Schritte in die Krise
Notizen zum Aufeinandertreffen von Clara Winter und Miiel Ferráez

Porträt

RETRIBUTION ON LOW CHARGE (in Postproduktion) © Clara Winter & Miiel Ferráez

Ein französischer Junge sitzt in Mexiko im Ballettunterricht, es ist eine Mädchenklasse und er spricht kein Wort Spanisch. Nur eine der der Tänzerinnen beachtet ihn schließlich, setzt sich zu ihm, zeigt und kommentiert die wichtigsten Posen. Er malt einen Vogel, das fällt ihr auf. Das Bild überwindet die Sprachbarriere, ebenso wie ihre Gesten. Ihre Finger tanzen auf seinem Bein. Sie nimmt den Stift und malt neben seinen Vogel einen zweiten. Der ist ganz anders als seiner – rudimentärer, fast eine Skizze, ziemlich ulkig – und komplettiert doch das Bild. Beide Bilder könnten für die Hoffnung auf Freiheit stehen und den Drang nach Beweglichkeit. Ein Film, der unmissverständlich macht, dass er interpretiert werden will: Das Mädchen leidet unter den Regeln des Unterrichts. Der Junge hat nur einen Tag zuvor eine Reise um die halbe Welt hinter sich gebracht. Sein gezeichnetes Flügeltier sitzt dennoch ziemlich gemütlich auf einem Ast.

 

Eine Szene aus „assemblé“, dem Diplomfilm des mexikanischen Künstlers Miiel Ferráez von 2011 – eingebettet in eine klassische, drehbuchbasierte Erzählung. Heute erforscht er mit der Leipziger Videokünstlerin Clara Winter einen vergleichsweise leichtfüßigen, politisierten Filmbegriff. Ihre jüngste Arbeit „Wir sprechen heute noch Deutsch“ (2019) war gerade in den Medien, weil die beiden mit dem Deutschen Kurzfilmpreis in der Kategorie Experimentalfilm ausgezeichnet wurden. Im Film steht Ferráez selbst vor der Kamera, trägt Textfragemente aus deutschen Integrationskursen für Immigrant*innen vor. Er steht vor Gebäuden, die deutschen Unternehmen gehören, vor deutschen Autos und Restaurants, natürlich auch vor dem deutschen Goethe-Institut: deutsche Orte, an denen der deutsche Beitrag zur Globalisierung sich international manifestiert.

 

WIR SPRECHEN HEUTE NOCH DEUTSCH © Clara Winter & Miiel Ferráez

 

Bereits fünf Filme entstanden aus der mittlerweile mehrjährigen Zusammenarbeit der beiden, tatsächlich ist das dynamische Duo in allen selbst vor der Kamera aktiv und versucht, sich an zunehmend ausgestellten Positionierungen, Halbfiktionen und Zeichenspielen. Bei ihrer Begegnung trafen filmische Stile aufeinander, die verschiedener kaum sein konnten – das Resultat waren neue Fragen und Methoden. Die Filme der beiden protokollieren neben ihren expliziten Fragestellungen zu sozialem Status und Nationalität allem voran eine künstlerische Evolution und die Entwicklung eines transkulturellen Stils. Ihre Experimente wirken sowohl im Verhältnis zum deutschen, als auch mexikanischen Kino erfreulich deplatziert.

 

Clara Winter hatte mit geradlinig dokumentarischen Arbeiten begonnen, von 2011 bis 2014 entstanden intime Filme über ihr Umfeld, gedreht in der linken Szene in Toulouse, wo sie zeitweise an der École Supérieure des Beaux-Arts studierte, parallel dazu arbeitete sie in Leipzig interdisziplinär, unter anderem im Rahmen eines Bandprojekts, aus dem ein Musical und eine Ausstellung hervorging. Die französischen Arbeiten der Zeit erforschen die filmische Grundgrammatik und sind ausdrücklich einzelnen Menschen gewidmet, Winter und ihre Kamera gehen in konzentrierte Dialoge mit Anarchisten: „Mika“ (2012), „Laurent“ (2012) und „Olivier“ (2013) sind Portraits. Die Filme erzählen von Männern, die gegen das System anrennen, vom Squatten, von der Verteidigung ihres Wohnraums gegen Besitzansprüche und Polizeigewalt, von einem Joghurtangriff auf Sarkozy und wahnwitzigen Fahrrädern, letztlich von Utopien und dem nötigen Optimismus, um die Welt am Laufen zu halten. Sie bestenfalls umzukrempeln.

