Lina Sieckmann und Miriam Gossing –
Die gemeinsame Arbeit hat uns radikalisiert

Filmstill SONNTAG BÜSCHERHÖFCHEN 2: ein Badezimmer mit ägyptischer Dekoration - ein Bild von Pyramiden, eine Palma, eine Pharao-Büste. Im Hintergrund ein WC-Reinigungsmittel.

SONNTAG BÜSCHERHÖFCHEN 2 © Miriam Gossing, Lina Sieckmann

Lina Sieckmann und Miriam Gossing kennen sich schon aus ihrer Jugend,  sie sind in der gleichen Kleinstadt aufgewachsen und haben an der Kunsthochschule für Medien in Köln studiert. Dennoch dauerte es Jahre, bis sie auch in ihrer künstlerischen Praxis ein Team wurden. Den Anlass, zum ersten Mal gemeinsam zu arbeiten, bot neben dem Studium bei Matthias Müller und Phil Collins ein Filmseminar der Kamerafrau Sophie Maintigneux, die kurz zuvor an die KHM berufen worden war.

Bei der französischen Bildgestalterin lernten Gossing und Sieckmann, die beide vorher individuell im Bereich Kunst gearbeitet haben, mit einer 16-mm-Kamera zu filmen. Das Ergebnis ist SONNTAG, BÜSCHERHÖFCHEN 2 (2014), der erste einer ganzen Reihe von herausragenden Arbeiten, die Miriam Gossing und Lina Sieckmann seither gemeinsam realisiert haben.

In ruhigen Plansequenzen nähert sich der Kurzfilm dem namengebenden kleinen Ort im Bergischen Land.

Ländliche Idylle, winterliche Stimmung, nebelverhängende Hügel und geschlossene Rollläden. Die Kamera erkundet das Interieur eines Einfamilienhauses, dessen ausgeklügelte, offensichtlich handgemachte Einrichtung ganz auf Erholung, Wellness und Freizeit ausgerichtet ist. Der Fitnessraum mit Whirlpool, das Heimkino und die Hausbar sind mit allen technischen Raffinessen und exotischem Interieur ausgestattet. Ab und zu werden auch die BewohnerInnen des Hauses sichtbar, doch es bleibt immer deutlich, dass SONNTAG, BÜSCHERHÖFCHEN 2 kein Portrait der Personen, sondern des Raumes ist. Tatsächlich gelingt es Sieckmann und Gossing durch das durchdachte dramaturgische Arrangement, die Bewohner zwar in ihrem Lebensumfeld zu zeigen, sie gleichzeitig aber nicht vorzuführen. Wirken die ersten Einstellungen des Films noch wie Fotografien, wird bald deutlich, dass hier explizit filmisch gearbeitet wurde und es eigentlich die Geräusche sind, die die Zuschauer subtil und hintergründig durch den Film und seine Räume leiten.

Der Film markiert nicht nur den Beginn der künstlerischen Kooperation zwischen Lina Sieckmann und Miriam Gossing, sondern ist auch die erste Zusammenarbeit mit ihrem langjährigen Kameramann Christian Kochmann und dem Soundkünstler Tim Gorinski, die zu diesem Zeitpunkt beide ebenfalls an der Kölner Akademie studierten. Bis heute arbeiten sie immer wieder für ihre Projekte zusammen.

Filmstill DESERT MIRACLES: ein Blick in eine amerikanische Hochzeitskapelle, weiße Dekoration, Stühle und Blumen, zwei Bilder an den Wänden.

DESERT MIRACLES © Miriam Gossing, Lina Sieckmann

Ein Jahr später entsteht DESERT MIRACLES (2015) mit einem fast identischen Team. Im US- Bundesstaat Nevada, der als Mekka der „Blitzhochzeiten“ gilt, besuchen Sieckmann/Gossing diverse Hochzeitskapellen und setzen deren kommerzialisierte Architektur des Begehrens auf denkbar nüchterne Art in Szene. Auch hier arbeiten sie mit Plansequenzen, in denen visuell nur wenig zu geschehen scheint. Die gefilmten Orte, die ohne jede kirchliche Erhabenheit, dafür aber mit einem Übermaß an Deko und exzessiver Staffage ausgestattet sind, wirken wie eine übermäßig bemühte Manifestation von Liebe und Partnerschaft. Wieder wird durch die Fokussierung auf das zum Überbordenden tendierende Ambiente fast körperlich spürbar, wie versucht wird, durch die Ausstattung von Räumen ein Lebensgefühl zu „verordnen“.

