Wozu Filmfestivals?

Analyse

Aufführung von Mbaracás von Gaetano (2022) im Rahmen von „It’s rather a verb“, kuratiert von Sirah Foighel Brutmann & Eitan Efrat, beim EMAF 2022 © Angela von Brill

Filmfestivals, oder genauer die filmkulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rolle von Filmfestivals, stehen in der Diskussion, und das nicht erst seit der Pandemie. Die besonderen Umstände, unter denen während der letzten zwei Jahre ihre Produktions-, Rezeptions- und Förderbedingungen neu konfiguriert wurden, haben ein öffentliches Nachdenken, das schon mit der Gründung der Initiative „Festivalarbeit gerecht gestalten“ im Jahr 2017 und dem Zusammenschluss von inzwischen über 100 Organisationen zur AG Filmfestival im Herbst 2019 begonnen hatte, lediglich beschleunigt. „What Is the Point of Film Festivals?“ war folgerichtig der Titel eines Panels, das die AG Kurzfilm auf Einladung des Torino Talents and Short Film Market im vergangenen Jahr veranstaltet hat. Der vorliegende Text basiert auf meiner dort gehaltenen Keynote, erweitert um Betrachtungen, die über den deutschen Kontext hinausweisen. Dabei hoffe ich insbesondere die Zielrichtung der vom Panel adressierten Frage „Wozu Filmfestivals?“ umzulenken in ein „Festivals – für wen eigentlich?“

 

Koexistenzen

Jetzt über Festivals zu sprechen, ist auch deshalb wichtig, weil nach wie vor neue Festivals entstehen und ihren Platz auf einem ohnehin schon sehr dichten Feld beanspruchen. In Deutschland gibt es fast 450 Filmfestivals, von denen sich allein über 100 mehr oder weniger ausschließlich der kurzen Form widmen, und selbst in den Pandemiejahren wurden neue Festivals gegründet. Es sollte also darum gehen, über eine neue Art von Festivalökologie nachzudenken – im Sinne einer nachhaltigeren Art Festivals zu machen, Lebens- und Arbeitsgrundlagen zu sichern, aber auch die Koexistenz sehr unterschiedlicher Festivals zu ermöglichen, die ihre jeweils eigenen Nischen etabliert haben und kultivieren.

 

Wichtige Impulse hierzu könnten von der AG Filmfestival ausgehen. Sie vertritt als unabhängiger Lobbyverband die Interessen von Filmfestivals als primärem Ort der Filmauswertung, des Austauschs und der Bildung, versucht diese in der Gesetzgebung stärker geltend zu machen und bemüht sich um die Vernetzung und den Wissenstransfer zwischen Festivals. Im Zuge ihrer Gründung hat sie einen Code of Ethics fomuliert, der unter Punkt 1 Filmfestivals definiert als:

 

mehrtägige öffentliche Veranstaltungen, die jährlich oder zweijährig stattfinden. Sie zeichnen sich durch eine künstlerisch kuratorische Absicht und ein programmatisches Profil aus. Sie sind Orte der Begegnung. Sie fördern Filmkultur und Filmschaffende. Die bestmögliche Projektion filmischer Arbeiten in Kinos oder kinoähnlichen Situationen ist Teil ihres Selbstverständnisses. Die Filmfestivals dienen als Foren des Austauschs und der Meinungsbildung.[1]

 

Diese Definition von Kernkompetenzen legt bereits nahe, dass Festivals mehr sind und mehr sein wollen als ihre Filmprogramme. Tatsächlich zeichnete Filmvermittlung, also die Auseinandersetzung mit und der Austausch über die gezeigten Filme und ihre Macher*innen Festivals schon immer gegenüber dem konventionellen Kinobesuch aus. Sie sind außerdem Orte, an denen Filmgeschichte und der Umgang mit Film als Material und Technologie unmittelbar erfahrbar werden kann. Dass sie zudem verstärkt zu Orten der öffentlichen Debatte über kulturpolitische und gesellschaftliche Fragestellungen werden, scheint einer zunehmenden Politisierung der Kulturszene nicht nur in Deutschland geschuldet zu sein, oder zumindest der Tendenz, Film und Kunst wieder verstärkt als Faktoren in gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen zu betrachten.

