Robert Seidel – Labor für das Erhabene

Porträt

„Ich möchte Bilder schaffen, welche die Illusionen der Erinnerung befeuern“, sagt der zwischen Film und Projektion arbeitende Künstler Robert Seidel (1). Zwischen dem Erleben und der Erinnerung liegt das Spannungsfeld des erodierenden Vergessens und der unbeständigen Vergewisserung. Er gestaltet diesen flexiblen Verhandlungsraum zwischen den Spuren des Konkreten und der sich stets aktualisierenden Wahrnehmung. Hierfür fräst er sich durch Sedimentschichten des Augenscheinlichen und verschlankt dieses bis auf den Kern, so dass nur eine zeichnerische Geste übrigbleibt.

 

Zeichnung aus der Serie „glimmer“

 

Von dieser Tiefe kehrt er dann zurück und schichtet um und aufeinander, transformiert einzelne Essenzen im digitalen Raum, verbindet sie zu einem ästhetisch eindrucksvollen Gewebe, das in seiner Kurzlebigkeit diesen Erinnerungsfasern flüchtig Halt geben kann. Seidel abstrahiert, um sinnlich mit Malerei, Animation, Licht und Raum eine scheinbar vertraute Anmutung zu schaffen. Eine Anmutung, die das Konkrete zumindest in seinen Möglichkeiten umreißt, wenn es schon nicht greifbar ist. „Kurzfilmisch“ im puristischen Sinne bleibt Seidel dabei selten. Er verschiebt vielmehr die Koordinaten des Kurzfilms, wie Bildkader, Dauer, Projektionsraum. Tritt aus diesen heraus, um auf sie aufmerksam zu machen.

 

Experimentalfilm E3 (2002) auf Vimeo

 

2002 entsteht mit E3 eine audiovisuelle Arbeit, die dem Findungsstadium entwächst. In diesem Videotagebuch setzt er während eines dreimonatigen Auslandsaufenthaltes seine eigene abstrakte Gouache-Malerei wiederholt stark wässrigen Pinselstrichen und digitalen Transformationen aus. Striche und Formen geraten ins Rutschen, verschieben sich, bilden neue Strukturen. Die Veränderungen werden in Einzelbildaufnahmen festgehalten, in der Re-Animation wird das Malergebnis entkleidet. Es existiert kein „Endzustand“, kein fertiges Bild, sondern nur der fortwährende Zustand des Malens an sich, der Bewegung im Bild. Seidel ist fasziniert vom Zeitlichen und vom Prozesshaften, das er mittels Film sichtbar machen kann.

 

Experimentalfilm _grau (2004) auf Vimeo

 

Mit _grau setzte Robert Seidel 2004 frühzeitig in seiner künstlerischen Laufbahn einen unverrückbaren Markstein der jüngeren digitalen Animationsfilmgeschichte und zugleich seinen wohl „kurzfilmischsten“. Zeit wird hier nicht wie in E3 gerafft, sondern gedehnt. Sekunden eines imaginierten Autounfalls werden zu einer subjektiven, digital erfahrbar gemachten Ewigkeit. Selbst die Filmlänge von 10:01 Minuten ist in ihrer binären Lesbarkeit Teil des konzeptionellen Rahmens. Die Orientierungslosigkeit und Erlebnisfetzen der existenziellen Situation des Unfalls orchestriert Seidel in einer Komposition, die Fragmente zusammenführt, ohne dass diese ihre Autonomie aufgeben.

 

sfumato, Supernova Festival, Denver, USA (2018)

 

Der Moment ist zerlegt und breitet sich aufgefächert vor einem leeren Hintergrund wie auf dem Obduktionstisch aus. Vage bleiben 3D-Scans von Körperteilen, MRT-Aufnahmen von Seidels Gehirn, organische Elemente mit Referenzen zu Haaren, Zähnen und Knochen erkennbar. Die Skulpturensplitter besitzen auffällig natürliche Geometrien und bilden visuell ein organisches Gewebe, das niemals ruht. _grau appelliert trotz Abstraktion an das empathische Vermögen gegenüber körperlicher Versehrtheit, geht sprichwörtlich unter die Haut, steckt aber zur Hälfte in einem Laborkittel. Dieser erfrischend komplexe und gleichzeitig emotionale Ansatz bei einer nicht gegenständlichen 3D-Animation war 2004 selten im Kurzfilmbereich zu finden und sorgte deshalb auf zahlreichen internationalen Festivals für Furore.

