private Räume ein, und machen diese weltweit öffentlich. Bei den teilnehmenden FilmemacherInnen entsteht umgekehrt aber keine Öffentlichkeit[9]. In der Fachsprache heißt der Effekt interactive loneliness.

 

Technisch sind die Voraussetzungen, insbesondere bei (scheinbar) kostenlosen Anwendungen, für die Teilnahme oft grenzwertig. Nämlich dann, wenn sie die Installation vom Nutzer unbeherrschbarer Anwendungen erfordern. Wegen der Monopolstellung vieler Plattformen, muss man deren AGBs zuzustimmen auch, wenn man nicht möchte, dass sich Mal- und Spyware im eigenen Home Office einnistet.

 

Ein verantwortungsvoller Umgang und Einsatz von Digitaltechniken wäre deshalb wünschenswert. Viele Filmfestivals, die sich eher der Technik und Kulturpraxis der analogen Welt verbunden fühlen, neigen dazu diese Problematik in ihrer Notlage zu übersehen.

 

 

Ideen und Vorschläge zur Qualitätsverbesserung

 

Photoautomat © Reinhard W. Wolf

Die Attraktivität von Gesprächsformaten und anderen Online-Auftritten wird erhöht, wenn ihre Qualität verbessert wird. Die öden Kacheln aufgezeichneter Bildschirmkonferenzen, in denen die Menschen aussehen als seien sie von einem Fotoautomat aus dem letzten Jahrhundert aufgenommen worden (Bild), möchte sich wohl bald niemand mehr ansehen. Auch nicht anhören, was wie eine schlechte Mobiltelefonverbindung aus dem Badezimmer klingt.

 

Regieraum Nordisk Panorama 2020 © Niklas G. Ivarsson, NP

Der technische und personelle Aufwand, allein um sauberes Audio und Video für die Übertragung von Gesprächen und Diskussionen zu liefern, ist leider nicht unbeträchtlich. Anstelle von ‚consumer products‘ müsste in professionelle Kameras und Mikros, Bild- und Tonmischer sowie Studiopersonal investiert werden. Manche Festivals konnten sich das bereits leisten beziehungsweise waren bereits gut ausgestattet (s. Bild oben).

 

Allerdings nützt das nur halb, wenn die GesprächspartnerInnen nicht mitziehen oder mithalten können. Das ist ein fast unlösbares Problem für Festivals, die Filme aus industriell weniger entwickelten Ländern und von Independent-FilmemacherInnen zeigen (digital divide). Schließlich gibt es auch in Deutschland Gegenden, die eine so miserable Netzabdeckung haben, dass die beste Bild-Ton-Ausstattung ins Leere läuft.

 

Live-Sendungen machen ohne entsprechende Studio- und Netztechnik wenig Sinn und kommen für international aufgestellte Festivals, die weiter entfernte, als ihre benachbarten, Zeitzonen erreichen wollen, nur in Frage, wenn Aufzeichnungen davon nachveröffentlicht werden.

 

Besser als improvisierte Videochat-Mitschnitte sind vorbereitete Gespräche und Aufnahmen, die professionell geschnitten sind. In diese könnten, wie von manchen Festivals praktiziert, Standbilder oder Filmausschnitte zur Veranschaulichung eingeblendet werden.

 

Videokonferenzen sollten nicht nur moderiert, sondern auch assistiert werden. Wer moderiert soll sich allein darauf konzentrieren dürfen und sich nicht auch noch um die Bild- und Tonregie kümmern müssen.

 

Filmmontage sollte man nicht der App überlassen. Die Veröffentlichung automatischer Gesprächsmitschnitte ist einfach und billig. So sehen sie aber auch aus. Sie durchkreuzen sämtliche Prinzipien der Montage. Videokonferenzanwendungen sind als Nachfolger der Bildtelefonie eigentlich nur für Dialoge zwischen zwei Personen gut geeignet (Schuss/Gegenschuss). Es ist paradox, wenn Festivals, die auf handwerkliche und ästhetische Qualität von Filmen wert legen, ihre Protagonisten als gestapelte Kacheln abbilden. Eine Sammlung von Bildfenstern,  in denen jeder in die eigene Selfiekamera schaut oder schräg auf den eigenen Bildschirm schielt, bildet keine gemeinsame Gesprächssituation ab.  Vielmehr sollten Bildstrategien konzipiert und praktiziert werden, die raumzeitliche Kontinuität herstellen oder die Disparitäten unterschiedlicher Orte ebenso wie Blickrichtungen und dialogische Beziehungen der Teilnehmer untereinander filmisch vermitteln.

