Die Erweiterung der Wirklichkeit –
über den Filmemacher und Bildkünstler Mario Pfeifer

Porträt

ZELLE 5 © blackboardfilms

Es ist eine grausame Versuchsanordnung: Ein minimaler Raum, vielleicht vier Quadratmeter. Innen gefliest, mit einer Glasscheibe als Sichtfenster, auf dem Boden eine einfache mit Kunstleder eingebundene Schaumstoffmatratze. So in etwa hat die Zelle ausgesehen, in der der Asylsuchende Oury Jalloh 1992 in der Polizeizelle in Dessau-Roßlau verbrannte. Wie kann sich ein Mensch selbst anzünden, der an Füßen und Händen gefesselt war? Weil die Frage selbst nach vielen Jahren Aufarbeitung und drei offiziellen Gutachten nicht geklärt werden konnte, macht jetzt der Künstler Mario Pfeifer weiter.

„Am Ende ist ein Mensch in der Zelle verbrannt und es gibt keinen richterlichen Beschluss dazu“, sagt er und wertet das als fatales Signal. „Damit sollte sich eine Zivilgesellschaft nicht abfinden.“

Mario Pfeifer, 1981 in Dresden geboren, ist Filmemacher, der sich den Dingen annimmt, an denen die Gesellschaft scheitert. Er mietet einen ganzen Flugzeughangar im hessischen Babenhausen an, baut die Zelle originalgetreu nach, arbeitet die Prozessakten durch und engagiert den englischen Brandexperten Iain Peck, der den Brand rekonstruiert und analysiert. 30 Minuten lang dauert der künstlerische Dokumentarfilm ZELLE 5, so lange wie die Puppe, die vorher mit Brennflüssigkeit übergossen und danach angezündet wurde, brennt. So lange wie auch Oury Jalloh in seiner Zelle einen schrecklichen Tod sterben musste. Das Szenenbild wurde so gebaut, dass es einem forensischen Gutachten standhält und, dass es vor Gericht gültig wäre.

„Ich möchte, dass das Publikum erfährt, welche Gewalt da vor Ort da war“, sagt Pfeifer.

ZELLE 5 © blackboardfilms

Es ist eine fast körperliche Erfahrung, an diesem Experiment teilzunehmen. Schwarze Rauschwaden vor schwarzem Hintergrund. Pfeifer inszeniert seine Protagonisten im Kontrast zur Dunkelheit und schafft einen vielschichtigen Film, der weit über das Dokumentarische hinausgeht. Die Pressekonferenz in dunklem Raum, bei der die Angehörige und die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ die Ergebnisse des Experiments vorstellen, verwebt er mit den Original-Zitaten der Mitarbeiter der Polizeidienststelle, die an jenem Tag die Tat dokumentierten.

„Der Kollege kommt gleich mal runter“,

sagt eine ausdruckslose Frauenstimme an der Sprechanlage, die direkt in Ourys Zelle führt, so als handle es sich um eine Alltagsbanalität. Später weiß sie nicht, ob sie Feuerwehr oder Krankenwagen anrufen soll. Die Laiendarsteller verkörpern die Empathielosigkeit erschreckend echt. Es ist die in sich abgeschlossene, ästhetisch hochwertige Wiederbelebung des Unfassbaren. Und Pfeifer führt eine dritte Ebene ein. Die Schauspielerin Dennenesch Zoudé führt als unbeteiligte Erzählerin durch den Film und moderiert ein Ereignis, was viel über den Zeitgeist der 90er Jahren erzählt. Der Tod Oury Jallohs hat sich in das kollektive Gedächtnis der Nachwendezeit im Osten eingeschrieben. Pfeifer lockte damit im vergangenen Jahr 25.000 Besucher in die Bundeskunsthalle, wo der Film ausgestellt wurde. 2023 wurde ZELLE 5 in Frankfurt am Main mit dem hessischen Filmpreis ausgezeichnet.

Auch wenn sich Mario Pfeifer selbst nicht als politischer Künstler betrachtet, so dockt er doch immer wieder dort an, wo Justiz und Executive mit ihrer Sprachlosigkeit nicht weiterkommen.

„Meine Kunst ist der Resonanzraum zur Gesellschaft, in der ich lebe“, sagt er.

