Pandemiekrise der Festivals lässt Online-Aggregatoren boomen

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Schon lange vor der Pandemie haben Filmfestivals begonnen Aufgaben, die zuvor im Haus erledigt wurden, auszulagern und externe IT-Dienstleister beauftragt. Im Zuge der Digitalisierung wurde zuerst die Annahme von Filmeinreichungen ausgegliedert. Dann folgte die Online-Bereitstellung von Filmen für interne Filmsichtungen. Jetzt, da die Präsentation des Festivalprogramms nur noch im Internet möglich ist, sind fast für die gesamte Festivalarbeit IT-Kenntnisse gefragt und digitale Arbeitsmittel notwendig. Dienstleister, die zuvor für bestimmte, einzelne Aufgaben zuständig waren, erweitern hierfür ihr Leistungsspektrum und bieten sich als Aggregatoren an. Am Ende der Entwicklung dürften zum großen Vorteil von Festivals, die sich weder Fachpersonal noch die Technik leisten können, All-inclusive-Pakete stehen, die aber auch einen erheblichen Kontrollverlust verursachen könnten.

Meme ©rww/klipartz/CC

Die Angebote kommen von allen Seiten und Branchen. Besonders interessant, und nebenbei bemerkt auch sympathisch, finde ich Plattformen und Anwendungen, die direkt aus der Festivalarbeit heraus entwickelt wurden. Mitarbeiter von Festivals, die sich in IT-Aufgaben reingefuchst haben, machen sich selbständig und gründen Unternehmen.

 

Zum Beispiel die VoD- und Virtual-Cinema-Plattform Eventive aus Memphis, Tennessee, USA. Dort hatte Iddo Patt, Filmemacher und Vorstandsmitglied des Indie Memphis Film Festival, seinen damals 15jährigen Sohn Theo um Hilfe gebeten. Theo Patt baute Eventive. Letztes Jahr hat sich Eventive zum »weltweit führenden Anbieter für sicheres, ticketgebundenes, On-Demand- und Live-Streaming von unabhängigen Filminhalten entwickelt. Für Festivals, Arthouses und Verleiher«. Mehr als 700 Organisationen nutzen schon die Dienste von Eventive. Nach eigenen Angaben konnten bislang 35.000 ‚virtual screenings‘ und 2,5 Mio ’sucessful streams‘ verbucht werden.

 

Oder die Plattform Eventival, die 2009 in Prag gegründet wurde. Mitgründer Tomáš Prášek war zuvor Programmkoordinator beim Prague International Film Festival und dann Leiter des Gästebüros beim Karlovy Vary Festival. Für letzteres hatte er zusammen mit einem Kollegen die weltweit erste universelle, webbasierte Filmfestival-Software entwickelt, die heute Grundlage von »the World’s No. 1 Film Festival Management Software« ist. Nach eigenen Angaben hat Eventival mehr als 135 Filmfestivals als Kunden.

 

Ähnlich entstand die SaaS-Anwendung Filmchief, die inzwischen von vielen europäischen Kurzfilmfestivals eingesetzt wird. Filmchief wurde von Dennis Pasveer für das Go Short Festival in Nijmegen und KLIK! in Amsterdam entwickelt. Zuvor Softwareentwickler im Gesundheitswesen hat Dennis Pasveer, selbst Animationsfilmemacher mit einer Affinität zum Kino, das Unternehmen ThisWayUp gegründet. Aktuell wurde die Festivalverwaltungs- und Sichtungs-Anwendung zur Online-Streaming-Software weiterentwickelt, die im April mit dem Europäischen Kurzfilmnetzwerk „This ist Short“ ihren öffentlichen Auftritt haben wird.

 

 

Nur Eventival hat keine eigene Streaming-Anwendung entwickelt. Dafür aber, wirklich alles andere im Portfolio, was zur Organisation eines Festivals gehört. Das reicht von B2B-Datenbanken und Video Libraries wie Cinando (Cannes), über Plattformen wie Festhome, DCP-Herstellern und Service Providern wie Cinesend, Vimeo und Shift72 bis zu Ticketing- Plattformen, Zahlungsdienstleistern wie Paypal und Stripe und sogar Massenmailsystemen. Auch Eventive gehört zu den kompatiblen Partnern. Eventival setzt vor allem auf die Entwicklung von Schnittstellen mit denen Dienste anderer Unternehmen aggregiert werden können. So können Festivals auch bei Eventival VoD-Streamings buchen.