 

Abstand nehmen könnte man, meiner Meinung nach, gerne von Videogrußbotschaften. Sie beinhalten meist die immer gleichen Floskeln und verhallen vor einem nicht anwesenden Publikum im Datenuniversum.

 

Es würde der Verständlichkeit und Reichweite dienen, wenn Filmgespräche untertitelt wären[10]. Vorzugsweise sollten FilmemacherInnen in ihrer Muttersprache sprechen und sich so besser ausdrücken dürfen als in Videokonferenzen, in denen es in den meisten Fällen ohnehin keinen einzigen ’native speaker‘ gibt.

 

Schön wäre es, wenn sich Festivals zusammentun und in Arbeitsteilung solche Filmgespräche als kleine Filme herstellen und wechselseitig zur Verfügung stellen. So entstünde nebenbei ein Archiv lebendiger Filmgeschichte, das auch von anderen, zum Beispiel Kinematheken oder Kinos, genutzt werden könnte.

 

Es sollte in bessere und in nicht Privatheit-verletzende oder politisch kompromittierte Kommunikations- und Videokonferenzanwendungen investiert werden. Jenseits der kostenfreien Plattformdiensten gibt es alternative Telekommunikations- und Konferenzanwendungen, die von Festivals noch nicht ausprobiert wurden und deren weiteren Funktionen noch nicht ausgereizt wurden. Es ist zu befürchten, dass kleinere Kurzfilmfestivals das nicht stemmen können, zumal sie sich angesichts der jetzigen Lage ‚hybrid‘ aufstellen, also doppelt ausstatten müssen. Kooperationen zwischen Veranstaltern könnten das abfedern.

 

 

Nicht entmutigen lassen!

 

Am Anfang der Pandemie fand ich es deprimierend, wie wenig Aufrufe diskursive Angebote hatten. Insbesondere im Vergleich zu Festivaltrailern, die – nur einen Klick weiter – bizarrerweise überall die zehnfachen Klickzahlen bekommen[11]. Wenn das Gespräch über einen Kurzfilm Aufrufe im zweistelligen Bereich hat, so ist das im Vergleich zu typischen Social-Media-Postings tatsächlich sehr wenig. Hier gilt es, sich von der Aufmerksamkeitsökonomie des kommerziellen Internets zu lösen.

 

Tröstlich mag sein, dass auf einem physischen Festival, zumal, wenn die Filme eines ganzen Programmblocks gemeinsam diskutiert werden, oft auch nicht mehr FestivalbesucherInnen teilnehmen oder einfach nur zu hören, statt mitzudiskutieren. Im Netz haben die Diskussionen als Aufzeichnungen zusätzlich noch den Bonus einer Chance, nach dem eigentlichen Ereignis angeschaut zu werden und ‚Punkte zu sammeln‘.

 

Ende erster Teil – im zweiten Teil geht es um Modelle des Online-Streamings von Festivalfilmen: Corona-Strategien von Filmfestivals (Teil 2)

 

 

 

[1] Acronym von „Whole Earth ‘Lectronic Link“, 1985 von Stewart Brand u.a. gegründete Online-Community, der unter anderem die Gründer der Electronic Frontier Foundation und The Grateful Dead angehörten

[2] The Virtual Community, Homesteading the Electronic Frontier, Howard Rheingold 1993

[3] Die Domain musste 2012 aus Finanzmangel an eine Investorengruppe verkauft werden

[4] Aus einem Beitrag von Reinhard W. Wolf für die erste Website der Kurzfilmtage Oberhausen 1995

[5] ditto, The VirtualFilmfestival sendete u.a. Beiträge mit Ken Jacobs, William Raban, Misao Sanada und Cate Shortland

[6] Technische Grundlage ist das Aufsetzen der Telefonverbindung auf Datennetze (Voice-over-IP), die Digitalisierung von Sprache und eine synchrone Übertragung digitalisierte Bildaufnahmen. Um die Gespräche öffentlich zu machen, müssen Bild und Ton in einem zweiten Schritt vom Bildschirm ‚abfotografiert‘ und aufgezeichnet werden (capturing).

[7] siehe auch „Filmfestivals: raumzeitliche Ausdehnung führt zu Verwerfungen in der Kino- und Festivallandschaft

[8] für wirtschaftlich-gewerbliche Zwecke gibt es bereits vielversprechende Lösungen

[9] siehe hierzu auch unsere Artikel über Erfahrungen von FilmemacherInnen

[10] siehe auch Praktische Tipps „Kostenlose Videountertitelung von Online-Videos“

[11] An der Spitze: der Trailer des gemeinschaftlichen YouTube-Festivals „We Are One“ mit 362.000 Aufrufen (registriert im Oktober)

 

3 Trackbacks