Anders als in SONNTAG, BÜSCHERHÖFCHEN 2 fügen Sieckmann und Gossing in diesem Film jedoch eine Textebene hinzu, die die gefilmten Environments noch einmal neu konnotiert. Eine weibliche Stimme liest einen Brief an eine ungenannt bleibende geliebte Person und sinniert darin über die vielen Facetten und Herausforderungen von Liebe und Beziehung. Der Brief ist – anders als die Drehorte – nicht komplett „authentisch“, sondern eine Collage mit dokumentarischem Charakter. Die Künstlerinnen haben ihn aus Textfragmenten anonymer AutorInnen kompiliert, die sich in Internet-Foren zum Thema Hochzeit und Paarbeziehung geäußert haben. Die darin zum Ausdruck kommenden Fragen und Zweifel konterkarieren die kulissenartigen Interieurs der Hochzeitskapellen auf ernüchternde Weise. Eine filmische Pirsch durch die Architektur gewordene Ikonisierung des Begriffs „Liebe“.

Ganz bewusst nehmen Sieckmann und Gossing für ihre gemeinsamen Projekte immer eine Beobachtung der Realität als Ausgangspunkt. Am Anfang jeder ihrer Arbeiten steht eine Erforschung dessen, was sichtbar ist. Eine Handlung, eine Stimmung, oftmals ein Ort. Die Arbeit am Film beginnen sie meist mit einem konkreten architektonischen Setting und einer zuvor in Fotografien festgehaltenen Drehabfolge.

Vor und während der Dreharbeiten werden verschiedene Stränge der möglichen Geschichte weiter verfolgt und Material gesammelt bis schließlich eine große Menge an Interviewfragmenten, gefundenen Texten, Archiv- und Referenzmaterial einer vergleichsweise kleinen Menge belichteten Films gegenüber steht. Häufig beträgt das Drehverhältnis gerade mal 1:4 und ist damit sehr niedrig. Beide achten darauf, sehr sparsam und überlegt zu drehen, jedes Einzelbild soll für sich stehen können, die Abfolge der Einstellungen wirkt homogen und erzeugt wenig visuelle Unterbrechungen. Dies erzeugt beim Zuschauer einen dichten atmosphärischen Sog, der die subtilen Irritationen im Off- Text dadurch umso befremdlicher hervortreten lässt.

Durch die geringe Materialmenge ergebe sich im Schnitt die Möglichkeit, eine experimentelle Herangehensweise zuzulassen, um somit zu größtmöglicher Präzision zu gelangen. Auch Zufälle und vermeintliche Beiläufigkeiten, die man unmöglich vorher sprachlich so fassen kann, jedoch häufig genau den Kern des Films ausmachen, werden so nach und nach freigelegt.

 „Der Film ergibt sich aus einem Dialog von zuvor sorgfältig gesponnenen Plänen und vollkommen absichtslosen Zufällen. Wir versuchen, dem so gut es geht zu folgen, ein Abtasten und Verhandeln von Möglichkeiten. Uns ist es sehr wichtig, diese dialektische Arbeitsweise nicht zu verlieren.“

Die „Realität“, davon sind beide überzeugt, ist ohnehin nicht von der Fiktion zu trennen. Das dort Vorgefundene ist jedoch oft viel abgründiger, verwunderlicher und interessanter als das was man sich selber ausdenken könnte.

Eine bewusste Orientierung am Dokumentarischen hält sie aber keineswegs davon ab, die gesellschaftliche Realität auf unterschiedlichste Weisen herauszufordern und mit künstlerischen Strategien zu bearbeiten.

Beispielhaft wird das in ihrem Diplomfilm sichtbar, der mit diversen Preisen, darunter dem Deutschen Kurzfilmpreis in Gold und der Nominierung zum Preis der Nationalgalerie für Filmkunst, ausgezeichnet wurde. OCEAN HILL DRIVE (2016) wirkt wie ein kurz geratener Psychothriller über Ängste und Projektionen in der US-amerikanischen Suburbia.

Filmstill OCEAN HILL DRIVE: Im Zentrum des Bildes ein Swimming Pool, Herbstlaub außerhalb und im Pool. Ein paar Gartenmöbel im Hintergrund.