 

Auch von anderer Seite stoßen immer mehr spezialisierte Dienstanbieter hinzu und erweitern ihr Kerngeschäft. Als Allrounder für Online-Festivals war 2020 Festival Scope in Zusammenarbeit mit Shift72 am erfolgreichsten. Festival Scope entstand als B2B-Plattform für die Filmbranche. In Folge der Pandemie hat das Unternehmen aber mit seiner Business-to-Consumer VoD-Plattform enormen Aufwind bekommen. Möglich wurde dies durch die Zusammenarbeit mit dem neuseeländischen Unternehmen Shift72, die eher durch Zufall zustande kam. Die Firmen begegneten sich, als sie Anfang 2020 unabhängig voneinander von CPH:DOX beauftragt wurden, eines der ersten pandemiebetroffenen Filmfestivals online zu veranstalten.

Shift72, zuvor ein B2B-Unternehmen für Filmmarketing und sichere Streamings im Auftrag von Filmverleihen und Kinos, ist heute der größte Anbieter von Online-Festival-Dienste und meldete im August 2020 400% Zuwachs.

 

Auch Einreichplattformen steigen in das Online-Festival-Geschäft ein. So hat die ursprünglich spanische Plattform Festhome, seinen Streaming-Service indiehomeTV zu einer globalen Online-Festival Plattform (»Die einzige Pattform, die speziell für Online-Filmfestivals geschaffen wurde«) ausgebaut – nunmehr mit Sitz in Newark, USA. Dabei konnte Festhome von seinen Einreich-Kontakten profitieren. Zu den Kurzfilmfestivals, die während ich dies schreibe dort Programme zeigen, gehören Tampere (aktuell ein Programm von AV-arkki) und aus Deutschland die Bamberger Kurzfilmtage (»1 Festival 30 Wochen 100 Filme«).

 

 

 

Ausgliedern, Auslagern, Fremdvergabe und Kontrollverlust

 

Idealerweise wählt jedes Festival selbst seinen, vielleicht lokalen, Internet-Provider, seine Festivalverwaltungsanwendung, seine Streaming-Kanäle und ein skaliertes Content Delivery Network. Nur so können Corporate Identity und Branding Identity –auch kulturelle Konzepte und ethische Werte – optimal nach außen vermittelt werden.

 

Dies ist aber für Filmfestivals, insbesondere solche, die davon ausgehen, dass die Verlagerung ins Internet nur vorübergehend notwendig ist (bis zur ‚Durchimpfung‘), viel zu aufwändig. Es ist verständlich, dass so viele Festivals jetzt zu Out-of-the-Box Lösungen greifen, die alle Dienstleistungen bündeln, statt mit einem Dutzend verschiedener Dienstleister Verträge zu schließen. Diese Aufwands- und Kostenersparnis hat aber ihren Preis.

 

Die an Aggregatoren vergebenen On-Demand-Auftritte unterscheiden sich von Festival zu Festival visuell und funktionell kaum noch. Das geht so weit, dass selbst Bugs übereinstimmend sichtbar werden. Als Beispiel eine eher harmlose, aber bezeichnende Beobachtung: Auf Seiten von Festivals aus verschiedenen Ländern waren die Wochentage übereinstimmend, aber falsch, auf Dänisch benannt!

Mittwochs-Bug, Screenshot

Zum Preis, den Festivals für externe aggregierte Lösungen ‚zahlen‘, gehört ein Kontrollverlust über die digitalen Methoden und technischen Ressourcen, die zum Einsatz kommen. Da sollte man sich auf jeden Fall erst einmal informieren, zumindest, wenn die eigenen Vorstellungen von ‚good practice‘ tangiert sind und die Integrität des Festivals auf dem Spiel steht.

 

 

Gut zu wissen – diese Fragen könnten sich stellen

 

Bei manchen Anbietern kauft man Leistungen und Merkmale im Paket ein, die man überhaupt nicht braucht. Wenn sich, zum Beispiel, ein Festival für Geoblocking entschieden hat, ist es nicht nötig die Festivalfilme in weltweit verteilten Rechenzentren vorhalten zu lassen. Falls Nachhaltigkeit und Klimaschutz zum Selbstbild gehören, ist es auch nicht nötig Filme von Serverfarmen in Seattle, Sidney oder Bejing rund um die Welt zu schicken. Videos sind ohnehin schon die SUVs auf der Datenautobahn[1]. Da Liefernetze und Endverbraucher ihren Strom anderswo beziehen, nutzt es auch nichts seine eigene Festivalwebsite zum Beispiel im grünen Freiburg klimaneutral mit Ökostrom zu hosten.