 

magnitude, Laserzeichnungen im San Andreas Graben, Epicenter Projects, USA (2015) auf Vimeo

 

Das Zusammendenken von Kunst und Naturwissenschaft in Robert Seidels Schaffen kommt nicht von ungefähr. Bevor er sich für Mediengestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar entscheidet, war er eine Zeitlang Student der Biologie an der Universität Jena. Den Sohn eines Physikers faszinieren bis heute Visualisierungen in der Naturwissenschaft – dort sachliches Analysemittel, bei Seidel künstlerisches Erkundungswerkzeug. Sein ästhetischer Ansatz reibt sich an seinem forschenden Interesse. Viele Arbeite geben sich wie Beobachtungsstudien aus der Mikrobiologie. Der Kreislauf von Entstehen und Zerfall beherrscht die Dramaturgie, in der der Schnitt als eines der zentralen filmischen Mittel fast nie vorkommt. Zellartig dehnen sich Bildmassen durch digitale Transformationen aus und ziehen sich wieder zusammen.

 

_grau, Filmposter (2004)

 

„Pulsierend“ ist wohl die meist gebrauchte Umschreibung für den atmenden Rhythmus der Animationen des Künstlers. Ausstülpungen und Fäden tasten sich vorsichtig tentakelnd voran und stoßen auf die Grenzen der benachbarten Bildzelle. Sie bilden etwa in _grau sanfte Fellflächen mit tausenden von Fasern, walzen sich im Ganzen durchs Bild, hinterlassen Licht- und Farbspuren. Seidel modelliert künstliche organische Welten zu Zeitgebilden, wie sie seit den frühen Stummfilmtagen in Staunen versetzen, als beispielsweise Pflanzen im Einzelbildverfahren aufgenommen wurden und in der Kinoprojektion auf magische Weise in kurzer Zeit sprunghaft wachsen und wieder verblühen. Das kontinuierliche Filmisch-Prozesshafte in Kombination mit der ästhetischen Anmutung von natürlichen Lebensprozessen bedient in Robert Seidels Arbeiten eine Lust am Schauen, die die Abstraktion gern annimmt.

 

Vorstudie für die Arbeit „fulcrum“

 

Diese Ästhetik bietet viele Anknüpfungspunkte für unterschiedliche Bereiche: Bildende Kunst, Wissenschaft, Film, Design, Musik. Seidel vermeidet trotz seines künstlerischen Arbeitsschwerpunktes und einiger kommerzieller Auftragsarbeiten einseitige Vereinnahmungen. Aber ebenso macht er Erfahrungen: Eine bedeutende Telekommunikationsfirma bedient sich für ihre Werbung ungefragt seiner originellen gestalterischen Handschrift; Förderer können die Arbeiten wiederholt nicht den selbst formulierten Förderkategorien zuordnen. Hinzu kommt, dass projektbezogene Förderungen oftmals nicht den notwendigen Raum für die aufwändige technische Erprobung bieten. Ein zentrales Labor für verschiedene Künstler der Projektionskunst wäre in seiner Vision eine Notwendigkeit, um wirklich aus den vorhandenen tradierten Rahmen auszubrechen. Zumal in rein wissenschaftlichen Einrichtungen der Zugang für externe Künstler zu den teuren Visualisierungsinstrumenten immer noch sehr limitiert ist: zum einen aus fehlendem Interesse an einer künstlerischen Zuspitzung, zum anderen aus Schutzgedanken für die laufende Forschung. Vornehmlich aus produktionsbedingten Gründen folgte nach _grau der teilweise Auszug aus dem Kino und die Hinwendung zu Projektionen in Galerien und im öffentlichen Raum. Teilweise, denn Robert Seidel erstellt regelmäßig „Dokumentationen“ zu seinen Projekten der Expanded Animation oder veröffentlicht Teile des Projektionsmaterials als Kurzfilm. Diese finden insbesondere im Kontext der Filmfestivals ihren Weg zurück ins Kino. Jedoch macht Seidel die Erfahrung, dass das Publikum bei den Projektionen außerhalb des Kinos weitaus offener mit abstrakter Animation umgeht, als im Kinokontext.

