Gestalt der Freiheit

Zur Ausstellung „Move little hands… ‚Move!‘ “ in den Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden (18. November 2019 – 8. März 2020)

Ausstellungsansicht Move little Hands… „Move!“ Kunsthalle im Lipsiusbau © SKD, Foto: David Pinzer

Durch das imposante Eingangsportal und das geräumige Foyer des Lipsiusbaus in Dresdens barocker Altstadt hindurch tritt man in mehr als nur einen Ausstellungshalle: Die Kuratoren von „Move little hands…‚ Move!‘“ haben gemeinsam mit Jan Švankmajer in der Architektur der hohen, geradlinig geschnittenen Ausstellungshalle eine Kathedrale der Fantasie errichtet, gefüllt mit unzähligen Assemblagen, Graphiken, Readymades, Gemälden, Figuren und Filmen von Eva und Jan Švankmajer.

 

Zum akustischen Empfang gibt es böhmische Blasmusik, eine kommunistische Hymne oder Demonstrationsgesänge der Samtenen Revolution von 1989 – je nachdem, in welchem Moment der Großprojektion von „Der Tod des Stalinismus in Böhmen“ (1990) die Ausstellungshalle betreten wird. Zuweilen durchsetzt lustvolles Stöhnen aus der Projektion von „Verschwörer der Lust“ (1996) den Klangteppich. Und damit ist der Rahmen schon abgesteckt: eine lebendige Klangcollage mit tschechischer Eigenheit, in der körperliche und politische Akzente ein subversives Bündnis bilden. Politisch ist die Dimension in mehrfacher Hinsicht, denn die Freiheit ist ein Hauptthema in den Arbeiten von Eva und Jan Švankmajer. Künstlerisch reißen sie die Grenzen der beengenden Rationalität mit surrealistischer Energie und Lust nieder, die reale Freiheit des Künstler- und privaten Paares wurde vielfach, u.a. durch ein staatliches Filmverbot von 1973 bis 1980, eingeschränkt.

 

In einem rechten Seitenschiff reihen sich kleine Kunstkammern mit Exponaten und Filmen, die exemplarisch das Frühwerk zeigen und zentrale Arbeitsthemen, wie „Reliquiare und Alchemie“, „Fetische und spirituelle Zeichnungen“ anschlagen. Gespiegelt wird dies von einem linken Seitenschiff mit vorrangig mittelgroßen Filmräumen im Zusammenspiel mit Gemälden von Eva Švankmajer und den darin eindrucksvoll körperlichen und komplexen weiblichen Perspektiven.

 

Zuallererst zieht es jedoch trotz quer laufender Ausstellungswand am Eingang unweigerlich in das dahinterliegende Mittelschiff. Das Herzstück der Ausstellung lockt zu sehr mit sinnlichen Erfahrungen und Irritationen. Der Lipsiusbau kann nur einen kleinen Teil aus Švankmajers überbordender, faszinierender Privatsammlung und seinem Atelier auf Horní Staňkov aufnehmen. Trotzdem vermittelt die Präsentation der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden eindrucksvoll deren Wunderkammercharakter. Die barock anmutende Strenge der symmetrischen Anordnung der Vitrinen und Stellwände wird von der scheinbar unbeherrschbaren Natur der Formen und bizarren Gestalten durchbrochen. Der Blick sucht Orientierung, entdeckt immer wieder Neues und wandelt durch ein Labyrinth fantastischer Eindrücke. In Assemblagen und in historisierenden Collage-Drucken verschmelzen disparate Tierkörper, aus Ton gefertigte Ergänzungsgliedmaßen, Mineralien, Maschinenteile, Geschlechtsorganisches sowie Käfer und andere Kleinstlebewesen zu einer autonomen Welt jenseits der vertrauten Wirklichkeit. (Randbemerkung: Hier wäre Stille statt stalinistischer Hymnen aus der Großprojektion angenehm gewesen, um mit Fantasie den Kreaturen in den Glaskäfigen zu lauschen.) Die ansonsten spärlich mit Text ausgestattete Exposition wartet mit vielsagenden Werktiteln – „Švank-Meyers Bilderlexikon“ – und kurzen Zitaten auf, die eine alternative Weltsicht präsentieren: „Wenn Dutzende Tierspezies jedes Jahr durch die Umweltkatastrophe […] aussterben, kann nur unsere Fantasie sie ersetzen. JŠ“. Mit einem Blinzeln in Richtung aktueller Umweltdebatten drückt sich damit ein Švankmajersches Hauptmotiv aus: Das materiell oder gedanklich Abgelebte ist eine befreite oder noch zu befreiende Materie. Es liefert den Stoff für kreative, assoziative Neuformung. Bezeichnenderweise erstreckt sich in Greifweite des Wunderkammerbereichs die taktile Abteilung, wo Gedichte mit der Hand zu lesen sind. Reihen von kleinen, rauen Tongestalten und hinter dunklen Tüchern versteckte, somit rätselhafte Alltagsgegenstände gilt es sinnlich zu erfahren. Das Gehirn erstastet sich blind die Welt – wahrnehmend und interpretierend, ganz im Gegensatz zum Film, wo bei Jan Švankmajer Auge und Ohr die Aufgaben der Hand übernehmen.

