Obsoleszenz – Teil 2: Die Renaissance obsoleter Medien

Im ersten Teil des Artikels zum Thema Obsoleszenz wurden Strategien der Erhaltung von Werken auf obsoleten Medien dargestellt. Obsoleszenz bezeichnet den Umstand, dass ein Gerät oder ein Produkt so altert, dass es neuen Ansprüchen seiner Umgebung nicht mehr genügt und damit überflüssig wird.
In diesem zweiten Teil geht es nun um Gegenbewegungen, die bewusst obsolete Techniken einsetzen. Getragen wird diese Gegenbewegung von Gruppen und Institutionen, aber auch von einzelnen Aktivisten und Künstlern, von denen hier einige vorgestellt werden. Dies ist ein Panorama-Schwenk über eine vielfältige Landschaft mit Beispielen und Links, die zum Ausschweifen einladen sollen, zu Themen wie Media Zombies, Circuit Bending, DIY, Archäologie und zeitgenössische Kunst.

 

Analog vs. digital

Die britische Filmemacherin und Künstlerin Tacita Dean meinte im Katalog zu ihrer Ausstellung „Analogue“ (Basel, 2006): „Analog, scheint mir, ist eine Beschreibung – eine Beschreibung für alles, was mir lieb ist (…) das Filmbild ist anders als das digitale Bild: es geht nicht nur um Emulsion vs. Pixel, oder Licht vs. Elektronik, sondern um etwas Tieferes – etwas, was mit Poesie zu tun hat (…) Ich sollte die digitale Welt nicht scheuen … aber für mich bietet sie einfach nicht die Mittel, um Poesie zu schaffen; weder atmet noch schwabbelt sie, sondern säubert unserer Gesellschaft, korrigiert sie und hinterlässt dann keine Spuren.“ („Analogue“, Exhibition Catalogue, Schaulager Basel 2006)
Als Tacita Dean einen Werkauftrag von der Tate Modern erhielt, plante sie einen 16mm-Film und war schockiert, dass es 2010 in Großbritannien kein Labor mehr gab, das Kopien herstellen kann. In einem kämpferischen Artikel im Guardian („Save celluloid, for art’s sake“, 22.02.2011) startete sie eine Kampagne zugunsten der Erhaltung von 16mm- und 35mm-Film und kritisierte insbesondere die Entscheidung ihres Labors, Soho Film Lab, nach der Übernahme durch die amerikanische Deluxe 16mm aufzugeben. Dean war diesbezüglich nicht erfolgreich. Ihre Arbeit FILM, die 2011 in der Tate Modern ausgestellt wurde, um so mehr. FILM wurde schließlich nicht mit 16mm, sondern auf 35mm gedreht und als Stummfilm auf einen 13 Meter hohen Monolith in der Turbinenhalle der Tate Modern projiziert. Für Tacita Dean war dies „zugleich ein Akt der Trauer und ein Argument für die Zukunft des Films“.

 

