Film in der Kunstausstellung documenta – zur Eröffnung der documenta fifteen

documenta-Leitung ruangrupa: Ajeng Nurul Aini, Farid Rakun, Iswanto Hartono, Mirwan Andan, Indra Ameng, Ade Darmawan, Daniella Fitria Praptono, Julia Sarisetiati, Reza Afisina; ©Gudskul / Jin Panji 2019

 

Die alle fünf Jahre stattfindende documenta verbindet eine lange und sehr wechselvolle Geschichte mit dem Medium Film. Seit der Gründung sind filmische Werke fester Bestandteil der Kunstschau. Der nach dem Gründer benannte Bode-Plan sah bereits 1955 Film prominent als integralen Bestandteil der documenta vor. Doch bei der documenta II war dies nur eine Auswahl historischer Filme aus 40 Jahren, die abseits vom Fridericianum an sechs Tagen im damaligen Film-Palast Wilhelmshöhe gezeigt wurden.

 

Zu den wichtigsten und bemerkenswertesten Stationen der Berücksichtigung von Film gehören wohl die d6 (documenta VI), d10,  d11 und die d12. In der auch als Medien-documenta bezeichneten Ausstellung von 1977 liefen im Dachgeschoss des Fridericianums Experimentalfilme von Michael Snow, Stan Brakhage, W+B Hein und Werner Nekes und Dore O. Prominent im Erdgeschoss platziert waren in einem „Filmraum“ Videos von Beuys, Rebecca Horn und Bruce Nauman zu sehen. Im Kasseler Royal-Kino wurden Filme von Fassbinder, Scorcese und Kubrick gezeigt.

 

Während der d10 gab Catherine David den FilmemacherInnen Harun Farocki, Antonia Lerch, Raoul Peck, Abderrahmane Sissako und Aleksandr Sokurow eine Plattform. Ihr Nachfolger Okwui Enwezor präsentierte 2002 (d11) Filme des Londoner Black Audio Film Collective und des südafrikanischen Künstlers William Kentridge sowie Filme von Jonas Mekas. Im Unterschied zu früheren Kuratoren wurde ein Kino in die White-Box implantiert, um Filme von Ulrike Ottinger zu zeigen. Die bislang umfangreichste Beteiligung gelang Alexander Horwath, der mit „100 Tage Kino“ während der gesamten documenta-Zeit fünfzig abendfüllende Programme im Gloria-Kino kuratierte.

 

Die Art und Weise der Einbindung von Film und, allgemeiner gesprochen, von Bewegtbild in die Welt der Kunstausstellungen ist so wechselhaft wie die Konzepte der jeweiligen künstlerischen LeiterInnen. Die schwierige Frage der Ausstellbarkeit von Film begleitet die gesamte Geschichte der documenta wie ein roter Faden. Insbesondere, wenn Film der Kulturpraxis Kino getreu in die Ausstellungspraxis mit ganz anderen Rezeptionsweisen integriert werden sollte. So spielte der Film jenseits von Retrospektiven in den Kinos der Stadt und der White-Box-Präsentationen von Video- und Installationskunst eher eine randständige Rolle im Ausstellungsparcours der documenta-Besucherkarawanen.

 

 

Auftritt ruangrupa

 

Mit der Künstlergruppe ruangrupa aus Jakarta, Indonesien, wird die documenta nicht nur zum ersten Mal von einem Kollektiv geleitet, sondern zum ersten Mal auch von einer Gruppe, die nicht nur filmaffin – wie zuvor manche künstlerischen LeiterInnen – ist, sondern selbst in der Film- und Festivalszene verankert ist.

 

„ruangrupa“ (frei übersetzt „Kunstraum“) ist eine in Jakarta ansässige gemeinnützige Organisation, die Anfang 2000 in Jakarta gegründet wurde. Seit 2003 organisierte ruangrupa alle zwei Jahre das Medienkunst-Festival „OK.Video“ (zuvor Jakarta International Video Festival).

