Crowdsourcing und partizipative Kunst – Gillian Wearing ruft zu Filmprojekt auf

Thema

Aufrufe zur Teilnahme an kollektiven Filmprojekten gab es bereits hunderte. Doch dieser ist anders, oder vielleicht doch nicht? „Your Views“  heißt das Projekt. Die Grundidee ist einfach: weltweit sind Menschen aufgerufen Clips einzureichen, die den Blick aus den Fenstern ihres Zuhause zeigen. Das Besondere ist, dass hiermit Aufnahmen gesammelt werden, die in einem Kunstprojekt verwendet werden, das später in Kunstmuseen, in Galerien und im Fernsehen gezeigt werden soll. Autorin und Initiatorin ist die renommierte britische Künstlerin und Filmemacherin Gillian Wearing in Zusammenarbeit mit ihrer Galerie Maureen Paley.

In dem Aufruf zur Teilnahme heißt es ziemlich reißerisch: „Werde Teil einer einzigartigen, globalen, kollektiven Filmemachen-Erfahrung mit der Künstlerin Gillian Wearing. Wir wollen Schnappschüsse von Blicken aus den Wohnungen von Leuten auf der ganzen Welt einfangen und das geht nur mit DEINER Hilfe“.
Das klingt nach einer interessanten Möglichkeit an einem Film einer prominenten Künstlerin zu partizipieren. Der Sinn und die Konzeption des geplanten Werks erschließen sich allerdings aus der Ausschreibung nicht. Man kann allenfalls spekulieren, daß zum Beispiel soziale oder ethnographische Aspekte eine Rolle spielen könnten. Der Zweck ist hingegen klar, die Filmemacherin wünscht sich „šfrei Haus‘ Aufnahmen aus aller Welt, die sie selbst nicht authentisch und nur mit großem Aufwand bei sehr hohen Kosten herstellen könnte. Solche Gründe liegen fast allen partizipativen Filmprojekten zu Grunde und zeichnet sie geradezu aus. Anrüchig ist dies deshalb nicht. Gleichwohl wird ein Ton angeschlagen, der vor dem Hintergrund der geplanten Produktionsweise, skeptisch macht. So wird eine kollektive Erfahrung versprochen, obwohl „Your Views“ alles andere als ein kollaboratives Filmprojekt ist.

Im Unterschied zu kollaborativen, partizipatorischen Filmprojekten (siehe Beispiele in den Fußnoten) tendieren die Einflussmöglichkeiten der potentiellen Mit-Filmemacher bei „Your Views“ gegen Null. Dies fängt bei der Gestaltung an und hört bei der Auswahl und der Verwendung des Materials auf. In den Einreichbedingungen wird sogar penibel genau beschrieben wie die Aufnahmen formal aussehen sollen.

Der Blick aus dem Fenster soll erst durch das Öffnen eines Vorhangs oder einer Jalousie „with a steady quick motion“ freigegeben werden. Eine Geschichte zu erzählen ist verboten – die Filme der Teilnehmer sollen unpersönlich und gewissermaßen narrativ „šflach‘ bleiben. Auch für die Kadrierung gibt es Vorgaben: der Fensterrahmen und Gegenstände der umgebenden Wohnung dürfen nicht gezeigt werden. Der Fokus der Kamera und die Belichtungseinstellung werden vorgegeben. Selbst Einstellungslängen werden sekundengenau definiert. Die gesamte Inszenierung ist also reglementiert. In der Filmproduktionspraxis nennt man das eine Regieanweisung, die in der Filmbranche in einer klaren Hierarchie von Produktionsmitarbeitern befolgt werden muss.

