The reel thing – Filmlabore zwischen Industrie und Kunst

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Die alten Éclaire-Werke in Epinais-sûr Seine werden mit der Nutzung durch l’Abominable wieder zu neuen Leben erweckt © Foto Nora Molitor

Sie ist eine Welt für sich, die Welt der Filmlabs – insbesondere, wenn damit die ‚artist-run‘ oder self-run’ (also selbstverwaltete) Filmlabore gemeint sind und nicht etwa industrielle oder kommerzielle Filmkopierwerke. Diese grundlegende Unterscheidung ist heute nicht mehr selbstverständlich und trotz aller Unterschiede innerhalb der von Künstler:innen betriebenen Labore, dennoch wesentlich. Die Grundidee warum man zusammenkommt – zum Filmemachen oder um eine Dienstleistung zu verkaufen – hat Einfluss auf die Herangehensweise. Klassisch bestand dieser Widerspruch zwischen Kopierwerk und Filmkünstler:innen oder Produzent:innen, wie es Matthias Georgi in seinem Artikel zu der Geschichte der Berliner Geyer-Werke formuliert: „Die Verquickung des theatermäßigen Filmbetriebes mit seinem künstlerischen oder auch nur bohèmehafte Niveau ist dem streng industriellen und technischen Schaffen bei der Filmfertigbearbeitung in höchstem Grade abträglich.“[1] Heute, in einer Zeit, in der die industrielle Herstellung von Analogfilm weitestgehend vom Digitalen abgelöst wurde, andererseits innerhalb der (digitalen) Filmindustrie das Analoge und die Labore einen Hype erleben, kommen innerhalb der Laborwelt zwei Prinzipien zusammen, die scheinbar im Widerspruch stehen. Technisches Wissen und Standards einerseits, künstlerische Freiheit und Experimentieren andererseits.

 

Entstehen der Filmlabore

Das Entstehen der Filmlabore ist mit der Geschichte der Filmindustrie und den Kopierwerken verbunden. In den 1960ern und 1970ern gründeten sich zahlreiche gemeinnützige Initiativen, die von Filmemacher:innen selbst mehr oder weniger verwaltet und betrieben wurden (wie beispielsweise die Filmmaker’s Coop in London, das Collectif Jeune Cinéma in Paris, oder die Hamburg Filmmacher Cooperative)  und die ‚andere‘ Filme machen, aber auch zeigen wollten. Daraus entwickelten sich entweder Strukturen, die nach und nach ihre Aktivitäten erweitert und professionalisiert haben – und zumindest in Europa häufig von Stadt oder Land gefördert werden (z.B. das Arsenal – Institut für Film und Videokunst). Oder es haben sich Kinos sowie Verleiher:innen, die eng mit den Kooperativen zusammenarbeiten, von den ursprünglichen Initiativen abgespalten und neu gegründet (wie beispielsweise lightcone in Paris oder LUX in London). Diese bringen auch heute noch ‚andere‘, d.h. künstlerisch-abstrakte, experimentelle, strukturelle, aktivistische (Kurz)filme an die Öffentlichkeit und schaffen teilweise auch Räume für andere Präsentationsformen als das Kino, wie z.B. Film in Verbindung mit Körper- und Performancekunst, aber auch für filmische Installationen. Während die professionalisierten Institutionen – allein schon wegen der weitreichenden Veränderungen, die das digitale Kino bzw. der digitale Film mitbrachten und immer noch bringen – analoge filmische Arbeiten zwar teilweise noch auswerten und archivarisch bewahren, findet die Herstellung analogen oder auch photochemischen Films heute maßgeblich in  den Laboren statt. Nur wenige junge Filmemacher:innen bzw. Film:künstler:innen entwickeln ihre Arbeiten, außerhalb von den Labs, noch in Handarbeit, wie beispielsweise Kim Ekberg, dessen Film 2GETHER im Juni 2022 im Wettbewerb des Internationalen Kurzfilmfestival Hamburg lief.