 

Aufführung von José Val del Omars Fuego en Castilla (1961) im Rahmen von „SPECTRAL: Unburdened Recollections“, kuratiert von Esperanza Collado, beim EMAF 2023 © Angela von Brill

 

Zugleich ist seit einiger Zeit eine Vervielfachung von Präsentationsformaten zu beobachten, die nicht originär im Kino zu Hause sind, wie VR-Präsentationen, Lecture Performances, Expanded Cinema, Projektionen im Stadtraum oder Installationen, und nicht zu vergessen Musik Acts aller Art. Dieser Drang zur Diversifizierung erwächst aus der scheinbaren Notwendigkeit, sich als Festival in einer Fülle alternativer Kulturveranstaltungen stärker als „Event“ zu profilieren – was paradoxerweise bewirkt, dass sich die einzelnen Festivalprofile immer ähnlicher werden. Und müssen sich Festivals – vor allem Kurzfilmfestivals – nicht auch zunehmend gegenüber einer Kunstszene positionieren, in der artists moving image inzwischen regelmäßig und sehr prominent in Erscheinung tritt, und das oft lange bevor Festivals diese Arbeiten „entdecken“? Die relativ neue Erfindung des Labels „Festivalpremiere“ in Programmankündigungen reagiert auf den Umstand, dass Festivals für bestimmte Werke eben nicht mehr der erste und wichtigste Spielort sind, sondern Ausstellungen.[2] Auch Ausstellungshäuser oder von Künstler*innen geführte Organisationen veranstalten im Übrigen wiederkehrende, mehrtägige, öffentliche, sorgfältig kuratierte, auf Austausch und Meinungsbildung zielende Filmveranstaltungen in Kinos oder kinoähnlichen Situationen (also de facto Filmfestivals).

 

Das Ausmaß an zielgruppenspezifischer (und nicht selten förderstrategisch motivierter) Ausdifferenzierung in den vergangenen Jahren macht es gelegentlich schwer, die Programmatiken einzelner Festivals noch zu durchschauen. Und auch den Arbeitsbedingungen bei Festivals ist diese Entwicklung nicht unbedingt dienlich. Steigen die Anforderungen bei mehr oder weniger gleichbleibenden Etats oder in einer unsicheren ökonomischen Situation – die große Mehrzahl der Festivals in Deutschland erhält keine kontinuierliche, institutionelle Förderung – ist abzusehen, dass so keine nachhaltige und faire Beschäftigung von Mitarbeitenden möglich ist. Daran ändert leider auch ein „Fair Festival Award“ nichts, der, während er neue Konkurrenzverhältnisse schafft (auch wenn die Organisator*innen dies bestreiten), zu einer Diskussion über und Veröffentlichung von gelungenen Maßnahmen, von denen alle profitieren könnten, wenig beiträgt.

 

Unterdessen entstehen vermehrt Initiativen zur Schaffung von mehr struktureller Nachhaltigkeit, wie Job- und Ressourcensharing, so dass etwa eine Stelle übers Jahr von zwei oder mehreren Festivals getragen, Technik gemeinsam angeschafft oder Räume von mehreren Organisationen angemietet und alternierend genutzt werden. Das setzt allerdings voraus, dass sie sich in räumlicher Nähe zueinander befinden und ihre Festivalzeiträume miteinander kompatibel sind. Ähnliches gilt auch für eine gemeinsame Einladungspolitik von zeitlich benachbarten Festivals. So sinnvoll diese Art von Sharing ist, so problematisch kann auch der Austausch von Personal im inhaltlichen Bereich werden. Nomadisieren Kurator*innen und Programmer von Festival zu Festival (worauf sie nicht selten angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren), so besteht nicht nur die Gefahr einer Verwässerung von Festivalprofilen, sondern auch einer problematischen Machtkonzentration auf einzelne Programmentscheider*innen.

 

Aber wer ist überhaupt in diesen Teams? Während Festivals inzwischen bei ihren Inhalten einen relativ hohen Grad an Diversität zu verzeichnen haben und auch Jurys, Panels, Auswahlkommissionen und andere kurzfristige Jobs sehr viel diverser besetzt werden als noch vor einigen Jahren, hinken sie auf der Ebene der Festangestellten und vor allem der Festivalleitungen deutlich hinterher. Nur wenige können es sich leisten, längerfristig für ein Festival zu arbeiten, um sich so für eine Leitungsposition zu qualifizieren. Paradoxerweise ist selbst ein unterbezahlter Festivaljob also noch ein Privileg. Das Beharrungsvermögen überkommener Strukturen jedenfalls ist beachtlich, und im Moment scheinen marginalisierte Communities eher ihre eigenen Veranstaltungsstrukturen aufzubauen, als darauf zu warten, dass Festivals auf sie zugehen, um sie und ihre Expertise zu „integrieren“.