Das ist noch nicht alles: Als Kriterien bei der Beurteilung werden in der AGB  weiterhin „Einzigartigkeit und „Kreativität“ genannt, vor allem aber die Übereinstimmung mit den Vorstellungen von Gillian Wearing („consistency with the creative and artistic vision of the Director of the Film“), jedoch ohne diese zu benennen. Schließlich ist auch noch die Überlassung aller Auswertungsrechte Voraussetzung für die Teilnahme. Kosten werden nicht erstattet und Lizenzen werden keine ausgezahlt. Als Dankeschön winkt nur den Teilnehmern, deren Clips ausgewählt wurden, eine kurze Trailer-Version des fertigen Films.

Wie soll man ein solches Projekt ethisch, künstlerisch oder kulturpolitisch beurteilen? Unterscheidet es sich, weil es per Definition ein Kunstprojekt ist, von kommerziellen partizipativen Projekten? Als extremes Beispiel sei hier das Projekt „Mass Animation“ (2008 – 2011), das bezüglich der Intention zwar nicht mit „Your Views“ vergleichbar ist, aber eine ganze Reihe methodisch-struktureller Ähnlichkeiten aufweist, die ähnliche Fragen aufwerfen.

Mass Animation wurde vom ehemaligen Sony Vice Chairman Yair Landau als neues Prodruktionsmodell für die Herstellung von Animationsfilmen gegründet. Das Crowdsourcing-Projekt verstand sich als eine „open invitation to artists around the world to collaborate in creating the next generation of animated stories“. Mehr als 50.000 Filmemacher aus 101 Ländern beteiligten sich. 51 der Arbeiten wurden als Szenen für die Verwendung in dem fertigen Kurzfilm „Live Music“ ausgewählt. Nur diese Autoren erhielten eine Pauschale von $500 als Honorar. Die Herstellung des Films hat nur ein Bruchteil der üblichen Produktionskosten gekostet. Die Methode wurde in der amerikanischen Animationsfilmszene heftig als Ausbeutung kritisiert. In einem Blog auf Motiongrapher wurde der scheinbar partizipatorische Ansatz unter dem Label „democratization of animation“ kritisiert und gefragt, weshalb die Teilnehmer keinen Einfluss auf die Gestaltung des Films hatten und lediglich als ausführende Animationszeichner – im Grunde eine Routineaufgabe – gefragt waren. Auch hier gab es genaue Regieanweisungen, ein vorgegebenes Script und hierarchische Entscheidungsstrukturen. Echte partizipatorische Möglichkeiten, wie die Kooperation mit dem Produktionsstudio oder gar Zusammenarbeit der Teilnehmern untereinander, waren nicht vorgesehen.

Letztlich geht es um Ökonomie. Wenn Crowdsourcing lediglich als Methode benutzt wird, um für die Herstellung eines Produkts billig oder kostenlos Leistungen zu beziehen, die normalerweise entlohnt werden, ist dies in jedem Fall verwerflich und nicht tolerierbar. In bestimmten Bereichen der so genannten Kreativindustrie ist dies leider inzwischen weit verbreitet. Geradezu üblich geworden sind Crowdsourcing-Ausschreibungen für Werbefilme. Besonders betroffen sind Grafikdesigner. Für unbezahlte Crowdsource-Arbeit gibt es bereits den eigenen Begriff der „spec work“ (s.a. http://www.nospec.com). Die Fälle sind aber keineswegs immer so eindeutig zu beurteilen. Insbesondere, wenn es nicht-professionelle „šnormale Bürger‘ betrifft, die ohnehin keine Bezahlung erwarten. Aber auch, wenn es sich um zivilgesellschaftliche und kulturelle Projekte handelt. Ein weiteres Beurteilungskriterium von Crowdsourcing-Projekten jenseits der ökonomischen Frage ist dann zumindest der Grad an echten kooperativen und kollaborativen Elementen.