OCEAN HILL DRIVE © Miriam Gossing, Lina Sieckmann

Jedes einzelne Bild des Films ist durch ein Flackern geprägt. Glaubt man zunächst an eine Bildstörung, fällt bald auf, dass das Flackern nicht immer gleich stark und sichtbar ist. Dennoch prägt es den Film mit seinem scheinbar monotonen visuellen Rhythmus und erinnert an strukturalistische Film-Experimente von Peter Kubelka und Tony Conrad. Tatsächlich existiert in der Nähe von Boston ein Wohngebiet, in dem der Schatten eines enormen Windrades einen dauernden Flicker-Effekt über das Land legt. Und tatsächlich gibt es Menschen, die unter diesem Flackern psychisch leiden und Schwierigkeiten haben, in dieser Umgebung zu leben.

Dennoch geht es in den Interviews, die Gossing und Sieckmann mit den BewohnerInnern dieses Vorortes führen, nicht nur um das Flackern und seine Auswirkungen auf die Psyche, sondern ganz generell um Geschichten aus ihrem Leben, um ihre Ängste, Sehnsüchte und zerbrochenen Lebensentwürfe.

Aus Fragmenten dieser Gespräche montieren die Künstlerinnen schließlich die Filmerzählung, die die unterschiedlichen Berichte der Bewohner zu einer einzelnen, fadenscheinigen Sprecherinnenfigur zusammensetzt.

Auch hier arbeiten sie mit tableau-artigen Ansichten von leeren Räumen, die durch die Erzählung bedrohlich aufgeladen werden. Die Stimmung erinnert an die schleichend sich steigernde Beklemmung in Horrorfilmen. Dazu kommt die Wirkung des Flackerns, das in jedes Bild wie ein nervöser Puls aus Licht und Schatten eindringt. Dem sich entwickelnden Sog kann man sich nur schwer entziehen.

Aus dokumentarischen Bildern, der kompilierten Erzählung und einem hypnotischen Soundtrack knüpfen Gossing und Sieckmann in diesem Film ein fiktives Ganzes, in dem die Grenzen zwischen Realität, Erinnerung und Fiktion verschwimmen. OCEAN HILL DRIVE wurde nicht nur auf Festivals, sondern auch im Kunstkontext in verschiedenen Institutionen wie dem Hamburger Bahnhof –Museum für Gegenwart Berlin gezeigt. Die meisten Filme Lina Sieckmanns und Miriam Gossings  funktionieren sowohl im Ausstellungsraum als auch im Kino.

Sie verstehen sich selbst als Künstlerinnen, die vorrangig mit dem Medium Film arbeiten, deren Arbeit aber auch andere Formen finden kann und deshalb nicht zwangsläufig an den Kinoraum gebunden ist. Ihr Werk umfasst unter anderem auch Fotografien, Bücher und Installationen.

Seit 2012 betreiben sie selbst in Köln den Projektraum SCHALTEN UND WALTEN, in dem sie Screenings, Lesungen und queere Performanceabende organisieren mit einem besonderen Fokus auf Experimentalfilm und Kritischem Diskurs.

Um unabhängig Filme zu produzieren, haben beide daraufhin gemeinsam mit KollegInnen das gleichnamige FilmemacherInnenkollektiv SCHALTEN UND WALTEN ins Leben gerufen. Die Arbeit mit anderen KünstlerInnen verstehen sie als Bereicherung, gerade weil auf diese Weise unterschiedliche Interessen und Herangehensweisen in die Projekte eingebracht werden.

„Ein diffuses Unbehagen in der Gegenwart und die gemeinsame Zusammenarbeit haben uns radikalisiert. Bei uns bedeutet Kollaboration nicht, dass wir am kleinsten gemeinsamen Nenner festhalten, sondern uns gegenseitig zu fordern, genauer hinzusehen, sich selber zu hinterfragen und nicht zu ernst zu nehmen. Humor ist für uns essentiell. Wer allein arbeitet, braucht künstlerische Entscheidungen während des Prozesses nicht zu hinterfragen. Das kann durchaus sehr befreiend wirken, birgt aber auch die Gefahr, es sich in seiner Sichtweise bequem zu machen. Wenn wir gemeinsam arbeiten, sind wir gezwungen, in Diskurs zu treten und die eigenen Ideen zur Disposition zu stellen. Das ist zwar auch  anstrengend, führt aber meist dazu, dass die eigenen Zugänge sich erweitern und vervielfältigen.“

Nach ihrem Diplom an der Kölner Kunsthochschule für Medien entschieden sich Lina Sieckmann und Miriam Gossing dafür 2016-2017 ein Gaststudium bei Rita McBride an der Kunstakademie Düsseldorf zu absolvieren.