Do-it-yourself – künstlergeführte Filmlabore

Die Einschätzung von Tacita Dean, dass die Schließung analoger Filmlabore katastrophale Folgen für Künstler bedeuten würde, während gleichzeitig der Bedarf steigen würde, weil immer mehr Künstler mit analogem Filmmaterial arbeiten würden, war richtig. Nachdem fast überall auf der Welt die klassischen Filmlabore schlossen oder die Konversion zu digitalen Dienstleistungsunternehmen schafften, blieben nur noch künstlergeführte Labore übrig. Viele dieser Labore entstanden als kollektive Initiativen in den 90er Jahren als Reaktion auf die Einführung von Video in der Filmausbildung.
Heute gibt es weltweit etwa 30 solcher künstlergeführten Labore, die meisten von ihnen in Europa. Trotz großer Unterschiede bezüglich Ausstattung und vor allem bezüglich öffentlicher Förderung ist diesen Filmlaboren gemeinsam, dass Künstler und Filmemacher die Organisation ihrer Produktionsmittel selbst in die Hand nehmen. Das heißt, es handelt sich nicht um Einrichtungen, die eine Dienstleistung für andere erbringen, sondern um offene Werkstätten, in denen Filmemacher – nach einer Einführung und gegen kostendeckende Gebühren – ihre Filme selbst entwickeln oder kopieren. Dies ist selbstverständlich nicht jedermanns Sache, denn zum einen erfordert es das Erlernen des Handwerks und zum anderen die Anpassung an kollektive Dynamiken (… und manchmal auch an den Umgang mit ausgemachten Nerds;-).
Das vielleicht renommierteste künstlergeführte Labor ist „L’Abominable“ in Frankreich (wir berichteten im Mai 2011 über die Probleme des Labors wegen der Kündigung ihrer Räume), das personell eng mit der Pariser Experimentalfilmszene, wie u.a. mit Light Cone und Re:Voir, verbunden ist.
In Deutschland ist LaborBerlin e.V. neuerdings sehr aktiv. Der Verein betreibt aber kein Filmlabor im engeren Wortsinn. Vielmehr versteht sich LaborBerlin als ein Filmkollektiv, das für alle offen ist, die an selbst organisierten Initiativen und speziell an analoger Filmpraxis, mit einem experimentellen Ansatz und Do It Yourself-Charakter, interessiert sind.
„Von Künstlern selbst geleitete Filmlabos stehen für eine neue Praxis der kollektiven Organisation von Produktionsmitteln für Künstler und Filmemacher, die heutzutage mit Film arbeiten. 
Sie bilden eine experimentelle Basis für Film (über alle Genregrenzen hinaus) in einer Zeit, in der die Industrie sich mehr und mehr von analogem Film zu lösen versucht“, heißt es auf der Website von Filmlabs.org  – einem lockeren weltweiten Zusammenschluß gleichgesinnter Initiativen, der sich bei einem Treffen auf Einladung des Brüsseler Kinos Cinéma Nova zusammentat und seitdem einen lebhaften Austausch auf Festivals und Konferenzen pflegt.

 

„Alle Macht für Super 8“

Auf dem Amateurfilmmarkt spielt der Super-8-Film überhaupt keine wirtschaftliche Rolle mehr. Es ist schwierig geworden Super-8-Kassetten zu finden und die Filme entwickeln zu lassen. Insbesondere in Deutschland und den Niederlanden gibt es aber noch eine kleine engagierte Super-8-Szene. Ohne diese Szene und einigen wenigen Aktivisten, die sich Filmlabor-Kenntnisse meist selbst angeeignet haben und diese weitergeben, wäre Super 8 heute mit Sicherheit nicht nur obsolet, sondern vollkommen verschwunden.
Eines dieser ‚Epizentren‘ ist das Super8 Reversal Lab von Frank Bruinsma in Den Haag (NL). Bruinsma hatte früher bei Studio Een in Arnhem, das zuletzt von Karel Doing geführt wurde, ausgeholfen. Im Jahr 2000 übernahm er von dort einen Super-8-Kontaktkopierer und andere Geräte und bietet seitdem in seinem eigenen Filmlabor eine ganze Reihe von Diensten rund um den Super-8-Film an. Das fängt beim Verkauf von Filmkassetten und der Ausleihe von Kameras und Projektoren an und geht über Entwicklung von Super-8-Filmen bis vor kurzem noch zur Herstellung von Kopien. Leider musste Frank Bruinsma 2005 die Herstellung von Kopien aufgeben, weil es seitdem keinen Reversalfilm mehr gibt. Es gibt allerdings Alternativen, die man über die Linkseiten von Super 8 Reversal Lab  finden kann. Informationen zur Geschichte der Super-8-Labore in den Niederlanden von Pip Chodorov finden sich hier auf dem stillgelegten Portal Cineastes.net .


