Flüchtige Fiktionen: Die Super-8-Kurzfilme von Milena Gierke

Porträt

AUFZIEHENDER STURM © Milena Gierke

Die Super-8-Filme der in Berlin lebenden Milena Gierke stehen in einer kleinen, aber feinen Tradition erlebnisorientierter Tagebuch- und Porträtfilme, die Verspieltheit mit innovativer Ernsthaftigkeit verbinden. Sie begann ihr Studium des Experimentalfilms an der Städelschule in Frankfurt bei Peter Kubelka und studierte anschließend Bildhauerei und Film an der Cooper Union in New York City, u.a. bei Hans Haacke und Robert Breer. 2001 schloss sie sich dem Filmsamstag an, einer Gruppe von Filmschaffenden und einem Kritiker, die von 1997 bis 2007 im Filmkunsthaus Babylon in Berlin-Mitte Vorführungen und Diskussionen zum Experimentalfilm organisierten.

 

Der 16mm-Film gilt de facto als das Medium der formalen Innovation, während Super 8 als das Medium des Spaßes gilt, eine Hypothese, die sicherlich durch die außergewöhnliche Arbeit von Helga Fanderl, John Porter und Robert Huot u.a. in Frage gestellt wird, die hunderte von Super 8-Filmen gedreht haben und sie, wie George Kuchar einmal sagte, als „Werkzeug der Verteidigung in dieser Gesellschaft der mechanisierten Korruption“ sehen.

 

Super 8 stört die Montage, wenn sie konventionell geschnitten wird, da die Schnitte sichtbar bleiben und die Montage zeitlich begrenzt ist: Eine 50-Fuß-Rolle Super 8, die mit 18 Bildern pro Sekunde gedreht wurde, dauert nur etwa dreieinhalb Minuten. Gierke umgeht diese Beschränkung, indem sie Aufnahmen, die nur wenige Sekunden dauern, bereits in der Kamera schneidet. Die Reihenfolge der Aufnahmen während des Drehs bleibt im fertigen Film erhalten. Der kamerainterne Schnitt ermöglicht eine Komposition in Echtzeit, während man die sich entfaltenden Ereignisse erlebt und analysiert, und ist eine Schlüsselkomponente von Gierkes Filmemachen. Die Einschränkungen von Super 8 werden durch das geringe Gewicht der Kamera und die günstigen Filmpreise ausgeglichen. Gierke setzt in ihren Filmen nur selten Ton ein, und wenn, dann nur illustrativ zum Bild. Die meisten sind stumm. Oft projiziert sie ihre eigenen Filme, bei denen das Surren des Super-8-Projektors als akustische Untermalung ausreicht.

 

Gierkes Filme lassen sich grob einteilen in Studien-/Beobachtungsfilme, in denen die Kamera nicht auf das Ich gerichtet ist, und Tagebücher, in denen eine bestimmte Form der Selbstdarstellung deutlich wird. In den ersteren wird das Ich nur durch kompositorische Entscheidungen hinter der Kamera zum Ausdruck gebracht, während in den letzteren diese Behauptung expliziter ist, entweder durch direkte persönliche Präsenz oder durch die Darstellung von Personen, Orten und Situationen, zu denen die Nähe des Filmemachers offensichtlich ist. In beiden Fällen ist Gierkes Anliegen wahrnehmungsbezogen (im Gegensatz zu konzeptuell, eine nützliche Unterscheidung der Kunstkritikerin Lucy R. Lippard) und materiell. Sowohl die räumlichen als auch die zeitlichen Dimensionen der Wahrnehmung werden durch Bildausschnitte, variable Aufnahmedauer und Zeitraffer untersucht.

 

KRÖTEN © Milena Gierke

 