 

Kuratorische Ethik

In der Diskussion um faire, nachhaltigere Arbeitsbedingungen bleibt auch die Perspektive der Künstler*innen allzu oft ausgeblendet – auch in der ersten umfassenden Publikation zur deutschen Filmfestivallandschaft, in der vor allem Festivalmacher*innen zu Wort kommen.[3] Auch wenn keine Leihgebühr der Welt dauerhaft jemandes Lebensunterhalt sichert, müssen Festivals künstlerische Arbeit angemessener honorieren und damit ihrer Verantwortung für jene künstlerischen Werdegänge nachkommen, auf die sie ihre eigene Reputation gründen. Eli Horwatt schreibt im World Records Journal:

 

The economic model underwriting most festivals works like market futures, as the unspoken promise to a filmmaker rests in the hopes of receiving the prestige, press, or distribution that festival exposure might offer. But any money trading hands at this event will likely not touch the person providing the film. It begs the question: Who are film festivals for?[4]

 

Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als es, wie Genevieve Hue anmerkt, für bestimmte Filme – und zwar insbesondere kurze und experimentelle Formate – neben Festivals nur wenige alternative Auswertungsmöglichkeiten gibt, und schon gar keine lukrativen: „there is little to no hope of a licensing deal following the festival, and while some bigger titles might get a museum or microcinema event, the short year that a film travels the festival circuit is likely the only time many films will ever screen publicly.”[5]

 

Brüssel 2022 © Katrin Mundt

Eine Reihe von Empfehlungen für gerechtere Künstler*innenhonorare wurden für die Bildende Kunst in Deutschland bereits erarbeitet,[6] während das Gros der Filmfestivals das Thema meidet – auch wenn einige, vor allem kleinere, Festivals bereits Honorare zahlen oder dies sehr konkret in Erwägung ziehen. Es empfiehlt sich in diesem Kontext auch ein Blick nach Kanada, wo von der Independent Media Arts Alliance eine sehr differenzierte Leitlinie für die Honorierung künstlerischer und kuratorischer Arbeit entwickelt wurde, die als Orientierung dienen kann, auch wenn individuelle Anpassungen natürlich nötig sind.[7] Was diese Beispiele auch belegen, ist, dass langfristige Veränderungen nur dann möglich sind, wenn auch die fördernden Institutionen die faire Bezahlung von Kulturarbeit als Notwendigkeit erkennen und in ihren Zuwendungen reflektieren.

 

Der Filmkritiker und -kurator Dennis Vetter diagnostiziert in seinem Essay „Who Cares about Cinema?“:

 

Even as care—in the contexts of class, race, gender, and more—becomes increasingly relevant to cinematic representation, the actual work of making cinema, from film festival programming to below-the-line production jobs, lags far behind. Recent steps forward have notably been based on personal initiatives rather than sustainable models within the system.[8]

 

Ein Szenario, das derzeit diskutiert wird, um personelle, finanzielle und natürliche Ressourcen zu entlasten, ist das Downsizing von Veranstaltungen. Für kleinere Festivals muss diese Option deutlich weniger attraktiv erscheinen als für größere, da jeder weitere Verzicht auf Programm für ihre Sichtbarkeit zum Problem werden könnte. Was spricht dagegen, sich erst einmal vom Drang zu verabschieden, ständig weiter wachsen und neue Territorien für sich reklamieren zu müssen? Nicht downsizen also, sondern innerhalb eines existierenden Rahmens diversifizieren oder experimentieren; die eigenen Strategien und kuratorischen Vorlieben überprüfen; neue Stimmen involvieren in die Produktion eines bewährten Formats; erfolgreiche Projekte an anderen Orten wiederholen?

 

Tatsächlich scheint den Downsizing-Überlegungen auf Festivalseite auch eine Tendenz beim Publikum zu entsprechen, das sich weniger bereitwillig als früher jener Programmdichte aussetzt, die Festivals bisher grundsätzlich auszeichnete, und die meiner persönlichen Erfahrung nach auch das Besondere eines gut kuratierten Festivals ausmachten: eine Art von Überforderung, die oft noch Tage oder Wochen später nachwirkt, Fragen aufwirft und Urteile in der Schwebe hält. An deren Stelle sollen nun, wenn es nach einigen Besucher*innen geht, mehr Ruhepausen, Rückzugsräume und Gesprächsangebote treten. Das öffentliche Veranstaltungsformat Festival soll sensibler auf persönliche Belastungsgrenzen reagieren. Was können Festivals ihren Besucher*innen demnach noch zumuten? Oder ist der Unwille, sich durch Film und Kunst herausfordern zu lassen die eigentliche Zumutung?