Analoger Retro-Look in digitalen Medien

Das populärste Produkt der Firma Digieffects ist ein Plug-in für digitale Schnitt- und Bildbearbeitungsprogramme mit dem bezeichnenden Namen Damage. Die einzige Aufgabe von Damage – derzeit in Version 2.5 zu einem reduzierten Preis erhältlich – ist die Simulation von Signalstörungen und Bildfehlern. Das Motto von Damage lautet „Glitch, Grain, Grit – non-destructively destroy your perfect footage“! Da wir keine Werbung machen wollen: Software, aber auch Tutorials wie man digitale Filme im Retrolook erscheinen lässt sind Legion. Es gibt sie für jedes Bildbearbeitungsprogramm und für jede Computerplattform (s.a. Links unten).
Ursprünglich entwickelt, um in Filmproduktionen mit historischen Themen oder Settings die Bildqualität alter Medien glaubhaft darstellen zu können, sind die künstlichen analogen Glitches, die man mit Damage ins perfekte, aber auch immer flach wirkende digitale Filmbild einarbeiten kann, längst zum trendigen Kult geworden. Nicht nur Filmstudenten, auch seriöse Fernsehmagazine, wie etwa im deutschsprachigen Raum Kulturzeit von 3sat (ORF/SRG/ZDF), kommen ohne dekorative Filmkratzer oder virtuellen Staub im Projektorfenster nicht mehr aus. Es liegt wohl nicht nur daran, dass viele der Kulturzeit-Autoren eine Super-8-Biografie haben, sondern auch daran, dass der Look analoger Medien außerordentlich populär ist.
Die Imitation kinematographischer Artefakte als digitale Filter ist geradezu anachronistisch vor dem Hintergrund, dass umgekehrt Filmarchivare und Software-Entwickler damit beschäftigt sind Algorithmen zu entwickeln, die analoge Artefakte und Bildfehler bei der digitalen Restauration alter Filme beseitigen können. Mit der gleichen Methode, die es erlaubt etwa Laufstreifen auf analogen Filmen digital zu retouchieren, werden virtuelle Laufstreifen auf digitale Bilder aufgetragen.
Digitale Effekte sind ursprünglich entwickelt wurden, um Fehler bei der Aufnahme auszubügeln – zum Beispiel störende Telefonleitungen oder Antennen auf ‚historischen‘ Hausdächern, oder, Bildelemente nachträglich einzufügen, um am Set Geld zu sparen – wie etwa virtuelle Vogelschwärme oder Sintfluten. Im klassischen Spielfilm versucht man bis heute diese Effekte zu verstecken beziehungsweise so perfekt auszuführen, dass sie unentdeckt bleiben. Dies ist eine Täuschung nach dem Prinzip „we fix it in post-production“. Ziel ist die Aufrechterhaltung der Illusion analoger Medien, die auf dem Prinzip der fotografischen Abbildung basiert. Umgekehrt ist der deutlich sichtbar implementierte analoge Effekt in digitalen Medien meist nur Dekoration (und überflüssig, wenn nicht bedeutungstragend). Beide Strategien arbeiten letztlich nach dem Prinzip eines analogen Palimpsests, statt die spezifische Charakteristik digitaler Medien anzuerkennen und künstlerisch sinnvoll zu nutzen, nämlich in dem Sinne, dass es sich bei den Bestandteilen digitaler Bilder lediglich um Ebenen/Layer ein und desselben Datenstroms handelt.