 

Filmplakat TOGETHER (Kim Ekberg) © Foto Nora Molitor

 

Believe the Hype…

Wenn auch mitunter weltweit berühmte Liebhaber:innen sich die Rettung des Analogfilm auf die Fahnen schreiben, wie beispielsweise Martin Scorsese, Tom Tykwer oder Tom Cruise – der im Film darauf besteht, sich auf 35mm ablichten zu lassen – so sind in der Filmindustrie heute nostalgische digitale Referenzen häufiger als die reale Arbeit mit Filmmaterial. Seit ungefähr den 90er Jahren entstehen allerdings immer mehr Labore, die die (Post-)Produktionsmittel aus den ehemaligen Kopierwerken übernehmen – manchmal aus dritter Hand und auch von (Film)Universitäten und anderen Institutionen, die ihre Maschinen aufgrund der Digitalisierung und/oder aus Platzgründen ausrangieren. Die Handentwicklungs-Utensilien der Labore von Foto und Film wurden und werden durch Sichtungs-, Schneide- und Tricktische, Projektoren, manchmal auch Entwicklungsmaschinen oder Kameras erweitert. Die Hamburger Analogfilmwerke gründeten sich 2016 sogar eigens dafür, ein bestimmtes Gerät, nämlich die Filmentwicklungsmaschine Arribloc 400, von einer Universität, die sie ausrangiert hatte, zu ‚retten‘.

 

Installation im Open Space des Internationalen Kurzfilm Festival Hamburg / Künstlerkollektiv Lab Laba Laba (Indonesien) © Foto Nora Molitor

 

Überall auf der Welt entstehen Vereine, Firmen, Kollektive und damit eine Szene, die die Produktion von fotochemischem Film aufrechterhält und sich auch über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg vernetzt, austauscht und gegenseitig unterstützt. Die Anhänger:innen- und Mitgliedschaft der Labs besteht mittlerweile beileibe nicht mehr ausschließlich aus Menschen, die selbst noch mit der Analogtechnik aufgewachsen ist, es finden sich mehr und mehr begeisterte Millenials und auch Workshops mit Kindern stoßen auf reges Interesse. Die Hauptschwierigkeiten der Nische, die sich um Produktion und Distribution von ‚anderem‘ Analogfilm gebildet hat, sind einerseits das (fast) ausschließlich industriell hergestellte Filmmaterial und andererseits die Expertise rund um die Spezifika verschiedener Materialien und Geräte.

 

Die Ausstattung und damit Schwerpunkte mancher Labore hängen – wie die künstlerische Praxis von Einzelkünstler:innen – auch von dem spezifischen Material ab, das zu einer bestimmten Zeit oder für einen bestimmten Zweck eingesetzt wurde. Eine grobe Unterteilung ist die der Filmformate oder Bildgröße: War in Europa bis in die 2000er Jahre der 35mm Film im Kino Standard, so galt (und gilt) der 70mm Film als besonders kostspielig und selten. Das zu seiner Zeit für Amateure interessante Super 8 und auch das für Fernsehen oder in Naturreportagen häufig eingesetzte 16mm Material – das dieses Jahr sein 100jähriges Jubiläum feiert –, hatte im Kino eigentlich nie seinen Bestimmungsort. Sicherlich auch das ein Grund dafür, dass in der Analogfilm-Community Film- und Kino zwar immer wieder[2], aber nicht unbedingt zusammenkommen. Einerseits zeigen Kunstgalerien mehr und mehr filmische Arbeiten und es haben sich Festivals und Räume gehalten oder sogar entwickelt, die filmische Arbeiten aus den Laboren zeigen, auch solche, die über eine klassische Filmvorführung hinaus gehen. Abgesehen von der Berlinale Sektion ‚Forum Expanded‘, den Kurzfilmtagen Oberhausen oder dem Internationalen Filmfestival Rotterdam, hat auch das Kurzfilmfestival Hamburg 2022 das eigentliche Filmprogramm nicht nur durch die eher informellen Vorführungen im Lampenlager und Archivfilmpräsentationen, sondern auch durch eine Ausstellung erweitert, in der analoge Experimente nicht fehlen durften. Zudem haben die Analogfilmwerke während des Festivals einen Workshop mit Ektachrome Super 8 Farbumkehrfilm angeboten, Handentwicklung inklusive.

