„Eingeschränkte Möglichkeiten machen frei“ –
Die Animationsfilmemacherin Sonja Rohleder

Porträt

KOLUMBUS – Arbeitsprozess © Sonja Rohleder

 

Kolumbus schaut glücklich von den Schwingen der Taube, die ihn über und durch die Welt trägt. Visualisiert durch einen Scherenschnitt, ein Profil, das nur aus Nase und einem einzigen Auge zu bestehen scheint, erscheint er als Anti-Version des Entdeckers – verschmitzt, bodenständig, ganz ohne Ambitionen, Besitzanspruch anmelden zu wollen. Es ist ein ungewöhnlicher Protagonist, den Sonja Rohleder da in Co-Regie mit Veronika Samartseva für Keimzeits Song Kolumbus animiert hat und der doch prototypisch für Rohleders Animationsstil und Produktionsprozess steht: reduzierte Charaktere, die sich aus dem schwarzen Hintergrund herausschälen; subtiles Augenzwinkern und doppelter Boden, einfach, aber doch mit großem Interpretationsspielraum. Und bitte mit viel Musik dazu.

 

Kolumbus (2012) war ein wichtiges Projekt für Sonja Rohleder, deren Filme unter anderem mit dem DEFA Förderpreis oder mit dem Short Tiger Award ausgezeichnet wurden. Und deren neuestes Projekt, die Trailer-Kampagne für den KURZFILMTAG am 21. Dezember 2023, am 21. September veröffentlicht wird. Ein Musikvideo, das sie nicht zu den Auftragsarbeiten oder Brotjobs zählt, weil ihr der Keimzeit-Sänger, Norbert Leisegang, von Anfang an, großen Freiraum geschenkt hat. So durfte sich Rohleder nicht nur den Song frei auswählen, sondern auch das Video in Absprache selbständig entwickeln.

 

Das Musikvideo – dem später noch ein weiteres, nämlich Das Schloss, folgen sollte – war auch konzeptionell ein Aha-Erlebnis für die Filmemacherin. Es sollte nämlich das erste Projekt werden, bei dem Rohleder aus einer schwarzen Fläche heraus arbeitete. Sie sagt dazu: „Das Schwarz ist für mich der Raum, das Weiß hingegen die Wand“. Für Kolumbus kreierte sie die Welt zusammen mit Samartseva aus analogem und digitalem Legetrick. Zwar arbeitet sie in Projekten auch mit Zeichentrick, 3D Animation und Motion-Design. Für die eigenen Arbeiten findet sie jedoch immer wieder zum Cut-out zurück.

„Die begrenzten Möglichkeiten des Legetricks machen mich frei“,

sagt sie dazu auch.

 

COCOON CHILD © Sonja Rohleder

 

Im Vorgängerfilm und Abschlussfilm an der Film Universität KONRAD WOLF, Cocoon Child (2009), ist dieser Wille zur Reduktion bereits sichtbar. Hier erzählt Rohleder in „Zuckerwatte“-Farbpalette von einem Kind, das ein bisschen anders ist als alle anderen und nicht mit der Puppe spielt, sondern mit der Kette, die diese trägt. Die Kette wird nicht nur zum glücksbringenden Universum, sondern bietet auch die Möglichkeit zur Kommunikation mit anderen Menschen. Cocoon Child liegt Rohleders Auseinandersetzung mit den autobiografischen Erinnerungen der autistischen Autorin Donna Williams zugrunde, die die Filmemacherin mit der Darstellung eines völlig anderen Zugangs zur Welt nachhaltig beschäftigten. Durch seine vage beschriebene Handlung (und das absichtlich fehlende Wort „Autismus“ in der Synopsis) bleibt Cocoon Child aber auch offen für andere Interpretationen. So erhielt sie Zuschriften von Zuschauer*innen, deren Kinder mit verschieden Formen von Einschränkungen leben – der Film berührt(e) eben das Publikum auf unterschiedlichste Weise. Das ZDF kaufte schließlich die Rechte an dem Film für seine Kindersendung Siebenstein, vielleicht gerade wegen oder aber trotz der Ernsthaftigkeit und Spezifik des Themas.

 

DAME MIT HUND © Sonja Rohleder

 

Nach Cocoon Child und Kolumbus verfeinerte Rohleder ihren minimalistischen Stil zusehends. Bei der Entwicklung von Dame mit Hund fragte sie sich beispielsweise

„Wie weit kann man das Konzept von Kopfkino eigentlich führen?“

und entschied sich, gar keine Charaktere in Gänze zu zeigen, sondern nur die Spuren zu sichtbar zu machen, die diese auf der Fläche hinterlassen. Das Ergebnis: Weiße Pfoten, Brutkrumen etc. auf schwarzem Grund, mit einem beachtlichen Gefühl für Rhythmus und Bewegung animiert. Dabei stammt der digitale Legetrick von Rohleder selbst und Charaktere wie der Hund von Veronica Solomon, die sie mit klassischem Zeichentrick animierte. Bei der Tongestaltung vertraute sie auf den Instinkt von Michal Krajczok, mit dem sie seit Cocoon Child immer wieder zusammenfindet.