 

Dead Media werden populär

Nicht nur der Look alter analoger Medien, sondern auch die viel schneller alternden „Neuen Medien“ erfreuen sich einer wachsenden Beliebtheit. Hier ein Beispiel: Um die Ästhetik obsoleter Medien zu erzielen, dreht das Filmemacher- und Musik-Duo UZi (Los Angeles) ihre Clips über die Musikszene im Stadtteil Fairfax gleich mit einer alten JVC Super-VHS-Kamera. An Vorbildern wie Andy Warhol’s Screen Tests und den Schnappschüssen in Harry Potter Filmen orientiert nutzen sie die technischen Mängel, um ihren Porträts einen naiven und ungeschminkten Charakter zu verleihen. Die bewusst eingesetzten Glitches übertragen sich auf die porträtierten Personen, die sich in Obsoleszenz gefangen nach einer Vergangenheit vor der gegenwärtigen hyper-beschleunigten Kultur zu sehnen scheinen.
URL: http://vimeo.com/user8575676
Das Bedürfnis nach Retro-Look und Vintage-Artikeln zeigt sich auch auf Internetseiten oder in Zeitschriften, die ausschließlich der Beschaffung oder dem Nachbau veralteter Geräte gewidmet sind. Diese Entwicklung treibt manchmal seltsame Blüten: Auf der Website Retro Thing wurde im Dezember 2013 ein Gadget vorgestellt, das wie eine Kodak Super-8-Kassette aussieht, aber eine komplette digitale Kamera enthält. Das vom Erfinder Hayes Urban unter dem Label Nolab Digital Super 8 entwickelte Projekt ermöglicht es alte Super-8-Kameras als Gehäuse weiter zu verwenden: man legt anstelle einer Filmkassette das Nolab ein und kann dann in einer Auflösung von 720p im Bildseitenverhältnis von 4:3 durch das Bildfenster und die Optik der Super-8-Kamera digital drehen. Nolab hat sogar einen Schalter, mit dem man den Filmlook zwischen Kodachrome und Extachrome wechseln kann! URL: http://hayesurban.com/current-projects/2012/3/14/digital-super-8.html
In eine ähnliche Kategorie – man könnte sie vielleicht „Follies“ nennen –  fällt eine iPhone App, die Bildqualitäten eines Super-8-Film imitiert. Die „iSupr8“ genannte Anwendung verwandelt Aufnahmen mit iPhone automatisch in ein 4:3 Bildformat mit der typischen Super-8-Gradation, grobem Filmkorn und dem entsprechenden Farbraum. Zu den Features gehören unter anderem einstellbare Kratzer, Staub, Vignette und ‚Film Burn‘! URL: http://share.isupr8.com
Aber zurück zum Thema …

 

Medien-Archäologie

Wie wohl in keiner historischen Periode zuvor wurden in Folge der Digitalisierung so schnell und so viele Medien obsolet. Vielleicht überraschend ist, dass Obsoleszenz nicht nur die alten, analogen Medien betraf, sondern mit großer Wucht und Geschwindigkeit auch die gerade erst eingeführten „Neuen Medien“. Kaum waren diese auf dem Markt, folgte schon die Einführung des neuen Begriffs „Media Archaeology“ für einen Forschungszweig der Mediengeschichte und der Medientheorie. Nach Jussi Parikka, der 2011 mit Erkki Huhtamo das Buch „Media Archaeolgy“ herausgab, befasst sich diese nicht nur mit der Erforschung von alternativen Wurzeln, vergessenen Pfaden und vernachlässigten Maschinen in der Mediengeschichte.
Medien-Archäologie befasst sich auch mit den praktischen Umnutzungen in der medialen und künstlerischen Praxis, dem Do-it-yourself und dem Circuit Bending, das obsolete Techniken recycled und remixed. Interesseleitend sind dabei die ästhetischen und politisch ökonomischen Bedingungen technischer Medien (Quelle: http://jussiparikka.net/page/5/).