 

… lies die Bedienungsanleitung

Mit dem ‚Hype‘ auf das Analoge in all seinen Darstellungsformen bei gleichzeitigem Mangel an Fachkräften – wenn es die abgesehen von den Urheber:innen der Abeiten selbst je gab – werden allerdings manchmal in Kontexten von großen Ausstellungen oder Festivals – selbst banale Dinge wie die Lichtverhältnisse vergessen und die Filmemacher:innen oder Künstler:innen tun gut daran, ihre Rolle als Handwerker:in, Physiker:in oder Alchimist:in nicht zu verstecken und die Projection Instructions[3] – im Zweifelsfall auch die Projektion selbst – direkt zu übernehmen. Die Filmvorführung wird zum performativen Akt. So beispielsweise in der Performance the eyes empty and the pupils burning with rage and desire von Luis Macías, in der er – ganz ohne aufgenommenes Bild, Ton oder Erzählung – mit zwei umgebauten 16mm Projektoren, Filmmaterial und Emulsion improvisiert. Letztere werden dabei immer wieder der von der Projektorlampe erzeugten Hitze ausgesetzt, es ist nicht das gefilmte Bild, sondern die physische Manipulation und chemische Reaktion des Materials, die im Zentrum der Vorführung stehen. Und es ist tatsächlich magisch, wenn das – so wie 2019 beim IFFR oder im August 2022 bei der Summer School des Baltic Analog Lab – live dargeboten wird.

Workshop Luis Macías bei der BAL Summer School (Cesis) © Foto Nora Molitor

Weil man einerseits die Konzentration des Vorführers in der Stille des Raums spürt – die ausschließlich von den Projektorgeräuschen durchbrochen wird – und vielleicht auch den Geruch von schmelzendem Azetatfilm wahrnimmt, anders als Zelluloid ist der  nicht selbstentflammbar. Die Beispiele für Experimente und Manipulationen mit photochemischem Filmmaterial sind zahlreich. Sie inspirierten u.a. Mika Taanilas Reihe Film without Film, in denen der Filmemacher und Kurator noch einen Schritt weitergeht und u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 2014 bis 2016 zahlreiche Arbeiten zeigte, die ohne Kamera und Filmmaterial über Film als Prinzip / Medium nachdenken und diese Gedanken in Aktion übersetzen. Gesammelt werden auch einige dieser Arbeiten auf filmlabs.org, die Sammlung ist selbstverständlich nicht komplett und es wird weiter über Darstellungsformen und alternative Vertriebswege, insbesondere für die Arbeiten, die über eine einfache Filmvorführung hinaus gehen, beraten.

Kollektive Experimente

So zum Beispiel bei der Summer School in Cēsis, die im August 2022 vom Baltic Analogue Lab ausgerichtet wurde. Quasi als Auftakt des EU geförderten Projekts SPECTRAL, das in den nächsten vier Jahren – unter anderem mit den Kurzfilmtagen in Oberhausen und dem European Media Arts Festival Kooperationen – sowie Residencies, Workshops, Veranstaltungen, Treffen und Recherchen ausrichtet. Gestemmt wird das nicht nur vom Baltic Analog Lab (Riga) sondern außerdem von LAIA / Laboratório da Torre (Porto), dem Crater Lab (Barcelona), Filmwerkplaats (Rotterdam), Mire (Nantes) und Labor Berlin. Die letzten drei haben sich schon 2014-2016 in ein gemeinsames Abenteuer begeben, ging es bei ‚Re-inventing the moving image‘ um die Kultur photochemischen Films zu ‚bewahren‘, stehen bei SPECTRAL die ‚Expanded Cinematic Arts‘ im Vordergrund. Dabei sollen nicht nur Wissen und Technik für die Herstellung analoger Bewegtbilder weitergegeben, sondern auch Material, Abspielgeräte und -Orte in ihrem Kontext betrachtet werden. Die Geschichte, aber auch die Möglichkeiten des analogen Bewegtbildes hängen trotz der Initiative der Labs, etwas in Gewahrsam zu nehmen, das weltweit viele Jahre lang von der Industrie vernachlässigt wurde, immer noch mit der globalen sowie jeweils nationalen Filmindustrie zusammen. Zwar gibt es auch öffentliche Stellungsnahmen und Lobby für den Analogfilm von Seiten prominenter Arthouse Vertreter:innen, wie z.B. die u.a. von der Künstlerin Tacita Dean ins Leben gerufene Aktion savefilm.org, allerdings reagieren Hersteller und Dienstleister:innen weiterhin nur dort, wo es sich wirtschaftlich lohnt, unvermittelt und wenig weitsichtig auf die Nachfrage. Es geht auch um die Produktion von Filmmaterial an sich, die – selbst wenn es wenige weitere Unternehmen gibt – quasi dem Monopol von Kodak untersteht. Und bei aller Liebe zu analogen Film- und Vorführtechniken gibt es auch Grenzen in den DIY-Laboren. So wurde das Herstellen von Emulsion bzw. unbelichtetem Rohfilm, dem Esther Urlus von Filmwerkplaats einige Zeit und Versuche gewidmet hat, weitestgehend wieder eingestellt. In Cēsis konnte darüber beraten werden, ob es sich womöglich lohne, Kodak (oder andere Hersteller:innen) als Konsortium anzuschreiben, um das Filmmaterial zu erschwinglicheren Preisen zu bekommen oder auch ein Rezept für Emulsionen. Auch wurden die Reparatur und der (Um)bau von Kontaktkopierern, Projektoren, Kameras sowie der 3D Druck von Spulen besprochen, gemeinsame Entscheidungen zu manchen Schritten dauern in den Zusammenhängen meist etwas länger. Die Summer School diente allerdings tatsächlich nicht nur dem theoretischen Austausch, einige versuchte und gelungene Experimente wurden gleich vor Ort umgesetzt. Ähnlich der Film Farm Tradition[4] fand das Treffen nicht in der Großstadt sondern in einem großen Herrenhaus mit Park auf dem Land statt, in dem eine Woche lang insgesamt fast 50 Teilnehmer:innen aus der weltweiten Labor-Szene zusammenkamen, deren Adepten längst nicht nur aus offiziellen Mitgliedern der ‚artist-run‘ Labs, sondern auch Kurator:innen, Archivar:innen sowie Künstler:innen und Wissenschaftler:innen aus anderen Disziplinen zählen.