 

Es ist nicht das einzige Projekt im Oeuvre Rohleders, das sich wie ein klassischer Film aus den Anfängen der Animation ausnimmt, weil sie Retro-Charme ausstrahlen, Nostalgie atmen. Für Rohleder selbst nicht weiter verwunderlich: Während sie Oskar Fischinger und Walter Ruttmann im Studium nur peripher wahrnahm, fungieren die Werke beiden Künstler inzwischen als Quelle von Ideen. Dazu passt, dass sie sich auch bei Spielfilmen zum Teil zu Klassikern hingezogen fühlt, die eher stark statt naturalistisch inszeniert sind (wie z.B Fritz Langs Metropolis):

„Ich brauche Distanz und Zauber, damit ich eine Nähe zum Stoff aufbauen kann, Platz habe, zum Kern durchzudringen“.

Distanz ist für sie also auch inhaltlich eine Form der Auslassung, der Begrenzung, die freies Denken möglich macht.

 

NEST © Sonja Rohleder

 

In den danach folgenden Arbeiten, Nest (2019) und Somni (2023), der gerade auf den Festivals zu sehen ist, perfektionierte Rohleder das rhythmische Moment – und arbeitete weiterhin mit Charakteren, denen mal ein Hals, mal der Torso oder ein Bein fehlte. Der Handlungsbogen von Nest: Ein besonders extrovertierter Paradiesvogel versucht krampfhaft, ein paar Vogeldamen zu becircen – nur um am Ende zu entdecken, dass diese auch perfekt ohne ihn auskommen. Obgleich der Film in der Sektion Berlinale Generation Kplus seine Premiere feierte, ist er ähnlich wie Cocoon Child mindestens doppelbödig: Könnte sich in diesem wilden und aussichtslosen Posing nicht sogar ein beschwingter, leiser Kommentar zur Obsoleszenz der Männer angesichts von In-Vitro und Co verstecken?

 

Ausgangspunkt für die Filmidee –eine Hommage nicht nur an die Paradiesvögel von Papua-Neuguinea, sondern auch an Norman McLaren – war die Musik: Yma Sumacs Album „Legend Of The Jivaro“. Das Album der peruanischstämmigen Sängerin, die mindestens vier Oktaven beherrschte und deswegen auch als „Singvogel“ galt, lief konstant, als Rohleder an Nest arbeitete. Während Rohleder dann auf die von Jens Heuler stammende, passende finale Musik – ein Tiki-Jazz-Song – wartete, widmete sie sich einem Projekt, das ebenfalls mit Musik eng verknüpft ist: Quiet, basierend auf einem Stück des Avantgarde-Pianisten Nils Frahm, dessen Musik sie bereits für Cocoon Child verwendet hatte. Quiet ist für die Regisseurin ein wichtiger Film, weil sie bei der Produktion auf alle Vorbereitungen wie Storyboard oder Script verzichtete und stattdessen ein einfaches Regelwerk von Gestaltungsmerkmalen aufstellte, und von dort aus die Animation beginnen ließ.

 

QUIET © Sonja Rohleder

 

Es ist ihr bislang experimentellster und einziger abstrakter Film, ein flirrendes, nebliges Tanzen von Kreisen und Strichen, eine Mischung aus Zeichnungen und digitaler Animation. Die Abstraktion und das Herumexperimentieren – Vorbilder sind Robert Seidel oder auch Max Hattler – habe ihr viel Freude gemacht, ihren für die Motivation so wichtigen Spieltrieb befeuert. Die Beschäftigung mit Abstraktion und assoziativen, innerlichen Prozessen floss danach auch in Anne Isensees Intro ein, an dem Rohleder mitanimierte – ein Film, der sich auf spielerische und doch ernsthafte Art und Weise einer oft unsichtbaren Protagonistin des Filmbetriebs widmet: Der Audiodeskriptorin, und ihre Gedanken wortwörtlich sicht- sowie hörbar macht. Rohleder glaubt ohnehin, dass sich nicht nur Künstler*innen untereinander, sondern auch singuläre Werke weiterbefruchten.