Kröten (1997, 6′) ist ein kurzer Porträtfilm über Kröten, die in einem Wasserlauf in Südfrankreich wandern und sich paaren. Es handelt sich jedoch nicht um ein gewöhnliches Porträt, da der Zugang der Kamera zum Körper der Kröte durch das Wasser vermittelt wird, was eine Reihe von perzeptiven Spielen im Zusammenhang mit den unabhängigen Bewegungen der Kröte, des Wassers und der Kamera auslöst. Die Interaktionen zwischen diesen Bewegungen führen zu einem Wechselspiel zwischen Repräsentation und Abstraktion. Die Tiefe des Blickfeldes wird durch Libellen und Blätter, die auf der Wasseroberfläche treiben, oder kleine Fische, die knapp unter der Wasseroberfläche schwimmen, erfahrbar gemacht. Lichtreflexionen auf dem Wasser erzeugen illusionäre Empfindungen, wie z.B. die wahrgenommene Hin- und Herbewegung der Kröte, obwohl diese in Wirklichkeit regungslos ist. Wenn eine Paarung gefilmt wird, ist der Anblick zweier ineinander verschlungener Körper zunächst nicht offensichtlich, sondern wird erst sichtbar, wenn die Kamera einen neuen Bildausschnitt wählt. Die Verwendung einer Membran zur Filterung der Sicht ist nicht das einzige Charakteristikum von Kröten. In Membran (2000, 3′) gibt eine Plastikfolie am Fenster eines Berliner Balkons den Blick auf eine sommerliche Straße frei und enthüllt die Silhouetten vorbeifahrender Fahrzeuge und Menschen. Eine leichte Brise beeinträchtigt die Sichtbarkeit der Straße, bis der Bildausschnitt neu justiert wird, um die gesamte Szene zu beschreiben, die bis dahin nur teilweise enthüllt war. In Wasserspiel I (1997, 2′) dominieren Spiegelungen und Schattenspiele, die disparate Räume überlagern, wobei die Wasseroberfläche zur Leinwand wird, die die Realität aufweicht und auflöst. In Aufziehender Sturm (1994, 3,5′) wird der Blick auf die stürmische Landschaft auf der anderen Seite durch die Windschutzscheibe eines Autos verdeckt (die nach einigen Sekunden des Films durch den Scheibenwischer sichtbar wird), während in Entgegen (1993, 3′) ein Spiegel in einer Zugtoilette die Leinwand teilt und das Bild des halb geöffneten Fensters verdoppelt, durch das die Außenwelt vorbeizieht. Fragmentierung, Kadrierung und das Eingehen auf die Lichtverhältnisse bestimmen Gierkes Wahrnehmung. Häufig verwendet sie eine Einstellung, um eine vollständige Beschreibung des Blickfeldes zu ermöglichen. In dem chromatisch expressiven Volver (2009, 7′) betrachten wir einen sonnenbadenden weiblichen Körper in Fragmenten, in denen Gesten, Posen und Bewegungen durch eine sorgfältige Differenzierung von Nähe und Distanz zur Kamera isoliert werden.

 

VOLVER © Milena Gierke

 

Ein weiteres zentrales Thema für Gierke ist die Zeit, genauer gesagt die konstruierte und manipulierte Natur der filmischen Zeit – ein zentrales Thema für das philosophische Interesse am Film als zeitbasiertem Medium. Zeit (1991, 9′), im Zeitraffer gedreht, wobei alle 8 Sekunden ein Bild belichtet wird, komprimiert mechanisch die reale Zeit und beschleunigt die Geschwindigkeit, mit der sich Ereignisse entfalten. Die Zeitmarken innerhalb des Bildes sind ein Wandkalender, eine Uhr und eine Vielzahl von Bewegungen – ein laufender Fernseher, durch den Raum fallendes Sonnenlicht, verwelkende Gladiolen in einer Vase und eine flackernde Kerze, die erlischt und deren Flamme sich nachts auf dem Fernsehbildschirm und dem Glas des angrenzenden Aquariums spiegelt, das tagsüber die Bewegungen der drei Goldfische sichtbar einschränkt. Dieser bewegte Raum wird durch einen Tisch am linken Bildrand verstärkt, an dem Gierke manchmal isst, liest oder Fotos betrachtet. Die zeitliche Abfolge der Ereignisse variiert in ihrer Geschwindigkeit, z.B. verläuft das Verwelken der Gladiolen viel langsamer als die Bewegung der Uhrzeiger. Der Film enthält zwei Ausnahmen von den Zeitraffersequenzen – die Darstellung eines kranken Fisches in einem Aquarium und eine Aufnahme des gesamten Zimmers, die möglicherweise aufgenommen wurde, um den Kontrast zwischen realer und filmischer Zeit zu verstärken.

 

Gierkes Selbstporträt in Zeit findet Widerhall in Stündlich I (1991, 6,5′), in dem sie drei Monate lang stündlich ihr Gesicht beim Blick in die Kamera in verschiedenen Umgebungen gefilmt hat, unterbrochen von Schwarzfilm, um die Schlafstunden darzustellen. Die Gesichtsausdrücke variieren ebenso wie die Länge der einzelnen Aufnahmen, manchmal ist der Blick passiv, während Gierke zu anderen Zeiten bei verschiedenen Handlungen zu sehen ist, wie z. B. beim Bürsten, Spazierengehen, Trocknen ihrer Haare oder beim Essen. Der routinemäßige Charakter des Films erinnert gleichzeitig an die beschwörende Fotoserie Memory (1972) der Dichterin Bernadette Mayer und an das therapeutische Five Year Diary (1982) der Filmemacherin Anne Charlotte Robertson, die beide die Auseinandersetzung einer Künstlerin mit ihrer Umgebung zum Ausdruck bringen.

 

Milena Gierke ist Artist in Focus beim Fracto Experimental Film Encounter vom 23. bis 26. November in Berlin.

 

Featured Image: MEMBRAN © Milena Gierke