 

AGAIN © blackboardfilms

In AGAIN (2018) rekonstruiert er auf ähnliche Weise wie in ZELLE 5 den Fall „Arnsdorf“, bei dem ein Asylsuchender von Anwohnern des sächsischen Dorfes mit Kabelbindern an einen Baum gefesselt wurde. Auch fiktionalisiert er das wirklich Stattgefundene an einem unwirklichen Ort. Schauspieler reenacten in einer Art Tiefgarage die Szene, die einem Supermarkt begann und die durch ein Handyvideo viral ging. Wieder treten multiperspektivische Erzählstimmen auf. Die Schauspieler Mark Waschke und Dennenesch Zoudé thematisieren Zivilcourage.

„Warum macht denn keiner was?“,

wenn ein Mann mit dunklerer Hautfarbe von drei Männern überwältigt wird. Wie hätten Sie sich verhalten, als die Männer ihn an den Baum fesselten? Pfeifers Versuchsanordnung wird in AGAIN noch durch ein beobachtendes Publikum erweitert, Menschen mit Migrationshintergrund, die selbst Rassismus und Ausgrenzung erfahren haben. Sie beobachten, wie der Zuschauer selbst, als Rezipienten direkt am Ort des Geschehens. Am Ende flicht Mario Pfeifer ihre Gedanken in den Film ein und verleiht ihm eine Metaebene, die über das reine Erschrecken über die Verrohung des menschlichen Miteinanders hinausgeht. Ihr Blick eröffnet eine Innenperspektive über Rassismus in Deutschland, über das Versagen von Staat und Zivilgesellschaft, die der betroffene Asylsuchende aus dem Irak nicht mehr geben konnte. Er war Monate nach der Tat im Wald neben dem Asylbewerberheim tot  aufgefunden worden.

 

In Pfeifers filmischen Experimenten wird nichts dem Zufall überlassen. Die Wirklichkeit wird auf verschiedenen Ebenen nachinszeniert, neu visualisiert und erweitert. Zudem bezieht er Perspektiven und Sichtweisen mit ein, die vorher gar nicht sichtbar waren – eine Machart, die sich von Anfang an in seinen Werken wiederfindet.

„Film ist meine Art mit dieser Welt da draußen in Kontakt zu treten“,

sagt er. Dabei hatte Mario Pfeifer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zunächst Fotografie studiert. Schnell aber wird ihm klar, dass Film sein Trägermedium sein wird. Künstler wie Bruce Naumann, Jeff Wall oder Ingmar Bergmann inspirieren ihn. Er studiert an der Universität der Künste in Berlin, an der Städelschule in Frankfurt und in Kalifornien am „Institut of Arts“. Er hat in Indien, Chile und den USA Filme gedreht. Mit seinen Werken bewegt er sich mäandernd an der Schnittstelle zwischen Film und Kunst. Vom Ort des Geschehens ausgehend, lotet er politische, kulturelle und ästhetische Gesichtspunkte aus und bringt alles in allem miteinander in Verbindung.

 

2015 reist er für APPROXIMATION IN THE DIGITAL AGE TO A HUMANITY CONDEMNED TO DISAPPEAR nach Chile und mietet sich direkt neben einem Indigenen-Reservat in ein Zimmer ohne Wasser und Strom ein. Mit der Zeit kommt er mit den Ureinwohnern Chiles, den Yaghan, in Kontakt. Er zeigt ihnen Bilder einer ethnologischen Sammlung, konfrontiert sie mit ihrem eigenen Schicksal, ihrer Entwurzelung. Denn nicht nur, dass sie ihrer Heimat beraubt worden sind, auch die Jahrhunderte alte Kulturtechniken sind verloren gegangen.

Es ist ein Film geworden, in dem sich alles verändert und indem eigentlich eine Nation zugrunde geht, weil sie selber keine Waffen gefunden hat, sich dagegen zu wehren“,

sagt Pfeifer.Für den Film wählt er drei parallele Projektionsflächen, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart spiegeln.

„Mir ist wichtig, dass eine Multiperspektivität entsteht“,

sagt Pfeifer. Er nennt es auch das demokratische Schauen. Denn der Zuschauer darf sich aussuchen, woran sich sein Auge festhalten mag. Schon in A FORMAL FILM IN NINE EPISODES aus dem Jahr 2010 spielte er mit der Gleichzeitigkeit von Information. Damals mussten die Zuschauer sogar von einem Museum ins andere gehen, um den ganzen Film zu sehen.

„Trotzdem gibt der Film eine Erzählung vor, die man selber rausfinden muss“,

sagt Pfeifer. Es war seine erste Arbeit, die ein Museum ankaufte.