 

processes:living paintings, Phyletisches Museum, Jena (2008) auf Vimeo

 

Seine erste Fassadenprojektion  processes: living paintings bringt 2008 erneut Wissenschaft und Animation zusammen. Die Gebäudefront des Phyletischen Museums in Jena wird Leinwand für Seidels lebendige Malereien. Krakenhaft, mäandernd nehmen diese das Gebäude ein. Die aufscheinenden Urformen und ihre Transformationen stellen Bezüge zur Sammlung des von Ernst Haeckel 1908 gegründeten Museums zur Evolutionsgeschichte her wie auch zu Haeckels künstlerisch-kreativen Darstellungen seiner Forschungsergebnisse. Die visuellen Elemente ordnen sich der Architektur der Gebäudefront nur begrenzt unter. Regelmäßig wiederholte Architekturformen, wie etwa Fenster, und der Eingangsbereich werden spielerisch einbezogen. Durch die Fenster strahlen aus dem Gebäudeinneren Lichtchoreographien in Symbiose mit den Projektionsmalereien auf der Außenhaut. Die in Gegenrichtung verlaufenden Licht- und Videoebenen ergeben ein Duett. Dieses wird als Loop abgespielt, es gibt allerdings keine dauerhafte Wiederholung des Gleichen: Der musikalische Rahmen – eine Klangcollage von Robag Wruhme – hat Loopüberlänge und verschiebt sich dadurch permanent in Phasen zu den Bildern.

 

scrape, Seoul Square Media Canvas, Seoul, Südkorea (2011) auf Vimeo

 

Anders als die Kinoarbeiten, aber auch generell sind Projektionswerke des Künstlers ortsabhängig, sie stehen also vornehmlich im Austausch mit der lokalen spezifischen Bedeutung, Dynamik und Situation. Schauplatz für scrape (2011) ist der äußerst geschäftige Bahnhofsvorplatz in Seoul, der von unzähligen Werbebildschirmen eingefasst wird. Auf der Gebäudeoberfläche eines der Bürohäuser, dessen LED-bestückte Fassade zu jener Zeit eine der weltweit größten ist, blättern sich luminöse monochrome Schichten aus dem Dunkel heraus. An einem durch und durch kommerzialisierten Ort der Eile, saugt scrape aus dem Nachtdunkel das Werbelicht auf und schafft eine kontemplative Situation, die sich selbst genug ist und jedem ökonomischen Wert entzieht.

 

MUE, Palais des Beaux-Arts, Lille, Frankreich (2018)

 

Um auf die jeweiligen Gegebenheiten und Herausforderungen seiner Projektionsorte reagieren zu können, passt Seidel fortwährend seine Arbeitsprozesse an:

„Die Herausforderung von Projektionen und Installationen ist, das man sich Dinge ausdenkt, die vielleicht als Filmbild funktionieren, aber nicht mehr in der Projektion an sich. Da ist ein Bildbereich zu dunkel, die Bewegung zu langsam oder der Kontrast nicht hoch genug. Ich halte mir daher die gestalterischen Möglichkeiten offen und bringe mein Material erst vor Ort in die finale Form.“

Die spätere Umsetzung der Dokumentation zu den Projekten im Kurzfilmformat ist damit die künstlerische Herausforderung, eine offene Form schließen zu können.

 

advection, MuseumsQuartier, Wien, Österreich (Fassung 2015) auf Vimeo

 

Robert Seidel behält das Prozesshafte des Filmischen bei, löst sich trotzdem immer weiter vom Kino, indem er sich verstärkt mit Projektionen im wirklichen Raum auseinandersetzt. In advection (2013) werden abstrakte Lichtmalereien auf eine Wasserfontäne projiziert. Körperlos schweben fluide Formen wie riesige Pinselstriche oder Kristalle auf einer Fontäne bei der Lichtsicht Projektions-Biennale Bad Rothenfelde und wirken umso organischer und räumlicher, weil die Wassermassen keine statische Leinwand bilden und sich das Licht kontinuierlich in ihnen bricht.

 

folds, Lindenau Museum, Altenburg (2011) auf Vimeo

 

Ganz im Gegensatz dazu, bringt der Künstler in folds (2011) statische, aber nicht plane Flächen zum Atmen. Im Lindenau Museum in Altenburg bekleidet er mit abstrakten, farbigen Lichtfaltungen Gipsabgüsse von antiken Skulpturentorsos. Das sich bewegende Licht legt sich verzerrend um Rundungen, nistet sich in dunkle Falten ein und bildet an unerwarteten Stellen künstliche Schatten, um sogleich weiterzuziehen. Die räumliche Dimension der Plastiken wird vervielfacht und überformt. Sie ist erfahrbar, ohne den Betrachtungsstandort ändern zu müssen. Der reale Torso schimmert durch die Projektion durch, verändert fortwährend seinen Charakter – wird in der Schwebe zwischen Vision und Illusion gehalten.