Gillian Wearings „Your views“ hat ebenfalls keine kooperativen Elemente in ihrem Projekt und auch Wearing lässt ihre Crowd umsonst arbeiten. Jedoch sind es freiwillige Beiträge, die aus der Zivilgesellschaft kommen, also nicht hergestellt werden, um an einem Wirtschaftskreislauf teilzunehmen. Letzteres stimmt allerdings unter Umständen nicht ganz. Denn die fertige Arbeit hat eine Chance auf Erfolg am Kunstmarkt, womit die Frage der Ökonomie sofort wieder ins Spiel kommt. Dies ist ein unausweichliches Dilemma, in das die Künstlerin und ihr Projekt unfreiwillig geraten. Und zwar aus strukturellen Gründen und unabhängig von Wearings persönlicher Intention.

Das Problem – die Diskrepanz zwischen zivilgesellschaftlichem Crowdsourcing und marktwirtschaftlicher Auswertung – wächst bei Kunstprojekten proportional mit dem Bekanntheitswert der jeweiligen Künstler und ihrem Marktwert. Das Ranking von Gillian Wearing ist zwar nicht schlecht, doch noch weit von der Spitze entfernt, so daß nicht so viel Geld im Spiel ist. Um ein Beispiel zu nennen: die Arbeiten der Marktführer im Sektor Videokunst, wie etwa Bill Viola, Fiona Tan oder Pipilotti Rist, erzielen in Versteigerungen auch schon einmal mehrere Hunderttausend Dollar. Allerdings besteht bei diesen Künstlern aus konzeptionellen Gründen wohl keine Gefahr, dass normale Bürger unbezahlt partizipieren zu dürfen.

Anders sieht es bei einer Kunstrichtung aus, die in den letzten Jahren auf Biennalen und Kunstmessen sehr erfolgreich war und sich selbst als neue Spielart partizipativer Kunst versteht. Gemeint sind hier ausdrücklich nicht (ehrenwerte) pädagogische oder soziale Kunstprojekte, sondern jene Variante, die als „Relational Art“ (nach Nicolas Bourriard) bezeichnet wird. Despektierlich gesagt ist das Mitmach-Kunst, in der der Dialog zwischen Produzent und Konsument eher den Regeln des Produkt-Marketing entspricht (meist personifiziert durch einen Kurator) als tatsächlicher, sinnvoller Teilhabe am künstlerischen Prozess.

Wearing wird eigentlich nicht zu den Relational Artists gezählt. Sie lädt das Publikum auch nicht ein, um sich am künstlerischen Prozess zu beteiligen oder als Künstler fühlen. Bei „Your Views“ ist glasklar in den AGBs definiert, wer der Künstler ist, nämlich „the Director“. In früheren Arbeiten hat Gillian Wearing allerdings normale Bürger stärker einbezogen und ihnen einen kreativen Freiraum gelassen. Für ihren Film „Self Made“  (2007) hat Wearing per Annonce Laien als Schauspieler gesucht und nach einem Casting sieben von ihnen als Darsteller trainiert, die schließlich Protagonisten in ihrem Film wurden. Dabei ging es Wearing aber in erster Linie nicht um die Partizipation als solche, sondern wie in ihren anderen Arbeiten – auch den fotografischen – vielmehr um Fragen der Identität und den Differenzen zwischen äußerem Erscheinungsbild, innerer Wahrheit, Künstlichkeit und Authentizität. Doch auch bei den frühen Arbeiten von Wearing überkreuzen sich Inszenierung und Dokumentation. Diese Verschiebung, in der die Grenze zwischen Kunst und übriger Wirklichkeit aufgehoben wird, ist auch für die relationale Ästhetik typisch.