 

Recycling: ein analoges Medium als Palimpsest für digitale Medien

Eine kuriose Verbindung zwischen analogem Film und digitalen Rechnern stellte der deutsche Computer-Pionier Konrad Zuse (1910 – 1995) her. Zu einer Zeit als analoger Film natürlich noch längst nicht obsolet war, fand Zuse für seine erste Rechenmaschine Z1 und für den Z3, den weltweit ersten frei programmierbaren programmgesteuerten binären Rechenautomat (= Computer) Verwendung für 35mm-Filme! Die Filme, die ihm sein Onkel aus den Mülltonnen der Ufa-Studios mitbrachte, dienten Zuse als Lochkartenstreifen. Zuse hat die Steuerbefehle für seine Rechner, wie ein Filmvorführer die Überblendzeichen, in die Zelluloid-Filme handgestanzt und im 5-Bit-Code von der Maschine auslesen lassen.
Zuse’s Lochkartenfilme könnte man als frühes Beispiel für einen Found-Footage-Film bezeichnen. Zugleich sind sie Palimpseste, also Rohstoff-Träger von Texten, die für neue ‚Texte‘ wieder verwendet werden. Der Filmemacher Caspar Stracke (Bonn/New York) hat 2002 diesen Zusammenhang als fiktive Medienarchäologie in einer Installation für die Ausstellung Future Cinema im ZKM Karlsruhe z2 [zuse strip] und seinen gleichnamigen Kurzfilm 2003 verarbeitet. Den Hinweis erhielt er aus einem Katalogartikel von Lev Manovich („Cinema by Numbers“, 1999) über die Ausstellung „Contemporary ASCII“ mit Arbeiten von Vuk Ćosić.

 

Vorgetäuschte Medienarchäologie

Vuk Ćosić’s neueste Arbeit „Cuneiform ASCII Movie“ kann man als fiktives Palimpsest verstehen. Ćosić replizierte mit einem 3-Drucker Tontafeln mit sumerischer Keilschrift, auf denen die Schriftzeichen so angeordnet sind, dass sie ein Rasterbild ergeben (aus dem Film „Deep Throat“). Ćosić stellte diese und andere Arbeiten im Mai 2014 in einer Präsentation bei den Kurzfilmtagen Oberhausen vor.
Ćosić’s Arbeit verweist zugleich auch auf die Haltbarkeit von Zeichen, die auf analogen Medien eingeschrieben sind – im Unterschied zur eingebauten Vergesslichkeit digitaler Medien. Die ältesten erhaltenen Texttafeln mit Keilschrift, von denen knapp 2 Millionen ausgegraben wurden, sind bis zu 5.000 Jahre. Ihr Text oder Inhalt kann dennoch entschlüsselt werden, während die Inhalte auf digitalen Trägern keine dauerhafte materielle Spur hinterlassen.
VinylVideo™ des österreichischen Künstlers Gebhard Sengmüller, der unter anderem bei der Ars Electronica und der Venice Biennale ausgestellt wurde, ist ein Beispiel für Umnutzung und das Schließen einer Lücke in der Mediengeschichte. Sengmüller hat ein Verfahren entwickelt, mit dem er Schwarz-Weiß-Filme auf Vinyl-Platten aufnehmen kann. Die Bildplatten können von der Nadel eines herkömmlichen Plattenspielers abgetastet und auf einem Fernsehgerät betrachtet werden. Die Filme sind wegen der geringen Bandbreite stark komprimiert und es können je Plattenseite nur 12 Minuten aufgezeichnet werden. Das besondere an VinylVideo und ein Alleinstellungsmerkmal ist jedoch, dass damit echtes, manuelles Video Scratching möglich ist!
Inzwischen sind 25 VinylVideos mit Arbeiten anderer Künstler erschienen. Die Platten können bei der Postmasters Gallery (New York) zusammen mit einem Homekit, das zwischen Plattenspieler und Fernsehgerät geschaltet werden muss, bestellt werden. URL: http://www.vinylvideo.com/