Workshop Juan David Gonzáles Monroy, Shutter-Installation © Foto Nora Molitor

 

Ergebnisse waren u.a. ein zur Kamera umgebauter 16mm Filmprojektor, Shutter-Installationen, die aus der Landschaft Bewegtbilder machten, Phytogramme (aus mit Pflanzen entwickeltem 16mm Film), Diaprojektionen sowie field recordings – Zwischendurch außerdem Vorträge, Projektbesprechungen und Vorführungen von Arbeiten, die außerhalb der Summer School entstanden sind – also ein intensives einander Kennenlernen über praktische Arbeit(en). Abgesehen von den europäischen Laboren, waren Künstler:innen aus den U.S.A., Kanada, Mexiko und Indien vor Ort. Schnell wurde deutlich: Wenn es auch einerseits manchmal gern ‚nerdy‘ Einzelexperimente sind, die zu wichtigen Entdeckungen führen und es mittlerweile einige Webseiten und Wikis gibt, über die sich die Laborwelt austauscht, die physische Zusammenkunft und das gemeinsame ‚Basteln‘ ist unabdingbar.

 

Voneinander lernen – Organisationswege und Formen

Das wird auch im Gespräch mit Arne Hector deutlich, der mit Minze Tummescheidt nicht nur cinéma copains gegründet hat, sondern auch bei LaborBerlin von Anfang an mit dabei war. In der Analogwelt kommt man ohne analogen Kontakt nicht aus, zumal die Labore häufig als Kollektive organisiert sind. Nicht nur für ihn ist die Art der Organisation wesentlicher Bestandteil. Wie man das Teilen von Werkzeugen und Verantwortlichkeiten in möglichst hierarchiefreien Räumen hinbekommt, kann man mitunter in dem ersten Teil von IN ARBEIT sehen, wo der Austausch und das Von-Einander-Lernen mit Nicholas Rey oder besser gesagt L’Abominable in filmischer Form nachvollzogen wird. Während die Gründung des französischen ‚Vorbilds‘ auf die 70er zurück geht und das Labor offiziell seit 1996 existiert, ist die Initiative einiger Filmemacher:innen in Berlin auf das Jahr 2010 zurückzuführen. Die meisten Gründer:innen sind hier nicht mehr aktiv. Beide Labore haben mittlerweile mehrere Umzüge zu verzeichnen und – etwas anders als in Deutschland – haben in Paris die Einweisungen für die Bedienung mancher Maschinen schon mehrere Generationen durchlaufen. Neuerdings hat l’Abominable für den Ort, das es betreibt, le Navire Argo – gut eine Stunde vom Pariser ‚Stadtzentrum‘ entfernt – einen Erbpachtvertrag mit der Stadt Épinay-sur-Seine für einen großen Gebäudekomplex unterschrieben, um die ehemaligen Éclair Werke zu übernehmen, Umzug und Renovierung stehen teilweise noch aus. Standen dem Labor auch vorher in einer ehemaligen Schulkantine in Aubervilliers sehr große Räume zur Verfügung, in denen auch Entwicklungsmaschinen Platz fanden und sogar ein eigenes Kino eingebaut wurde, ist der neue Ort doch ein historischer – weil eben ein selbstverwaltetes, nicht kommerzielles Labor hier in die Räumlichkeiten des ehemaligen Filmkopierwerks zieht. Samt staatlicher und lokaler Unterstützung. Die Crowdfunding Aktion für Renovierung und Umzug läuft.