In dieser Zeit entstand ONE HOUR REAL (2017), ein ebenfalls auf 16-mm-Film gedrehter Kurzfilm, der sich mit dem Phänomen der sogenannten „Real Life Escape“ Games beschäftigt. In einem an Computerspiele erinnernden Setting müssen die Mitspieler unter Zeitdruck Aufgaben erledigen, um einem drohenden „Game Over“ zu entkommen.

Filmstill ONE HOUR REAL: Ein abgedunkeltes Zimmer, zugezogene Vorhänge, im Zentrum ein alter Fernseher, auf dem das Wort STOP geschrieben steht.

ONE HOUR REAL © Miriam Gossing, Lina Sieckmann

Gossing und Siekmann bedienen sich der Aufnahmen aus den überall montierten Überwachungskameras, um den Spielverlauf zu verdeutlichen und schaffen so eine weitere mediale Ebene im Spiel mit den Realitäten. Damit ein „Real Life Escape Game“  funktioniert, muss die Bedrohung real wirken, darf aber andererseits die Souveränität der Spielenden nicht ernsthaft in Frage stellen. Der Reiz besteht also darin, die handelnden Personen unter Zeit- und Erfolgsdruck die Inszenierung „vergessen“ zu lassen. Die Settings erinnern an 80er-Jahre Horrorfilme, verinnerlichte filmische Klischees werden handlungsleitend und plötzlich wirkt die Szene im körnigen Bild der Überwachungskameras unrealistischer als jeder Action-Film.

Generell scheint das Spiel in Bezug auf Spannung und Nervenkitzel der Illusionsmaschine Film nicht das Wasser reichen zu können.

Heute arbeiten Miriam Gossing und Lina Sieckmann an zwei weiteren Filmprojekten, die unterschiedlich weit fortgeschritten sind.

Unter dem Arbeitstitel FREETIME MERMAID (AT) wollen beide erstmals einen längeren Film aus drei Teilen verwirklichen, der von der Wim Wenders Stiftung unterstützt wird. FREETIME MERMAID (AT) widmet sich dem Phänomen, dass sich Frauen in aller Welt aus den unterschiedlichsten Gründen als Meerjungfrauen inszenieren und damit – bewusst oder unbewusst – in ein Spiel um Identität, Inszenierung, Sexualität, Macht und Geschlechterverhältnisse einsteigen.

Das zweite in Arbeit befindliche Projekt spielt ebenfalls auf dem Meer. In SOUVENIR (AT) forschen die beiden Künstlerinnen auf einer Fähre, die Mini-Kreuzfahrten zwischen Großbritannien und dem europäischen Festland anbietet, wie sich Themen wie Sehnsucht, Kolonialismus, Liebe und Verlust in der hyperrealistischen Atmosphäre des touristisch aufgeladenen Fährfrachtschiffes widerspiegeln.

SOUVENIR (AT) soll 2018 abgeschlossen werden, FREETIME MERMAID (AT) befindet sich noch in der Recherchephase. Und obwohl FREETIME MERMAID (AT) wohl länger als 30 Minuten werden wird, bleibt die kurze Form für Miriam Gossing und Lina Sieckmann ein bevorzugtes Format.

„Der Kurzfilm eröffnet uns die Möglichkeit, in Form und Inhalt kompromisslos zu sein. Das ist für uns unverzichtbar. Trotzdem denken wir eigentlich nicht in Längen-Kategorien. Wenn ein experimenteller Zugang irgendwann auch wieder im Kino Platz hat, dann können wir uns durchaus damit anfreunden einen Kinofilm zu machen.“

 

www.gossing-sieckmann.com

 

Filmografie:

2014 SONNTAG, BÜSCHERHÖFCHEN 2

2015 DESERT MIRACLES

2016 OCEAN HILL DRIVE

2017 ONE HOUR REAL

2018  SOUVENIR (AT)