Zombie Media – Circuit Bending

Noch einen Schritt weiter in der Verwendung obsoleter Medien gehen Künstler, die defekte und veraltete Medien als Materialquelle und Rohstoff zweckentfremdet für neue Arbeiten einsetzen. Diese Praxis wird Circuit Bending genannt. Laut Garnet Hertz und Jussi Parikka ist Circuit Bending „das kreative Kurzschließen von Consumer-Elektronik zum Zweck der Herstellung neuartiger Ton- und Bildinhalte“ (Zombia Media: Circuit Bending Media Archeology into an Art Method, Leonardo No. 5, 2012).
Ein wichtiger Aspekt dabei ist das so genannte Blackboxing der Elektronikindustrie, das heißt der zunehmenden Praxis Geräte und ihr Gehäuse so zu konzipieren, dass man sie nicht öffnen kann oder der Inhalt nicht zu durchschauen ist – eine Praxis, die eine Grenze zur unethischen geplanten Obsoleszenz überschreitet, insofern es unmöglich gemacht wird solche Black Boxes zu warten oder zu reparieren.
Ein Beispiel für Circuit Bending sind die Arbeiten des Künstlerduos LoVid. In ihren interdisziplinären Arbeiten untersucht LoVid unsichtbare und immaterielle Aspekte unserer zeitgenössischen Gesellschaft, insbesondere in Kommunikationssystem und an Mensch/Maschine-Schnittstellen. Für eine ihrer Arbeiten, „486 Shorts“ (2006), wurden Verbindungen in der Videokarte eines archaischen 486 Computers kurzgeschlossen und das Signal aufgezeichnet und zu 486 kurzen Clips geschnitten.   URL: http://www.lovid.org/works/486_shorts/



Zombie Media – Umnutzung

Ein Beispiel für Umnutzung sind die „Floppy Films“ von Florian Cramer, der lange Spielfilme transkodiert und sie auf eine klassische Floppy Disk mit 1.44 MB Speicherkapazität kopiert. Darunter unter anderem „Naked Lunch“ und „Slumdog Millionaire“ als GIF-Animation mit einer Auflösung von 7 x 3 Pixel und einer Bildgeschwindigkeit von 8 Bildern pro Sekunde. Eine Auswahl der Filme kann man als Image-Datei und im mp4-Format von Florian Cramers Internetseite herunterladen: http://floppyfilms.pleintekst.nl/
Auf der Transmediale 2012 leitete Florian Cramer einen Workshop zur Herstellung von Floppy Films. Manche Arbeiten, meinte Florian Cramer, seien gelungen und hätten eine Anmutung strukturalistischer Experimentalfilme aus den 60er und 70er Jahren gehabt. Letztlich scheiterte der Workshop übrigens an der Geduld der Teilnehmer und man beschloss stattdessen sich am letzten Workshop-Tag mit der Handentwicklung von Super-8-Filmen zu beschäftigen (unter der Leitung von Dagie Brundert).

 

Digitaler Remix als künstlerisch-mediale Archäologie

Die britische Künstlerin Vicki Bennett aka People Like US (DJ, Multimedia, Animationsfilm) rekontextualisiert ‚gefundene Medien‘ in vielschichtigen audio-visuellen Collagen. In ihrem Kurzfilm „We Edit Life“ (2002) geht es um die Geschichte der elektronischen Musik und die Behauptung der Obsoleszenz des Menschen in der digitalen Zukunft. Sie thematisiert dabei wie Mediengeschichte mit digitaler Technik manipuliert werden kann. Der Film entstand als Auftragsarbeit für das International Festival of Digital Art in Sheffield „Lovebytes“ und verwendet ausschließlich digitalisierte Dokumentar-, Industrie- und Kultur-Filme aus dem Prelinger Archive. Anders als in herkömmlichen analogen Found-Footage-Filmen ist „We Edit Life“ eine Bild-in-Bild-Collage, in der das verwendete Material auf mehreren Layern zu einem neuen hypermedialen Ganzen remixed wird. Das historische Footage kann wie aus einer Datenbank vom Betrachter rückverfolgt werden. Unter diesem Aspekt sehr interessant ist die Analyse des Films von Danny Snelson . Auf der Website von Vicki Bennett gibt es einen Link zum Download von „We Edit Life“.
Der kreative Umgang mit obsoleten Medien ist nicht nur ein Feld für eine neue Do-it-yourself-Bewegung, die Freiräume erkämpfen um sich Techniken der soziokulturellen Produktion wiederanzueignen. Die Erfahrung, dass „neue Medien“ ganz schnell archaisch wurden, hat generell dazu geführt, dass Themen wie Umnutzung, Remixing und Sampling wichtiger wurden als der Hype und das Feiern immer neuer technologischer Fortschritte.
Bezüglich des Kinos bewirkt die Beschäftigung mit Obsoleszenz möglicherweise sogar eine Wiedererfindung und ein neues Selbstbewußtsein seiner Möglichkeiten in einer zweifellos digitalen Zukunft.
In der zeitgenössischen Kunst hat diese Entwicklung bereits dazu geführt, dass obsolete Techniken oder Gegenstände in Kunstwerke integriert werden, ja sogar ihre Nutzung selbst zur Kunst wurden.