Lab Treffen bei der BAL Summer School (Cēsis) © Foto Nora Molitor

 

Nachdem cinéma copains mit und von L’Abominable gelernt haben, haben sie wiederum nicht nur in Berlin, sondern auch in Brasilien mit Luciana Mazeto und Vinicius Lopes gearbeitet, woraus dann der gemeinsame 16mm Film URBAN SOLUTIONS entstanden ist, der gerade durch die Festivals tourt. Sowieso haben sich an einigen Orten kollektive Labore erst durch die Besuche aus anderen Städten anregen lassen, die jüngste ‚Welle‘ ist fast immer aus der Initiative älterer Generationen von Analogfilmkünstler:innen hervorgegangen. In den Großstädten mischen sich zumindest die ‚Herkunftsländer‘ der Analogfilmkünstler:innen sowieso.

 

Internationale Workshops und Koproduktionen sind trotzdem eher selten und noch seltener finanziert, meist hängen sie von individuellem Engagement ab. Sie haben unter den Lockdowns und insbesondere den Reisebeschränkungen gelitten, können allerdings manchmal auch sehr schnell und v.a. unbürokratisch wieder aktiviert werden. Auch das hat die Summer School in Cēsis sehr eindrücklich bewiesen. Abgesehen von den europäischen Laboren und Gästen aus den USA, Kanada, Brasilien, Argentinien, Mexiko, war auch Karan Talwar anwesend, Mitbegründer der Harkat Studios. Karan und seine Mitstreiter:innen haben – wie der Name vermuten lässt – eine profitorientierte Filmproduktion in Mumbai übernommen, sie bedienen weiterhin auch Aufträge der Bollywood- und Werbeindustrie. Auf Grundlage der Produktion, kann sich das Kollektiv nicht nur eine eigene unabhängige Spielstätte leisten, in der sie seit 2017 ein 16mm Filmfestival veranstalten, sie können dort auch anderen nicht-kommerziellen Initiativen Platz bieten und einen Verein unterhalten, mit dem sie Analogworkshops und eine gemeinsame experimentelle Filmpraxis betreiben. Anders als die meisten europäischen Labore bekommt Harkat keine öffentliche Unterstützung. Abgesehen von alten Projektoren, Schneidetischen und Entwicklungsmaschinen, fanden sie in den Räumen, die sie übernommen haben, auch alte Filmrollen, die nicht selten zu Found Footage Filmen verarbeitet werden und subversive Kommentare auf staatliche oder zumindest im kommerziellen Film vorherrschende Inhalte, Erzählmuster oder gesellschaftliche Klischees darstellen, so zum Beispiel 16MM SELFIE. Die analogen Filme entstehen einerseits radikal unabhängig und in ‚Handarbeit‘ der einzelnen Künstler:innen, andererseits haben sie (nicht nur) ästhetisch häufig Gemeinsamkeiten, die durch Geräte und angewandte Techniken entstehen. Die gemeinsame Filmsprache wird in der Gruppe diskutiert und wirkt sich mitunter auf die Auswahl und Arbeit der Filmemacher:innen und Künstler:innen aus, die bei Harkat mittlerweile über längere Zeiträume in Residency-Programmen lernen und arbeiten. Anfangs, so erzählt Karan Talwar, wussten sie nichts von der internationalen Laborwelt, das kam eigentlich erst durch eine Kooperation mit LaborBerlin, Kodak und dem Goethe-Institut zustande. Dies eröffnete Harkat einen wachsenden Austausch mit europäischen Strukturen, die im analogen Experimentalfilm oder auch Expanded Cinema angesiedelt sind.