 

Zumutungen

Da gerade Kurzfilmfestivals mit einer großen Zahl jüngerer Künstler*innen und Mitwirkender zu tun haben, erscheint eine besondere Sorgfalt in der Kommunikation der eigenen Programmatik, Anliegen und Möglichkeiten geboten. Besonders zu einem Zeitpunkt, zu dem verstärkt der Ruf nach Austausch mit denjenigen laut wird, die über die öffentliche Sichtbarkeit von Kunst und ihren Macher*innen entscheiden, sowie der Wunsch nach einem transparenteren Umgang mit institutionellen Strukturen, finanziellen Ressourcen und politischen Programmatiken. Wie können Festivals diesen neuen Anforderungen neu begegnen? Oder steigen einfach derzeit die Ansprüche, die Filmemacher*innen Festivals gegenüber geltend machen? Diese Fragen sind kaum pauschal zu beantworten. Das befreit Veranstalter*innen allerdings nicht von der Notwendigkeit, ihre bisherige Praxis neu zu befragen und sich angreifbarer machen für diese Anliegen – nicht viel anders als es auch die Künstler*innen tun, die sich ihrem Urteil aussetzen.

 

Was Filmemacher*innen ganz sicher einfordern können und sollen, ist eine möglichst gute Präsentation ihrer Arbeiten. Im Kino erscheint uns das selbstverständlich. Für die im Code of Ethics der AG Filmfestival genannten „kinoähnliche[n] Situationen“, und mehr noch für Performances, Installationen oder interaktive Formate außerhalb des Kinos, ist das längst nicht immer der Fall. Unzureichende Technik, ungeschultes oder schlecht gebrieftes Personal, zu kurze Aufbau- und Probenzeiten oder unpassende Räumlichkeiten führen nicht selten dazu, dass diese Arbeiten nicht so erfahren werden können, wie sie von den Macher*innen intendiert waren.

 

Und was können Filmfestivals voneinander erwarten? Filmauswahl bedeutet immer auch die Auswahl für ein bestimmtes Festival. Und solange es Festivals gibt, die auf Premieren bestehen, gibt es andere, deren Programmierung davon direkt oder indirekt betroffen ist. Auch wenn das meinem persönlichen Verständnis von Distribution und Zugänglichkeit medialer Künste widerspricht, gibt es Beispiele dafür, wie zwischen Festivals ein Austausch über Programmentscheidungen stattfinden kann, ohne dabei die Filmemacher*innen unter Druck zu setzen, sich für eine Premiere bei dem einen oder anderen Festival zu entscheiden. Die Frage nach einem „Fair Festival“ impliziert eben auch, wie wettbewerbsorientiert Festivals untereinander agieren, bzw. wie offen und kollegial sie die eigenen Prioritäten und Exklusivitätsansprüche kommunizieren.

 

Ohnehin hat sich in den letzten Jahren die Gewichtung von Festivals verschoben. Kleinere Festivals konnten durch ihre Online-Programmierung neue Zuschauer*innen gewinnen und so auch gegenüber größeren Festivals ihr Profil schärfen. Gleichzeitig ist allerdings die Vorstellung davon, was Vor-Ort-Festivals sind und wie sie funktionieren, welche Art von Sozialität und Intimität sie ermöglichen, wie sie Zeit und Raum füllen und unsere Wahrnehmung in Beschlag nehmen, vor allem bei den jüngeren Publikumsgruppen verblasst (oder für sie weniger attraktiv geworden?). Die Kulturtechnik Festival, so scheint es, muss unter diesen veränderten Bedingungen neu erlernt werden – vielleicht auch von den Festivals selbst.

 

 

[1] https://ag-filmfestival.de/wp-content/uploads/2020/04/AG-Filmfestival-CoE.pdf

[2] Vgl. zu dieser Diskussion Chris Kennedy: „Platform, Showcase, Gathering, Exchange. A Conversation about Film Festivals with Erika Balsom, George Clark, Chris Kenndy, Eduardo Thomas, and Koyo Yamashita”, in: Federico Windhausen (Hg.), A Companion to Experimental Cinema, Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell 2023, bes. S. 434 ff.

[3] Vgl. Tanja Krainhöfer / Joachim Kurz (Hg.): Filmfestivals. Krisen, Chancen, Perspektiven, München: edition text + kritik 2022. (siehe Resenzsion auf shortfilm.de von Luc-Carolin Ziemann)

[4] Eli Horwatt, „Who Are Film Festivals For?”, in: World Records Journal, Issue 6: https://worldrecordsjournal.org/who-are-film-festivals-for/

[5] Genevieve Yue, „The Accidental Outside“, in: World Records Journal, Issue 6: https://worldrecordsjournal.org/the-accidental-outside/

[6] Vgl. etwa das Berliner Modell für Ausstellungshonorare: https://www.bbk-berlin.de/sites/default/files/2020-01/bbk-berlin_Berliner-Modell-Ausstellungshonorar_Stuttgart_Mai2017.pdf

[7] https://imaa.ca/source/wp-content/uploads/2019/11/IMAA-fee-sched-2020-23-with-approval-en-2023.pdf

[8] https://www.filmcomment.com/blog/who-cares-about-cinema-film-festivals-film-workers-dennis-vetter/