Neuerfindung eines Festivals – das GIFF in Mexico fand physisch, digital und virtuell statt

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Konferenzraum des Festivals ©GIFF

 

Das Festival Internacional de Cine Guanajuato (GIFF), das größte Filmfestival Mexikos, das normalerweise mehr als 100.000 Zuschauer hat, hätte eigentlich im Juli 2020 stattfinden sollen. Wegen der Pandemie musste der traditionelle Termin verschoben werden. Statt komplett online zu gehen oder ganz abzusagen, beschloss das Festival, wie viele andere auch, ein hybrides Festival zu organisieren. Dabei zogen die Veranstalter aber alle Register von Kino- und Open-Air-Vorführungen über Online-Programme bis zu interaktiven Veranstaltungen im Cyberspace, wie es sie bisher auf noch keinem Filmfestival gab.

 

In einer Pressemitteilung legte das Festival seine Leitlinie für diese Neuerfindung dar: »Angesichts der neuen globalen Perspektive steht das GIFF zu seiner Verpflichtung, die Filmkultur zu fördern und Grenzen zu überschreiten, was bedeutet, dass wir die Art und Weise, in der wir kommunizieren und Kontakte knüpfen, erneuern müssen.« Das GIFF soll auch in Zukunft sowohl persönlich-physisch als auch digital und virtuell veranstaltet werden.

 

 

Persönlich/physisch

 

Schon zu Zeiten als das GIFF (Guanajuato International Film Festival) noch ein Kurzfilmfestival mit dem Namen „Expresión en Corto International Film Festival“ war, fand es an ungewöhnlichen und exotischen Orten statt. Zu den früheren Schauplätzen zählten neben Galerien, Kunsthallen und natürlich Kinos auch Orte wie unterirdische Tunnel oder das berühmte Museo de las Momias von Guanajuato. An den Orten wurden jeweils thematisch entsprechende Programme angeboten, wie etwa Horrorfilme im Mumienmuseum.

 

Aquacinema am Staudamm El Ollo in Guanajuato ©GIFF

Dieses Jahr konnte das Festival von seinen früheren Open-Air-Erfahrungen profitieren. Neben einem „Autocinema“ auf einem Parkplatz und einem „Picnic-Cinema“ in der freien Natur verlegte das Festival einen Teil seines Programms sogar aufs Wasser. Im „Aquacinema“ – eine Premiere in Lateinamerika – konnten die Zuschauer auf dem See vor dem Staudamm La Olla von kleinen Booten aus tagsüber Kinder- und abends Wettbewerbsfilme auf einer Großleinwand auf dem Ufer sehen. Die Wasserfläche wurde mit Bojen ausgestattet, um den Abstand zwischen den Booten einzuhalten. Verpflegung gab es an der Ablegestelle oder als Picknickkorb für den Bootsausflug. Es wurden 30 Boote mit maximal vier Personen an Bord zur Verfügung gestellt, die mehrmals am Tag ablegten.

 

 

Digital

 

Auf seiner Streaming-Plattform GIFF-TV präsentierte das Festival vom 18. bis 26. September bei täglich wechselndem Programm eine Auswahl aus den Wettbewerben Mexican Short Film, Experimental Short Film, Mexican Documentary, International Documentary sowie Mexican Feature und International Feature. 137 von 170 Festivaltiteln standen online zur Verfügung. Die Filme wurden während der ganzen Festivalperiode mit aufeinander folgenden Startterminen gestreamt und waren nur in Mexiko sichtbar (Geoblocking). Der Zugang wurde auf maximal 1000 ‚Tickets“ mit einer Gültigkeit von 24 Stunden begrenzt. Für das Angebot musste man sich anmelden, der Zugang war aber kostenlos!

Festivalbüro – auf dem Arbeitsbildschirm: digitale Projektion vor Zuschauer-Avataren im virtuellen 3D-Raum ©GIFF Instagram

Jedem Film ist eine eigene Internetseite mit Synopsen und Hintergrundinformationen gewidmet. Zusätzlich wurden Gespräche zwischen FilmkritikerInnen und FilmemacherInnen auf einem Vimeo-Kanal des Festivals veröffentlicht. In diesen Videochats sind Auszüge aus den jeweiligen Filmen zu sehen, das heißt sie fanden nicht live statt, sondern waren vorproduziert.

 

 

Virtuell

 

Zum ersten Mal bei einem Filmfestival wurden ‚virtuelle Räume‘ geschaffen, in denen jedermann in Echtzeit an Branchentreffen, Konferenzen, einem Kritikerraum und Konzerte mittels eines Avatars teilnehmen konnte.

 

»Erschaffen Sie einen Charakter, mit dem Sie die Räume und Säle des Festivals erkunden können.« ©GIFF

Die Festivalleiterleiterin Sarah Hoch meinte in einer Vorankündigung: »Das GIFF ist eines der technologisch fortschrittlichsten Festivals der Welt. Wir waren eines der ersten Festivals mit Vorführungen in virtual reality, Konferenzen zur Gestaltung von kreativen Inhalten und mit der Produktion von VR-Filmen. Und aus diesem Grund sind wir in diese ‚Welt‘ gegangen. Die Menschen werden ihren Avatar erstellen und über die „Virbela“-Plattform[1], die wie das Kongresszentrum aussehen wird, eintreten können. Es werden zwei Tage in Echtzeit sein. Wir werden alle in Echtzeit mit unseren Avataren an den Produktionstagen (production days) und in den Konferenzen verbunden sein. Sie können auf dem Campus herumlaufen, wir haben auch zwei Hörsäle und Sitzungsräume. Jeder, der einen Computer hat, kann hierher kommen und sich daran erfreuen, einem Spieler, einem Journalisten, einem Filmfanatiker bis hin zu allen, die Filme mögen, zu begegnen.«