Über Bernd Lützeler, der wiederum Mitglied bei LaborBerlin ist, kommen auch die alten Schnipsel der Bollywood-Produktionen nach Europa und in den Rest der Welt, seit Jahren gibt es immer wieder Zusammenarbeit zwischen ihm und Mitgliedern von Harkat. „Harkat“ bedeutet so viel wie Handlung / Bewegung / Tat. Sein Film HOW TO BUILDT A HOUSE OUT WRECKAGE AND RAGS verweist nicht nur auf Holly- und Bollywood, sondern befragt auch die Vorgehensweise des Found Footage, aus dem Zusammenschnitt von mehr oder weniger ‚gefundenem‘ Material eine neue Bedeutung zu schaffen oder sogar die Filmgeschichte umzuschreiben. Einen Schritt weiter gehen hier Ojoboca (Anja Dornieden und Juan David Gonzales Monroy): In ihren Filmen und Performances behandeln sie (angeblich) gefundenes Material und Geschichte/n wie das eigene und umgekehrt. Um ihre, oder zumindest manche ihrer Arbeiten zu verstehen – was nicht zwingend eine Voraussetzung dafür ist, sie zu mögen – hilft es, wenn man sich in der Laborwelt etwas auskennt und sich gern mit physikalischen, philosophischen oder filmhistorischen Fragen beschäftigt, die auch vor-Kino-zeitliche Techniken nicht aussparen. Auch sie arbeiten immer wieder mit Mitgliedern anderer Labore oder Archive zusammen sowie zuletzt mit Andrew Kim in dem – auch gerade durch Festivals tourendem Film INSTANT LIFE, der streng genommen auch nur mit der einleitenden Geschichte, also dem Paratext, ‚Sinn‘ macht und schon deswegen performative Elemente birgt. Damit wiederum experimentieren auf ganz Art und Weise einige Mitglieder von Mire. Bei der Summer School in Cēsis konnten die Teilnehmer:innen, die trotz sehr fortgeschrittener Uhrzeit auf die Performance von Aurélie Percevault, bei der sie mit einem 16mm Projektor Bewegtbilder in selbstgemachte Feuer-Rauchschwaden projizierte und damit nicht nur einen 3D Effekt sondern auch geisterhafte Erscheinungen provozierte, auch bewundern wie die Rauchschwaden sich in die ca. 20 Meter entfernte Laserinstallation von Bernhard Rasinger verirrten, womit die mobile Leinwand in Form von Rauch – bevor sie sich auflöste – aufs Schönste die analogen Aufnahmen mit modernster Lichttechnik verbunden hat.

 

Abschlussabend / Laserinstallation BAL Summer School (Cēsis) © Foto Nora Molitor

 

Bleibt zu hoffen, dass nicht nur in der Laborwelt die Werkzeuge weiter geteilt – und falls wirklich obsolet – auch gegen neue getauscht werden. Weitere Experimente und was dabei herauskommt wird in den nächsten nicht nur in den zahlreichen Aktivitäten von SPECTRAL zu sehen sein. Alle digitalen Überschneidungen und Herausforderungen, die auch eine dem Analogen verhaftete Welt nicht ausspart zum Trotz: Wir sehen uns in der reel World.

 

 

 

[1] Karl Geyers Werk in: Film-Kurier 15.07.1920. zitiert in: Matthias Georgi: 100 Jahre für den Film – CinePostproduction 1911-2011: vom Kopierwerk zum digitalen Dienstleister. August-Dreesbach-Verlag München 2011. ISBN 978-3-940061-60-7

[2] In Europa meist in den öffentlich geförderten kommunalen Kinos oder im Rahmen von gemeinnützigen Initiativen wie den Kino Climates https://www.kino-climates.org, A Wall is a Screen https://www.awallisascreen.com oder Festivals wie den Dresdener Schmalfilmtagen

[3] Film von Morgan Fisher, 1976, USA, 16mm, b/w, sound, 4 min.

[4] Independent Imaging Retreat, das 1994 von Phil Hoffman in Kanada ins Leben gerufen wurde und Anleitung in der manuellen Filmentwicklung gibt