Auch wenn ihre Kunst nicht partizipatorisch ist, hat Wearing sich zumindest von Sharing- und Crowd-Strategien beeinflussen lassen. Dazu passt ein anderes Projekt, das Wearing parallel zu „Your Views“ entwickelt. In ihrer Heimatstadt Birmingham plant sie das Denkmal „A Real Birmingham Family“ . Für die Bronze-Skulptur, die 2014 aufgestellt werden soll, hat Wearing per öffentliche Ausschreibung nach einer Modell-Familie gesucht. Aus mehr als 370 Familien hat eine Jury in einem Casting vier Familien auf eine Shortlist gesetzt. Inzwischen ist die „šGewinnerfamilie‘ ausgewählt und geht das Projekt in die Realisierungsphase. Das heißt, zunächst muss die Herstellung des Denkmals finanziert werden und zwar zur Hälfte per Crowdfunding! Zurzeit werden insbesondere die Bürger von Birmingham zu Spenden aufgerufen. Für eine gewisse Phase des Crowdfunding verdoppelt der Arts Council die Einsätze. Um das Projekt realisieren zu können, müssen aber immerhin £100,000 eingeworben werden. Wer mehr als £250 spendet, darf sich „Friend of the Family“ nennen und wird in der Unterstützerliste namentlich genannt.
Welcher Art das Denkmal sein wird, kann man sich bereits vorstellen, denn es gibt einen Vorläufer – eine in Bronze gegossene 1:1 Replica einer italienischen Familie (Bild „Typical Trentino Family of 2007“ ).

Bezugnehmend auf „Your Views“ und andere partizipatorische Kunstprojekte stellt in einem Artikel des Museums Journal  Simon Stephens folgerichtig die ketzerische Frage, ob jede öffentliche Beteiligung in der Kunst eine gute Sache sei. Er äußert Zweifel an der Qualität von Kunstwerken, die so entstanden sind. Stephens verweist dabei auf eine andere Kritik Gillian Wearings Filmprojekt im Guardian (die übrigens zu diesem Artikel hier angeregt hat). In seinem Art Blog bezeichnet Jonathan Jones auf Guardian Online Gillian Wearing abfällig als „social artist“ und ihre Arbeit als langweilige „interactive happy-clappy art“ (Will the digital age kill off art?, The Guardian, 2. Juli 2013).

Dieses harte Urteil ist aber zumindest für „Your Views“ verfrüht. Denn, was mit den eingereichten Fenster-Clips geschieht, ist noch ein Geheimnis der Künstlerin und wie die Arbeit am Ende aussehen wird, wissen wir ja noch nicht. Auf jeden Fall bleiben die Fragen nach Partizipation und nach der Einbindung von Social-Media-Strategien in Kunst und Film spannend und voller Widersprüche.

Reinhard W. Wolf

_wichtige Arbeiten und Links zu Gillian Wearing
„Your Views“: http://yourviewsfilm.com/
Einige „Your Views“ Teilnehmerfilme online: http://randomacts.channel4.com/artist/298/Gillian
„A real Birmingham Family“ (2012 – ): http://www.arealbirminghamfamily.com/
„Crowd“ (2012)
„Secrets and Lies“ (2009)
„1 into 2“ (1997): http://www.autopsiesgroup.com/gillian-wearing-2-into-1.html
„Sixty Minute Silence“ (1996)
Maureen Paley: http://www.maureenpaley.com/artists/gillian-wearing

_Texte
„Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis“, Christian Kravagna 1998: http://republicart.net/disc/aap/kravagna01_de.htm
Complications; On Collaboration, Agency and Contemporary Art“, Maria Lind: http://pi.library.yorku.ca/ojs/index.php/public/article/download/30385/27912
„Participation and collaboration in contemporary art“, S. E. Fotiadi: http://dare.uva.nl/record/293009
„Crowdsourcing“, NO!SPEC: http://www.nospec.com/category/crowdsourcing

_künstlerische Filmbeispiele
„They Shoot Horses“ (2004), Phil Collins, Teenagers dancing in Ramallah
„Sweet Nightingale“, Victor Alimpiev (2005), a large group of people being instructed, to execute various minimal movements.
Fast alle Filme von Yael Bartana

_kollaborative crowd-sourced Filme
„A Remix Manifesto“: http://en.wikipedia.org/wiki/RiP!:_A_Remix_Manifesto
„Sanctuary“ / „Head Bin“: http://modfilms.com/archives/20040903_head_bin.html
„Iron Sky“: http://en.wikipedia.org/wiki/Iron_Sky

Original Page