 

In APPROXIMATION sind es drei Bildschirme im gleichen Raum. Menschen in weißen Plastikanzügen stehen am Fließband und sortieren Meeresfrüchte. Mechanisch werden Tiere für den Transport zerschnitten und verpackt, brutal und tieresunwürdig – jene Krabben, die die Indigenen früher selbst per Hand am Meeresgrund abgepflückt haben. Es ist die bildgewordene Industrialisierung, die hier ohne Ton ihre Bahnen zieht. An anderer Stelle wird ein Tierkopf minutiös mit einem Beil zerhackt. Sein Stilmittel in APPROXIMATION ist der Gegensatz, hier das Neue, dort das Alte. Menschen, nur mit dem nötigsten bekleidet, die im Dschungel stehen, Fotografien der Yaghan in schwarz-weiß, kurz danach die zu Beton gewordene Natur, menschenleer.

 

Für den Soundtrack verarbeitet er Gesänge und Klänge des indigenen Stammes aus dem letzten Jahrhundert und verbindet sie mit Techno. Die Digitalität ist das Verbindende zwischen den Welten. APPROXIMATION ist intensiv und hallt nach. Seine Filme seien Resonanzräume in der Gesellschaft, in der er lebt, sagt Pfeifer. Vieles kommt da zum Klingen.

 

So wie er sich den Orten und Menschen nähert, über die er erzählen will, agiert er auch als Ethnologe und betreibt Konstruktion und Dekonstruktion des Eigenen und des Fremden – so wie in ÜBER ANGST UND BILDUNG, ENTTÄUSCHUNG UND GERECHTIGKEIT, PROTEST UND SPALTUNG IN SACHSEN / DEUTSCHLAND, ein Mammutwerk in zwei Teilen aus dem Jahr 2016. 546 Minuten Filmmaterial, auf dem Menschen ausschließlich reden. Die Kamera ist ganz nah an ihren Gesichtern, es gibt keine anderen Einflüsse, nur Augenkontakt und das gesprochene Wort. Visuell lebt er sich hier weniger aus als in den seinen anderen Werken.

Kurz nach der Gründung von Pegida, sucht Pfeifer im Auftrag der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig Kontakt zu jenen, die die Bewegung gegründet haben, ihr nahestehen oder sie erklären können. Er spricht mit einer Bürgermeisterin, einer Lehrkraft, einem Konfliktforscher und wieder geht es um Vielschichtigkeit.

„Ich möchte, dass man sich mit diesen Menschen beschäftigt“,

sagt er,

dass man sie auch darauf festnageln kann.“

Nur so könnten sie auch zur Verantwortung gezogen werden. Sie erzählen persönliche Geschichten und es geht um Umbrüche und Zurückweisungen, aber auch um Vertrauensbrüche und Weltpolitik. Es ist ein Kaleidoskop an Meinungen und persönlichen Anekdoten, an Erklärungsversuchen zu einer Zeit, in der die AfD noch in den Kinderschuhen steckte und manche Pegida als temporäres Phänomen abtaten.

„Das war der gesellschaftliche Diskurs und wir mussten uns dem annehmen“,

sagt Mario Pfeifer rückblickend. Für ihn ist der Film auch eine Art soziologische Studie über Ostdeutsche. Auch wenn das Zuhören für ihn nicht nur einfach war, so war es notwendig. Heute, so Pfeifer, sei so ein Film kaum noch machbar. Die Arbeit wird 2024 ebenfalls in der Bundeskunsthalle zu sehen sein.

 

Längst sind Pfeifers Werke in der internationalen Kunstwelt angekommen. Neben Deutschland, hat er in der Schweiz ausgestellt, in den USA, in Chile. Seine Filme liefen auf internationalen Filmfestivals, wie der IDFA, DOK Leipzig oder den Hofer Filmtagen. Er war Fulbright- und DAAD-Stipendiat, seine Werke befinden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen in Europa und Nordamerika, zum Beispiel im Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und dem Fotomuseum Winterthur.

#BLACKTIVIST

Pfeifer pendelt zwischen den Welten, hier der Film, da die Kunst oder eben beides zusammen. Das ist das Besondere an seinem Werk. Auch, weil er eben in die Welt hineingeht, die er zeigen will. So wie in #BLACKTIVIST, für den er 2015 in den USA mit Rappern arbeitete und gemeinsam mit ihnen ein Musikvideo produzierte, das heute 3,8 Millionen Views auf YouTube hat. Auch da arbeitet er schon mit parallelen Projektionen und provokanten Bildern. Pfeifer ist keiner, der Schwieriges auslässt. Als nächstes will er sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigen.

www.mariopfeifer.org

 

Beitragsbild: ZELLE 5 © blackboardfilms