 

MIKA (Clara Winter, 2013) © Clara Winter

 

„Mika“ ist aufwühlend. Der titelgebende Mensch erscheint erst gar nicht im Bild, denn er ist bei einem Streit durch einen Schuss ins Herz gestorben – mitten im Hausprojekt, das er bewohnte und damit dort, wo sich Clara Winter zu der Zeit regelmäßig aufhielt. Das erschüttert die Lebensrealität aller: Clara Winter nutzt ihre Gedanken als tagebuchartigen Spiegel und spricht über die eigene Wahrnehmung des Vorfalls – über Trauer, Gruppendynamik, den notwendigen Umgang mit der Polizei und deren Ermittlung, das Verhör zum Fall, die kurzfristige Inhaftierung der Hausgemeinschaft für eine Nacht, den Verdacht der Autoritäten, die letztliche Räumung des Projekts. Am Ende steht dennoch eine leichte Geste. Die Freude darüber, am Leben zu sein und nicht in Haft, verbunden mit einer Anekdote zum Kino. Auch Laurent, der dem zweiten Film der Reihe seinen Namen leiht, spricht von der Überwindung von Pessimismus: „It’s not very difficult.“

 

Winter scheut in den Filmen aus der Zeit nicht den Blick auf sich selbst im Spiegel der Verhältnisse, den Blick auf unmittelbare Lebensrealitäten und Menschen im Freundeskreis. Die Filme sind geprägt von Distanzlosigkeit. Auch „Beziehungsarbeit“ (2012-2013, mit Lina Walde) und „L’absence de marquage“ (2014) funktionieren dokumentarisch. Doch es gilt nun, Situationen für die Kamera zu provozieren: Winter und Walde flirten mit Fremden, betrinken sich, philosophieren. Bei „L’absence de marquage“ setzt sich Clara Winter dann in Autos, im permanenten Transit, im Gespräch mit den Menschen am Steuer und den Beifahrer*innen. Wenn diese während der Fahrt etwas von sich preisgeben, kontert sie mehrfach mit Privatem, verarbeitet eine Trennung. Eine Notiz dazu wird ihrem Ex-Freund zugeschrieben, dem der Film auch gewidmet ist.

 

In ihrem ersten Film mit Miiel Ferráez meint Clara Winters Stimme dann, sie habe den jungen Mann in Mexiko gefunden und präsentiert ihn als Filmemacher. Ein Augenzwinkern ist eingekehrt, das wird gleich klar: Das gemeinsame Erzählen ist ein doppelbödiges. Die Europäerin spricht über den Mexikaner, berichtet von einer gemeinsamen Reise, die scheitert. Clara und Miiel sind sie selbst und servieren sich der Kamera gleichzeitig als halbdokumentarische Zeichen: „Just Kids Left Alive On the Road“ (2014), der Titel benennt nicht mehr nur Menschen, sondern auch Stereotype. Those kids are like many kids.

 

JUST KIDS LEFT ALIVE ON THE ROAD © Clara Winter & Miiel Ferráez

 

Miiel Ferráez hatte sich kurz zuvor mit dem inszenatorischen Spielen beschäftigt, mit verschwimmenden Realitätsebenen: „El Cursor Intermitente“ (2013) ist ein Film über einen Mann in Mexiko, der eine Geschichte schreibt. Ihn beschäftigt, wie schon den Jungen bei „assemblé“ das Verlassen der Heimat, das sich losreißen, ein Gefühl der Verlorenheit. In einer bebilderten Fantasie trifft der Autor auf eine Frau, mit der er durchgebrannt ist, setzt sich zu ihr ans Wasser und denkt über neue Schritte im Leben nach. Als es im Nebenzimmer des Hotels lauten Streit unter Gangstern gibt, gerät auch der Frieden am erträumten Fantasiestrand des Schriftstellers aus den Fugen, bis hin zur Eskalation. Die Erzählebenen kollabieren ineinander, der Autor hat den Sinn für das Hier und Jetzt verloren.