 

Die Obsession für Musik und auch Musikvideos stammt bei Rohleder im Übrigen bereits aus der Teeniezeit: Damals diskutierte sie regelmäßig mit ihren Freund*innen die neuesten Videos von Künstlern wie Michel Gondry, Jonas Åkerlund und Shynola. Die interessantesten Videos wurden gesammelt „so wie andere Sticker in ihre Alben klebten.“ Es war das goldene Zeitalter der Musikvideos, als es noch üppige Budgets gab und die Bewegtbild-Künstler*innen hinter den Filmen zu Bekanntheit kamen. Die Faszination für dieses Medium war so stark, dass sie auch ihre Abschlussarbeit an der Filmuniversität KONRAD WOLF über Musikvideos schrieb.

 

SOMNI © Sonja Rohleder

 

In Somni, der wie Nest in der Sektion Berlinale Generation Kplus Premiere feierte, wird wie beim Vorgängerfilm neben dem Einfluss der Musik auch ein anderer wichtiger Bestandteil ihrer Inspirationen deutlich (zu denen im Übrigen auch Anime gehört): Art Nouveau, denn die elegante, reduzierte, fluoreszierende Animation hat schon fast ornamentale Züge. Orientiert hat sich Sonja Rohleder bei der Form ihrer Hauptfigur an den Hei-Tikis, den Ornamenten der Māori, die oft um den Hals getragen werden. In Somni schläft ein Affenkind ein und gleitet dann auf seiner Traumreise durch einen Urwald hinab, direkt in die Arme seiner Mutter. Es ist tatsächlich das einzige Projekt, das Rohleder auch selbst als „Wiegenlied für kleine Kinder“ konzipierte: Nachdem die Vorgängerfilme von den Kurator*innen und Juror*innen schon meistens in der Kinderkategorie eingeordnet wurden, beantragte sie hier erstmals auch Kinderfilm-Förderung.

 

Trailer KURZFILMTAG 2023 © AG Kurzfilm

 

Während Somni, mit der abermals von Jens Heuler komponierten Musik, gerade noch um die Welt tourt, hat Sonja Rohleder bereits neue Projekte abgeschlossen. Dazu gehört auch der Teaser für den KURZFILMTAG 2023, den sie zum Thema „In der Schwebe“ kreierte: Mit einem Scheinwerfer werden separate, schwebende Szenen beleuchtet, in denen mal Paare, Freundeskreise oder auch eine Frau mit Hund beisammensitzen. Als dann das KURZFILMTAG-Logo wie ein beginnender Film aufleuchtet, zeigt sich: diese individuellen Inseln sind ganz nah beieinander, hängen sogar zusammen. Rohleder findet sich in dem Trailer auch selbst wieder: Sie schaue am liebsten in Gemeinschaft Filme und diskutiere sie im Anschluss. Mit ihren Kolleg*innen des Animationskollektivs Talking Animals macht sie deswegen auch immer wieder Filmabende. Mit dem Kollektiv, arbeitet sie vor allem für Auftragsarbeiten wie die VR Experience TOM House oder für Arte 42 zusammen – ihre eigenen Filme animiert sie hingegen fast immer allein. Warum eigentlich? Sie wünscht sich bei ihren eigenen Filmen den Luxus von Zeit und Freiheit zur Improvisation, die keine genaue Aufgabenteilung, keine Zeitpläne erfordern. Aber ohne die Arbeit im Kollektiv wären ihre Filme definitiv nicht so, wie sie sind. Denn das Atelier biete als Denk- und Kreativitäts“inkubator“ kostbaren Input: ständige Inspiration und ehrliches Feedback sowie Verständnis für die Eigenheiten, welche die Umsetzung von Animationsfilmen mit sich bringt. Von der Schreibblockade bis hin zu Kniffen bei der Produktion.

 

Das nächste eigene Filmprojekt nach Somni ist derzeit noch in der Entwicklungsphase. Denn es ist nicht so, dass Sonja Rohleder wie andere Filmemacher*innen eine Schublade hätte, in der zig Ideen warten, die sie irgendwann mal umsetzen möchte. Vielmehr entstehe der Film

“immer genau in dem Moment, in dem ich an ihm sitze. Zwei Jahre später würde er nicht passieren“.

Aber die Vögel, die in Kolumbus oder in Nest so eine zentrale Rolle spielen, könnten auch hier wieder Protagonist*innen werden, denn

„ich mag die Art, wie sich Vögel bewegen; es macht Spaß, sie zu animieren“.

Ob Vogel, Mensch oder abstrakte Form – eins ist sicher: Auslassung, Begrenzung und Reduktion werden auch zukünftig Prinzipien bleiben und damit zugleich eine Einladung an die Zuschauer*innen, die Leerstellen mit eigenen Gedanken zu füllen.