 

Eine Brücke zwischen materieller Erfahrung der Welt und audiovisueller Erkundung schlugen Eva und Jan Švankmajer wiederholt mit dem Puppenspiel. Entsprechend zentral ist dies in der Schau inszeniert. Wie zum Hauptaltar läuft im Lipsiusbau alles auf die originale, illusionistische Kulissenbühne aus dem Film „Faust“ (1994) samt der lebensgroßen Marionetten zu. Sie bildet einen Verhandlungsraum zwischen Alltag und Alchemie, zwischen Dingwelt und Mensch, zwischen Regeln und Freiheit. Dieser Scheitelpunkt in der Ausstellungsordnung wird unmittelbar sehr gegensätzlich umrahmt. Die rechte Seite verweist auf die Zeit vor der politisch verordneten Film-Zwangspause mit mineralisierten Objekten, Handpuppen, sadistischer Grausamkeit und Tod exemplifiziert durch „Punch und Judy“ (1966). Auf der linken Seite breitet sich fleischliche Lust aus in Gestalt des Masturbationsapparats aus „Verschwörer der Lust“ (1996) und in surrealen halbpornographischen Collagen.

Jan Švankmajer, Punch and Judy, 1966 Filmstill © ATHANOR – Film production company, Ltd.

Quer durch die Ausstellung schlängeln sich wie ein sanftes Band die über zehn weitgehend chronologisch geordneten Filmprojektionen. Rein quantitativ dürften acht Stunden Öffnungszeit gerade reichen, um die wunderbare Filmretrospektive in Gänze zu genießen. Die Ausstellung wird damit dem Umstand gerecht, dass Eva und Jan Švankmajer gleichermaßen in der bildenden Kunst und im künstlerischen Film beheimatet sind. Sie hält souverän die Balance zwischen beiden im Austausch stehenden Polen, indem die Kunstobjekte hier keine Props und kein Begleittingeltangel zur Filmwelt darstellen, die Filme keine Erfüllungsgehilfen für die bildende Kunst sind. Beides geht subtil Hand in Hand.

 

Die freien Kunstobjekte zeigen immer wieder, wie stark sich Filmisches in Form von Zeit, Wandel und Animation in sie eingeschrieben haben. Serielle graphische Werke erinnern an Storyboards, eine Reihe von Keramikkrügen – der erste intakt, die folgenden zunehmend weiblich und von einer Hand am Bauch immer weiter aufgerissen – wirkt wie eine plastisch gewordene Metamorphose. Ein Säugetierskelett gebärt Eier aus seinem Fischkopf, aus denen dann am Boden liegend kleine, schnell wachsende Babyspinnen krabbeln. Švankmajers Kunstobjekte sind Dramolette, Zeitverdichtungen, Kürzestfilme, bei denen der Blick Regie führt. Der Filmschnitt findet sich in dem oft unvermittelten Zusammenstoßen unterschiedlicher Materialcharakter wieder. Schöner doch totkalter Achat wuchert parasitär in flauschig-felligen Tierkörpern. Erst die „Montage“ zweier entgegengesetzter Sinneseindrücke wird zum Erzählstoff. Aus Dingen, die teilweise über Jahre vergessen in Schubladen verbracht haben, kreiert Jan Švankmajer Fetische und Reliquien und ordnet ihnen neue Aufgaben und Werte zu, erweckt sie spirituell zum Leben. Die taktilen Gedichte und Spielbretter lassen sich nur in Bewegung und Zeitlichkeit erfassen. Jan Švankmajers bildende Kunst zeigt insbesondere das Animation nicht allein eine kinematographische Technik ist, sondern eine Weltenphysik.

 

Ausstellungsansicht „Move little hands… „Move!“ © SKD, Foto: David Pinzer

 

Švankmajers Kino ist international u.a. wegen seiner Stofflichkeit berühmt, wegen all der Knackser und Kratzer, den Spuren des Lebens, die die Dingwelt gezeichnet hat und lebendig macht. „Move little hands…‚ Move!‘“ verdeutlicht in einem Fest für die Sinne die Bedeutung von nichtvisuellen Wahrnehmungserfahrungen, um diese Filmwelt vollumfänglich erfassen zu können. Die atemberaubend schnelle, springende und stotternde Montage – ein zweites filmisches Charakteristikum bei Švankmajer – spiegelt sich in der Schau in Form der beunruhigenden Assemblagen und Collagen wirkungsvoll wieder. Hier wie da versucht die Ratio widersprüchliche Wahrnehmungen zu einem Resultat zusammenzuführen. Sie gerät jedoch ins Stolpern und bringt aus der verzweifelten Überblendung der Einzelteile eine Chimäre hervor, die mit einem Bein in und mit dem anderen jenseits der Wirklichkeitserfahrung steht. Dieser evolutionäre Befreiungsschlag der Fantasie ist die Hymne des Werks von Eva und Jan Švankmajer, die noch lange nach dem Verlassen des Lipsiusbaus in Körper und Kopf nachklingt.

 

Begleitend zur Ausstellung erschien im Eigenverlag der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ein kostenloses 92seitiges Besucher-Booklet mit Texten der Kuratoren und von Eva und Jan Švankmajer auf Deutsch, Englisch und Tschechisch.

https://lipsiusbau.skd.museum/ausstellungen/move-little-hands-move/