 

Die Zusammenarbeit des Duos wird sich das bewusste Verformen des Realen immer stärker zu Nutze machen. Nachdem beide in „Just Kids Left Alive On the Road“ eine Art Persiflage auf die eigenen Mittelstandsgefühle formuliert haben, überzeichnet „Postcolonialism in 30 sqm“ (2015) die Befindlichkeiten dann noch deutlicher: Winter mimt eine Europäerin in Mexiko, die aus schlechtem Gewissen in den Haushalt eines jungen Mexikaners eindringt und diesen ganz nach ihrem Empfinden umfunktioniert. Sie stellt sich in den Dienst der postkolonialen Wiedergutmachung, so die Ansage. Doch bald werden Regeln eingeführt, wo keine waren, während die Kamera als Tagebuchersatz beider fungiert und zunehmend frustrierte Anklagen aufsammelt. In regelmäßigen Abständen unterstreicht der Film seine Gemachtheit und präsentiert sich in hektisch aufflammenden Lettern als Karikatur einer Reality-Soap. Die Situation spitzt sich zu, letztlich verhandelt sich im Kleinen, was den alten und neuen Kolonialismus im Großen kennzeichnet: Opportunismus und Überheblichkeit, vorgetragen mit einer scheinheiligen Naivität.

 

POSTCOLONIALISM IN 30 sqm © Clara Winter & Miiel Ferráez

 

Letztere wird zur ästhetischen Methode des Duos, die den sozialrevolutionären Subtext der Filme unterstreicht. Das überzeichnete Klischee einer Ahnungslosigkeit, die schadet – auch auf der Seite der Kunstproduktion – wird in praktisch jeder Arbeit wiederkehren. Als Gegenüber von Clara Winter gelingt es Miiel Ferráez dabei, sich im Sinne dieses Stilmittels immer wieder neu zu erfinden. Vom beinahe stummen Begleiter einer Wohlstandsexpedition in Mexiko aus „Just Kids Left Alive On the Road“ wird er bei „Postcolonialism in 30 sqm“ zum Opfer der beschriebenen europäischen Privatverschwörung, dann bei „Poor People Relax Me“ (2017) zum allwissenden Kommentator, der Clara Winter künstlerischen Opportunismus andichtet. Letztlich tritt er als personifizierte Globalisierungskritik auf und rezitiert bei „Wir sprechen heute noch Deutsch“ die absurdesten Lehrsätze.

 

Winter fungiert in den gemeinsamen Filmen zunächst als dominierende, selbstironische Erzählerin, liefert Steilvorlagen für Pointen und arbeitet sich an der eigenen Künstlerinnen-Persona ab. Nach „Poor People Relax Me“ tritt sie dann zunehmend in den Hintergrund. Die Filme bewegen sich hin zu abstrakteren Fragen und Arrangements: „Beyond Beach“ funktionierte bei Experimentalfilmfestivals besonders gut, ist die strengste Arbeit. Winter und Ferráez treten hier als Leitfiguren zurück und ordnen sich einem Panorama von Klischees und Archetypen unter. Touristen bestimmen den Film, Menschen aus Wohlstandsnationen, die endlich mal wieder raus wollen. Was bei „Just Kids Left Alive On the Road“ eine halbromantische Spinnerei war, ist hier der industrialisierte Endpunkt, aus spontanen „Hippie-Aktionen“ sind ganze „Latin-American Adventures“ als Konsumprodukt geworden: Das Abhängen am Strand und die Abkehr vom Humanismus bilden hier eine heimelige, sonnengewärmte Einheit. Eine Frau erzählt das direkt in die Kamera: „On the whole, I’m not good. It’s not one of my character traits.“