 

Das Konzept, das ruangrupa für die documenta 15 erarbeitet hat, heißt „lumbung“. Eine Lumbung – oder Reisscheune – ist ein Ort, an dem gemeinschaftlich produzierter Reis als gemeinsame Ressource für die zukünftige Nutzung gelagert wird. Unter dem Titel „lumbung-Programm“ organisieren die KünstlerInnen Workshops, Demonstrationen, Hörsessions, Gespräche, Lesungen und Filmscreenings. Die Ausstellungsorte sollen zu Treffpunkten und Wohnzimmern werden, die während der 100 Tage nicht statisch bleiben, sondern sich stetig verändern. Filmscreenings sind für viele der künstlerischen Beiträge, die von ruangrupa ausgewählt wurden, essenziell.

 

Anders als in früheren Jahren der documenta wurden keine in der Kunstwelt arrivierten und international bekannten ‚Namen‘ eingeladen. Dies gilt, bis auf wenige Ausnahmen, auch für die Film- und MedienkünstlerInnen, die von ruangrupa vorgestellt werden. Viele von ihnen sind selbst Kollektive, denen mehrere, meist (Kurz)-FilmemacherInnen angehören.

 

Hier ein (nicht vollständiger) Überblick:

• Komîna Fîlm a Rojava (Osteuropäische Zeit[1])

Die Rojava-Film-Kommune ist ein 2015 gegründetes Kollektiv von FilmemacherInnen aus der gleichnamigen autonomen Region im Norden Syriens. Die Kommune arbeitet am Aufbau von Infrastrukturen für die Produktion und Vorführung von Filmen. Ihr Ziel ist es, ein neues Filmpublikum zu finden und ein Bewusstsein für Film als Medium für Empowerment und Befreiung zu schaffen. Für die documenta fifteen kuratiert das Kollektiv ein Filmprogramm aus älteren und neu produzierten Filmen der Kommune sowie Werke aus der kurdischen Filmgeschichte.

 

• Subversive Film (Mitteleuropäische Zeit, Osteuropäische Zeit)

Subversive Film ist ein in Ramallah und Brüssel ansässiges Kollektiv, das sich der Wiederentdeckung und Restaurierung von Filmen mit Bezug zur Region Palästina sowie die Erforschung archivarischer Praxen widmet. Für die documenta fifteen hat Subversive Film ein Filmprogramm rund um die Vorführung eines kürzlich restaurierten Films kuratiert. Kernstück des Beitrags von Subversive Film zur documenta fifteen ist eine spekulative Dokumentation, ein Gemeinschaftswerk britischer, italienischer, deutscher, palästinensischer, ägyptischer, irakischer und japanischer Filmemacher*innen aus einer Sammlung lange verschollen geglaubten Materials auf 16-mm und U-matic-Video über Solidaritätsbeziehungen zwischen Japan und Palästina in den 1960er Jahren.

 

• Cinema Caravan und Takashi Kuribayashi (Japanische Zeit)

Takashi Kuribayashi bringt ein mobiles Open-Air-Kino nach Kassel. Der Cinema Caravan, zu dem eine Bar und ein Imbissstand gehört, zeigt auf der Karlsaue Film- und Videoarbeiten japanischer KünstlerInnen, von den viele die Fukushima-Katastrophe aufarbeiten und sich auf Ökosysteme beziehen.

• Weitere Filmemacherinnen

Unter anderem werden Arbeiten der philippinischen Filmemacherin Kiri Dalena und vietnamesischen Filmemacherin Nguyen Trinh Thi gezeigt.

 

• „Harvester“

Die Harvester begleiten und dokumentieren die documenta. Sie hören zu, reflektieren, schildern den Prozess aus ihrer je eigenen Perspektive. Dazu gehören auch Filme von Sebastián Díaz Morales und Simon Danang Anggoro als Dokumente dieser Prozesse, die an verschiedenen Orten der Ausstellung zu sehen sind und nach der documenta fortgeführt werden sollen.

 

Die documenta fifteen findet 100 Tage lang vom 18. Juni bis zum 25. September 2022 an 32 Ausstellungsorten in und um Kassel statt.

 

URL: documenta fifteen

URL: ruangrupa 

URL: OK.Video Festival

 

[1] Die Nationalitäten der KünstlerInnen werden nicht genannt, stattdessen die Zeitzone.