 

Mehr als eine Frage der ‚political correctness‘ und der ‚compliance‘ ist der Standort. Bei fast allen großen Dienstleistern laufen die Datenströme über Rechenzentren in den USA und/oder China – Länder mit dem höchsten Verbrauch ’schmutziger Energie‘ und zum Teil lockeren oder zweifelhaften Datenschutz- und Privacy-Regeln. Als internationales Festival sollte man sich Gedanken machen, ob man nicht seine Gäste, die im Herkunftland vielleicht als Oppositionelle gelten, kompromittiert. Viele deutsche Kurzfilmfestivals haben dies offenbar erkannt und beauftragen Provider und Server im Richtlinienbereich der EU[2] oder Deutschland, wie zum Beispiel die Stiftung kulturserver.de, die Rechenzentren von Hetzner (D) nutzt.

 

Bei der Beauftragung von Aggregatoren schwinden diesbezüglich die Einflußmöglichkeiten. Selbst simple Vorgänge wie die Verwaltung eines Nutzeraccounts entgleiten, wie ich selbst erfahren konnte. Nach dem Besuch eines Festivals bat ich darum mein Profil zu löschen, das neben Kontakt- und Bankdaten auch Infomationen über besuchte Veranstaltungen (online ticketing) und kontaktierte Kolleg*innen (online networking) enthielt. Erst auf wiederholtes Drängen erfuhr ich, dass das Festivalbüro dazu nicht in der Lage war und ich mich mit meinem Anliegen an einen Aggregatoren in einem Drittland wenden musste.

Solche Dienstleister aggregieren eben auch sogenannte Intelligence Data über Festivals, also Wissen, das zuvor nur den Veranstaltern ‚gehörte‘.

 

 

Schlüsselkompetenzen bewahren

 

Es gehört zum Geschäftsmodell und zum Wesen von Aggregatoren ihr Dienste-Portfolio ständig anzureichern, um ihren Mehrwert zu erhöhen. Sie kombinieren technische Services mit digitalem Marketing, mit dem Management von Intelligence Data, der Content-Beschaffung und langfristig wohl auch mit kuratorischen Angeboten. Dies ist für Filmfestivals zweifellos vorteilhaft, aber auch zweischneidig. Festivalveranstalter haben Expertise und wissen ‚wie Festival geht‘, wie es funktioniert und wie man es organisiert – aber nur in der physischen Welt. Deshalb ist es, wie bei jedem Outsourcing, wichtig darauf zu achten, dass man nicht in Abhängigkeit gerät und nicht die eigenen Schlüsselkompetenzen mitauslagert.

 

 

Links

URL Eventive

URL Eventival

URL Festhome

URL Festival Scope

URL Filmchief

URL Shift72

URL Stiftung kulturserver.de

 

 

 

[1] Laut einer Studie von 2015 (The Shift Project, 2015) verbrauchen zehn Minuten Video-Streaming in HD auf einem Smartphone ebenso viel Energie wie ein Herd mit 2 Kilowatt Leistung, der fünf Minuten lang auf höchster Stufe läuft. Auf einem 4K-Bildschirm sind es wesentlich mehr. »Freilich sind nicht diese die größten Stromfresser, sondern die Serverfarmen und die Netze (…) »Videodateien machen 80 Prozent aller übertragenen Informationen aus! Drei Viertel davon entfallen auf vier große Formate: Video-on-Demand, Pornografie, „Tubes“ und soziale Netzwerke. Dafür gehen nach einer Kalkulation der Universität Bristol im Jahr über 50 Millionen Tonnen CO2 in die Luft.« https://www.heise.de/tp/features/Stromfresser-Internet-4776573.html

»In 2018, online video viewing generated more than 300 MtCO2, i.e. as much greenhouse gas as Spain emits.« (Shift Project, Nov. 2019). https://theshiftproject.org/en/article/unsustainable-use-online-video/

Anm: Die letztgenannte Studie von Ende 2019 ist die aktuellste zu diesem Thema. Leider gibt es zu wenige Untersuchungen bzw. öffentliche Auftraggeber von Studien. Die großen Anbieter blocken Informationen über Serverstandorte und Energieverbrauch, sind gleichzeitig aber sehr aktiv im Greenwashing.

[2] Vorsicht: Manche ‚europäische‘ Aggregatoren haben allerdings nur ihre Verwaltung in einem EU-Land und bedienen sich ausländischer Dienste, für die dann die EU-Gesetze, auf die sich der Aggregator gerne in AGB oder Privacy-Verpflichtungen beruft, nicht gelten. Aufgepasst werden muss auch bei Briefkastenfirmen und Unternehmen mit ‚Sitz‘ in Steueroasen.

 

 

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