 


Links
zu Tacita Dean
FILM (Tate Modern): http://www.tate.org.uk/context-comment/video/tacita-dean-film
„Save celluloid, for art’s sake“: http://www.theguardian.com/artanddesign/2011/feb/22/tacita-dean-16mm-film
Guardian Kritik FILM: http://www.theguardian.com/artanddesign/2011/oct/10/tacita-dean-film-review
zu Filmlaboren
Artist Film Workshop (AUS): http://artistfilmworkshop.org/
Filmlabs.org (B): http://www.filmlabs.org/
L’Abominable (F):  http://www.l-abominable.org
LaborBerlin (D): https://laborberlin.wordpress.com
Super8 Reversal lab: http://www.super8.nl
zu Netzwerken
Analogous Projects: http://analogous.squarespace.com/
Preservation Insanity: http://preservationinsanity.blogspot.de/
zu digitale Effekte
Digieffects: http://www.digieffects.com/
Filmlooks: http://filmlooks.com/introducing-filmlooks-com-beta-version/
Mister Retro: http://www.misterretro.com/filters
Naldz Graphics (After Effects): http://naldzgraphics.net/resources/vintage-after-effects-templates/
Magic Vintage Effects (sound): http://pro.magix.com/en/audio-plugins/vintage-effects-suite/overview.1575.html
Pixel Film Studios (Pro16mm): http://store.pixelfilmstudios.com/plugin/plugin-pro16mm
Pixel Film Studios (vintage): http://store.pixelfilmstudios.com/plugin/provintage-plugin
Pixelan (film effects): http://www.pixelan.com/movie-maker/film-effects-pack-e6.htm
Scratchcam: http://www.scratchcam.com/
The Internet Archive Software Collection (vintage & historical): https://archive.org/details/software
zu Zuse
Zuse Familie: http://www.horst-zuse.homepage.t-online.de/Konrad_Zuse_index_english_html/konrad_zuse.html
Caspar Stracke: http://www.videokasbah.net/zuse.html
zu Vuk Ćosić
Slideshare: http://www.slideshare.net/Vukc?utm_campaign=profiletracking&utm_medium=sssite&utm_source=ssslideview
Ljudmila.org: http://www.ljudmila.org/
zu Rettung des analogen Films
Save Film: http://www.savefilm.org/
Filmerbe in Gefahr: http://www.filmerbe-in-gefahr.de
Restaumedia (Andreas Weisser): http://www.restaumedia.de/index.html
Guggenheim Variable Media Initiative: http://www.guggenheim.org/new-york/collections/conservation/conservation-projects/variable-media
zu Theorie und Forschung
Art Contemporain Obsolescence technologique: http://obsolescence.hypotheses.org/
Lev Manovich: http://manovich.net/
Machinology (Jussi Parikka): http://jussiparikka.net/
Media Archaeology Lab: http://mediaarchaeologylab.com/
Variable Media Network: http://www.variablemedia.net/
1Fußnote: siehe auch Matilde Nardelli, „Moving Pictures: Cinema and Its Obsolescence“, The Journal of Visual Culture, 2009

 

Original Page

1 Trackback