 

Neben den Veranstaltungen für die Branche mit Fachleuten aus der Filmindustrie, u.a. Pitching-Sitzungen mit internationalen Produzenten und Filmförderern, galt ein Schwerpunkt der Filmkritik. In diese Sektion gehörten El Salón de la Crítica Presenta, El Taller de la Crítica und Q&A Creadores Frente a la Crítica. Schon im Vorfeld des Festivals fanden von Januar bis Juli 2020 sieben monatliche Ausgaben von El Salón de la Crítica statt, einem virtuellen Raum, in dem jeder angehende Kritiker Rezensionen zu einem Film einsenden konnte, um von einem professionellen Kritiker besprochen zu werden.

 

Die Critics‘ Lounge bot drei Konferenzen für Filmkritiker und Journalisten. Außerdem wurden Vorträge über die Filme im Wettbewerbsprogramm des Festivals gehalten, an denen 37 Regisseure, ein Produzent, eine Schauspielerin, ein Musiker und 29 Filmkritiker und Journalisten teilnahmen.

 

Campus virtual © GIFF

Zusätzlich fand El Taller de la Crítica (Kritikerworkshop) statt – ein Ausbildungsraum, der mit dem Ziel geschaffen wurde, angehende Filmkritiker unter Beteiligung erfahrener Kritiker zu professionalisieren. Außerdem boten Q&As die Gelegenheit RegisseurInnen Fragen zu stellen.

 

Darüber hinaus gab es eine erweiterte mediale Berichterstattung über Live-Veranstaltungen wie Meisterklassen, Diskussionsrunden und Konferenzen, die auf der GIFF-TV-Plattform des Festivals übertragen und sowohl auf der Website des Festivals als auch auf Facebook Live angeboten wurden.

 

 

Präsentiert wurde GIFF virtual auf der Multi-User Spiele-Plattform Sinespace[2],  zugänglich mit der App Breakroom,  mit Unterstützung von Virtualware und ausgestattet mit digitaler Kunst von Demiurgo .

Avatar David Lynch erhält eine Medaille als Auszeichnung für sein Lebenswerk ©GIFF

Ein besonderes Highlight der ‚virtuellen Aktivitäten‘ war die Teilnahme von David Lynch, dem ein Tribute-Programm gewidmet war, an der Verleihung  des Career Achievement Award. David Lynch ließ es sich nicht nehmen, die mit der Auszeichnung verbundene Medaille des Archivs der Universidad Nacional Autónoma de Méxiko ‚persönlich‘ entgegen zu nehmen. Sein selbstähnlicher Avatar, wurde von ihm und seinem Team, dem nur die Gestaltung der Haare Probleme verursachten, für den Anlass gestaltet.

 

Fazit

Übertragung der physischen Preisverleihung im leeren Kino auf die Autocinema-Leinwand ©GIFF Instagram

Mit dieser dreifachen Strategie – neue Freiluftveranstaltungsorte, Online-Programme mit Filmen und Q&As sowie virtuelle 3D-Umgebungen – gelang es dem GIFF so viel wie möglich von der  lebendigen Begegnung und der Gemeinschaftserfahrung, die zur Definition eines Festivals gehören, trotz geschlossener Veranstaltungsräume zu erhalten.

»Die Pandemie hat kreatives Denken gefördert und uns gezwungen, nicht nur über den Tellerrand hinauszuschauen, sondern auch außerhalb des Tellerrandes zu arbeiten«, meint Festivalleiterin Sarah Hoch. »Während viele in unserer eigenen Branche jahrelang zögerten, sich neuen Technologien zuzuwenden, haben wir heute die Gelegenheit, nicht nur diesen Sturm zu überstehen, sondern auch relevant zu bleiben, indem wir neue Möglichkeiten für uns und für zukünftige Ereignisse, die in unsere Fußstapfen treten könnten, eröffnen«.

 

 

 

Links:

URL des Festivals: GIFF

URL: VirBELA

URL: Sine Space

 

 

[1] VirBELA ist ein kalifornisches Start-Up-Unternehmen mit Sitz in La Jolla, das mit einem Team von Designern, 3D-Künstlern, Spielentwicklern und Psychologen virtuelle Welten, insbesondere für Fernlehre und Unterrichtszwecke, entwickelt. Bekannt ist das Unternehmen auch für sein Pinnacle Virtual Film Studio (zusammen mit Appreciated Media). VirBELA wurde 2018 vom Immobilienmaker eXp World Holdings aufgekauft.

[2] Das Londoner Unternehmen Sine Wave Entertainment entwickelte nach dem Modell immersiver MUDs den Sinespace, der auch Virtual Reality unterstützt. Nachdem sich eine weltweite Ausbreitung des Coronavirus abzeichnete, änderte das Unternehmen seinen Fokus. Das Ergebnis ist die App Breakroom, die auf Zusammenarbeit über Distanzen ausgelegt ist. Breakroom bietet neben Videokonferenzen, Instant Messaging, Meetingräumen und digitalen Kollaborationstools auch soziale Räume.

 

 

 

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