 

tempest, Digital Graffiti Festival, Alys Beach, USA (2017) auf Vimeo

 

Eine ähnliche Umdeutung von Vorgefundenem setzt Robert Seidel in weitaus größerer Dimension 2017 für das Digital Graffiti Festival in Alys Beach, Florida um. Die Installation tempest bezieht Gebäudefronten, künstlichen Nebel, Wasserfontänen und Teile einer Parklandschaft ein und strukturiert den Raum mit unterschiedlichen Mal- und Zeichentechniken sowie einer Klanglandschaft seines langjährigen Mitstreiters Nikolai von Sallwitz. Die Leinwand wird zum Volumen und verteilt sich rahmenlos in Höhe, Breite sowie Tiefe, abhängig davon, wie viel und wo das Licht von den windgetriebenen Nebelschwaden und der Natur reflektiert wird. Die faszinierende Schönheit, mit der die Umgebung von kräftigen Farben und Strukturen überzogen wird, verunsichert durch ihre Unstetigkeit. Seidel gestaltete tempest (in Anlehnung an Shakespeares „Der Sturm“) mit dem Wissen um die drastisch wechselnden Witterung an diesem Ort. Die illuminierten Bäume erscheinen wie die wahr gewordene Beschwörung des Zauberers Prospero, als während der Projektion ein Unwetter ungeplant zusätzliche Bewegungen und Blitze in die Installation trägt.

 

black mirror, Young Projects, Los Angeles, USA (2011) auf Vimeo

 

Die Projektion wird bei der Trilogie black mirror (2011),  tearing shadows (2013) und grapheme (2013) zur skulpturalen Installation – Seidel bricht die Leinwand zu einem begehbaren Film auf. Hierfür werden im Raum komplexe organische Papier- beziehungsweise Kunststoffformen angeordnet, sie sind plastische Abbilder seiner Zeichenstudien. Letztere hat der Künstler über eine längere Zeit tagebuchartig gesammelt.

 

tearing shadows, 401contemporary, Berlin (2013) auf Vimeo

 

grapheme, Museum Wiesbaden (2013) auf Vimeo

 

Die Übertragung der Zeichenstudien in die dreidimensionale Wirklichkeit des Ausstellungsraums, der Wandelgang durch die fragilen Skulpturen und die sich folglich verändernden Bezüge dieser zueinander, die kurzzeitige Verwandlung der Skulpturen durch die darauf projizierte, sich bewegende Malerei: die Trilogie gleicht einem unaufhörlichen Prozess der Vergegenwärtigung. Die Skulpturen geben sich in einem Moment wie feste, greifbare Körper im Raum, um sich im nächsten Moment beinah immateriell zu benehmen.

 

vitreous, Target City Lights Medienfassade, Minneapolis, USA (2012) auf Vimeo

 

vitreous, Experimentalfilm (2015) auf Vimeo

 

Abstrakte Zeichenstudien bilden ebenfalls das Ausgangsmaterial für vitreous. 2012 als großformatige LED-Fassade und 2015 final als Kurzfilmfassung ausgestaltet, formt Seidel hierfür aus gezeichneten zweidimensionalen Elementen virtuelle Skulpturen, die ein Eigenleben führen, miteinander agieren, sich zu komplexen Geflechten verwinden. Diese Zwitterwesen verheimlichen nicht ihre angeborene Flächigkeit, holen aber zugleich in die Bildtiefe aus.

 

Crystallized Skins, Online-Ausstellung (2015/2016)

 

In einem seiner kuratorischen Projekte schlägt Robert Seidel einen weiteren Weg ein. Während seine Kuratierungen etwa für das Filmmuseum Wien, die Kunstsammlung Jena, die Denver Film Society oder das Künstlerhaus Bethanien klassische Ausstellungs- und Screeningformate bedienen, widmet sich Crystallized Skins, ein Pavillon der „The Wrong – New Digital Art Biennale“ (2015/2016), virtuellen Plastiken, die von dreizehn internationalen Künstlern geschaffen wurden. Deren Materie sind Polygone, die Gestaltungs-DNA entspringt der digitalen Animation. Weiß, texturlos und statisch verweisen diese Plastiken auf geschichtsträchtige Gipsabguss-Sammlungen antiker Skulpturen. Allerdings existieren sie in einer Schwellenzone der Wahrnehmung: Im Pavillon können sie dreidimensional erfahren werden, also so wie sie ursprünglich konzipiert wurden. Ihr eigentliches Habitat bleibt aber der zweidimensionale Film.