 

BEYOND BEACH © Clara Winter & Miiel Ferráez

Die Frau heißt Megan Marsh und kam schon einmal vor, als befreundete Künstlerin Clara Winters in „Poor People Relax Me“. Sie ist nicht die einzige Vertraute innerhalb des gemeinsamen filmischen Kosmos. So erscheint andernorts etwa Ferráez Stammschauspielerin Sophie Gómez und gibt eine überstrenge Kuratorin, die Clara Winters Aufnahmen von Hot Dogs bewerten soll. Die filmische Einstellung sei nicht ausreichend „site-specific“ für ein mexikanisches Kunstwerk, meint sie.

 

Die Erweiterung der filmischen Performances von Winter und Ferráez um ein wiederkehrendes Ensemble betonen einerseits die zunehmende Künstlichkeit und Verspieltheit ihrer filmischen Entwürfe, andererseits verwischen sie, was insbesondere in Winters früheren Filmen noch deutlicher spürbar war: einen Sinn für die Klarheit der Verhältnisse, die agitiert werden. Mehr als einfach zu definieren, werfen die gemeinsamen Arbeiten Fragen dazu auf, welches Maß an Ironie eine sozialrevolutionäre und kunstpolitische Forderung verpuffen lässt oder ihr gerade erst zur Entfaltung verhilft. So taucht etwa Hito Steyerls Frage nach dem blinden Fleck der Kunst – also nach den unmittelbaren Bedingungen der Produktion und Rezeption – in „Poor People Relax Me“ gerade einmal als winzige Randnotiz auf, verbunden mit einem Wortspiel zu Wäscheleinen: „I lost the line“. Wäre die Frage nur unmerklich größer, entkäme der Film kaum noch seinen didaktischen Tendenzen. Das ging gerade noch gut.

 

Die offensichtliche Neugierde auf Farce und Kostümierung, die Idee der Kunstpersona als Chamäleon überrascht bei Clara Winter als Meisterschülerin von Bjørn Melhus (Kunsthochschule Kassel) zunächst wenig. Und begeistert doch mit jedem neuen Schritt, weil sich in ihrer Generation, ihrem Geschlecht, ihrem Milieu, letztlich in den resultierenden Codes und Methoden andere Fragen verhandeln, als sie Melhus selbst aufwerfen könnte. Miiel Ferráez wählt im parallel entstandenen Soloprojekt „El Misericordioso Vampiro de la Miseria“ (2016) und seinem Segment der gemeinsamen Videoarbeit „The remorseless goatgrinder of capital“ (2018) einen ernsteren Tonfall. Er erscheint letztlich als Dialogpartner, dessen gemeinsam herausgearbeiteter Blick auf das spezifisch Lächerliche ihrer privilegierten Position eine Ironie gleichermaßen unumgänglich und überhaupt erst möglich macht. Der Humor wird zum Weg, sich den aktuell nötigen europäischen Identitätskrisen überhaupt anzunähern. Interessant werden die Schritte sein, die aus dieser Krise resultieren.

 

Filmografie:

2019

WIR SPRECHEN HEUTE NOCH DEUTSCH

TERRIBLE BUT BEARABLE

2018

BEONYD BEACH

THE REMORSELESS GOATGRINDER OF CAPITAL

2017

POOR PEOPLE RELAX ME

2016

EXPLORERIN 2009

MAXIMUM SURRENDER

2015

POSTCOLONIALISM IN 30 sqm

2014

JUST KIDS LEFT ALIVE ON THE ROAD

2013

BEZIEHUNGSARBEIT 2 (mit Lina Walde)

THE BORING FEELING OF NOTHING

I HATE YOU BUT I FUCK YOU

OLIVIER

2012

MIKA

LAURENT

BEZIEHUNGSARBEIT 2 (mit Lina Walde)

2011

INTERIOR