 

Esmark – Husby-klit bk., Musikvideo (2017) auf Vimeo

 

Mit Husby-klit bk. kehrt Robert Seidel 2017 auch zur Leinwand zurück. Allerdings ist die Arbeit darüber hinaus in vielen anderen Kontexten zu Hause. Im Dialog mit dem gleichnamigen Musikstück der Band Esmark (Nikolai von Sallwitz und Alsen Rau) bewegt sich Husby-klit bk. zwischen Musikclip, Visualisierung von Sounds bis hin zu Experimentalfilm und Installation – je nach Ausstellungszusammenhang. Wie bei vielen anderen Arbeiten nutzt Seidel selbstentwickelte Software, um sich hier insbesondere auf den Live-Performance-Charakter der Arbeitsweise von Esmark einzulassen, um seine Bildelemente zu den Klangelementen etwa bei der Soundart 2018 im Kölner Funkhaus des WDR instinktiv und improvisatorisch zu kombinieren. Der Clip im Netz beziehungsweise Film im Kino bleibt also nur eine Fassung, eine Interpretation jener Situation, in der sie entstanden ist.

 

Esmark – Husby-klit bk., Ausstellungsansicht Museum Weilheim (2018) auf Vimeo

 

Im Stadtmuseum Weilheim wird Husby-klit bk. hingegen szenografisch eingesetzt. Ein Museumsraum wird zum Diorama, auf der die rauschhafte Struktur der projizierten Videobilder über regionale historische Alltagsgegenstände und über die Wände gleitet. Teilweise hat Seidel hierfür einzelne Exponate gesondert eingerichtet. So wächst ein kleines Weihrauchgefäß kurzzeitig zu einem riesigen Schattenturm heran, der einen Moment später wie eine Chimäre wieder im diffusen, pulsierenden Nebel des Videolichts verschwindet. Die Oberflächen der Museumsgegenstände werden durch die visuelle Wahrnehmung haptisch neu bewertet. Das statische Geschichtsbild, das der Raum als museale Inszenierung behauptet, gerät ins Wanken, Größenverhältnisse verändern sich, flackernd treten Verzerrungen auf. Die Überhöhung durch die Videoprojektion schafft einen neuen Fokus.

 

sputter, Serie von Mikro-Skulpturen unter dem Elektronenmikropskop, (2015)

 

Eine solche Gestaltungsweise ist für Robert Seidel Ergebnis eines langen Erfahrungsprozess:

„Vor fünfzehn Jahren hätte ich in dem Museum versucht, ein Stück saubere Wand zu finden, die mir für die Projektion als Leinwand dient. Aber der Ort lud dazu ein, verändert zu werden. Nichtsdestotrotz arbeitete ich hier allein schon durch das Fachwerk mit einem weit mehr geschlossenen Rahmen als beispielweise bei dem völlig offenen tempest. Dieser Ansatz eignete sich sehr gut, da viele Artefakte in Museen häufig in Rahmen und Vitrinen präsentiert werden. Vom Betrachter werden Dinge in solchen Rahmen oft als Ausschnitt gedacht – im Sinne eines Fensters zu etwas Größerem. Ohne einen solchen Rahmen muss man jedoch die Illusion schaffen, dass etwas groß und umfassend ist, weil die Schnittkanten fehlen, die suggerieren, dass es außerhalb von ihnen weitergeht. Dafür sind wiederum technische Hürden zu nehmen, die eine Produktion unter anderem wegen den benötigten leistungsstarken Projektoren kostenintensiv machen. Die künstlerische Leistung wird dann schnell zu einem Bruchteil der Kalkulation.“

 

tarnish, Kunsthaus Erfurt (2018/2019)

 

Das verfremdete, im Ursprung reale Videomaterial in Husby-klit bk. deutet mit flüchtigen Formen auf Fundstücke eines Waldspaziergangs. Rinde, Farne, verstreute Sonnenflecken auf Gras schimmern durch Bildüberlagerungen. Grundstock bilden Reiseaufnahmen, die Robert Seidel ohne bestimmtes Ziel aber aufgrund ihres visuellen Ausdrucks eingesammelt hat. Die Aufnahmen lösen sich zwar später sowohl im Erinnerungs- wie auch im Arbeitsprozess von ihrer spezifischen lokalen Herkunft, deren Konturen lösen sich aber nie völlig auf und beeinflussen somit den aktuellen Wahrnehmungsprozess. Ob im Kino, in der Galerie bzw. dem Museum oder in der offenen Landschaft schafft Robert Seidel so ästhetische Zwischenorte.

 

www.robertseidel.com
instagram.com/studiorobertseidel

 

 

(1) Zitate im Text entstammen einem Interview des Autors mit Robert Seidel am 5.11.2018 in Berlin.