„Diener des Volkes“ – die Erfolgsserie, die Selenskyj zum Präsidenten machte

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Wolodymyr Selenskyj als Geschichtslehrer und Präsident Wassyli Petrowitsch Holoborodko ©ARTE/Kvartal95

2015 startete der heutige ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Fernsehserie „Sluha Narodu (Diener des Volkes[1])“. Die Folgen der Serie von je etwa 25 Minuten waren zuerst im ukrainischen Fernsehen im Original, dann auf YouTube mit russischen Untertiteln[2] zu sehen. Ab 2016 bot Netflix die Serie in einigen Territorien Englisch untertitelt an, stieg mangels Nachfrage bald aus, bietet sie aber inzwischen wieder an. Angesichts des großen Interesses aus traurigem Anlass wird derzeit die erste Staffel jetzt auch von einigen westeuropäischen TV-Sendern angeboten. In Großbritannien zum Beispiel auf Channel4 und in Griechenland Antenne 1. Zum ersten Mal können aktuell 26 Folgen der Staffel 1 mit deutschen Untertiteln angesehen werden und zwar kostenlos in der ARTE-Mediathek.

 

Worum geht es in der Serie? Selenskyj spielt einen Geschichtslehrer, der von einem ranghohen Politiker und Strippenzieher wegen der plötzlichen Social-Media-Popularität seiner heimlich in der Schule aufgenommenen Tirade gegen die herrschende Politik mangels geeigneter Kandidaten als Präsident der Ukraine nominiert wird. Wassily Petrovich Holoborodko, der ‚Wasja‘ genannte Lehrer gewinnt die Wahlen haushoch. Die folgenden Episoden der ersten Staffel handeln von den Versuchen des Lehrers sich in die neue Rolle einzuarbeiten und gleichzeitig seinen moralischen Idealen treu zu bleiben. Dabei hat er an mehreren Fronten zu kämpfen.

 

Der erste Schauplatz ist seine eigene Familie, deren Mitglieder die Chance auf einen Ausbruch aus ihren bescheidenen Lebensverhältnissen wittern und sich zu bereichern versuchen. Parallel kämpft Wasja in Politik und Verwaltung gegen das Establishment, dessen VertreterInnen er durch aufrichtige Menschen aus seinem Umfeld ersetzt. Im Hintergrund wirken dann noch als unsichtbarer Gegner Kräfte des Dunkels: eine Gruppe von Oligarchen, die im Luxus leben und nur in die Politik eingreifen, um ihre Pfründe zu sichern und mithilfe korrupter Politiker ihre Geschäfte voranzubringen. Allein im Kampf gegen diese Übermacht hat der einsame Held Visionen und Visiten von historischen Figuren – von griechischen Philosophen der Athener Demokratie über Abraham Lincoln und Che Guevara bis zu Angela Merkel, die ihm aber alle nicht helfen können oder wollen.

 

Produziert wurde die Serie von Kvartal 95, einer Produktionsfirma, die auf einer gleichnamigen studentischen Sketch-Truppe beruht, die Selenskyj während seiner Ausbildung zum Juristen 1995 mitgründete. In den ersten Jahren trat die Truppe vor allem live auf. Selenskyj nahm bei Kvartal 95 wechselnde Rollen als Schauspieler, Autor und Produzent wahr. Nach dem „Euromaidan“ 2014, in dessen Folge Präsident Janukowytsch abgesetzt wurde, begannen Selenskyj und seine Kollegen von Kvartal 95 mit dem Drehbuch für „Diener des Volkes“. 2016 bis 2019 wurden drei Staffeln mit großem Erfolg beim Fernsehpublikum ausgestrahlt. Die Firma Kvartal 95 produzierte mit inzwischen mehr als 300 MitarbeiterInnen außerdem die TV-Comedy-Show „Vecherniy Kvartal (Abend Kvartal)“ und unter anderem auch kurze Animationsfilme.

 

Im Unterschied zu international erfolgreichen Politsatiren oder Filmserien im Politikmilieu beruht der Erfolg der Serie weniger auf narrativer Prägnanz, filmischer Eleganz oder dem Anspruch auf innere Authentizität[4]. Vielmehr beruht ihre heimische Popularität auf den Sketch-Qualitäten Selenskyjs, popkulturellen Elementen und inhaltlich auf dem Aufgreifen von Themen des ‚einfachen Mannes von der Straße‘. So kümmert sich der immer freundlich-bescheidene Diener des Volkes weniger um die großen Politikthemen als um Ärgernisse wie etwa die Schlaglöcher auf maroden Straßen oder die maßlose Verschwendungssucht der Politelite. Als eine der ersten Amtshandlungen schafft Wasja, der selbst lieber den Bus nimmt oder Straßenbahn fährt, den Fuhrpark an staatlichen Limousinen ab – was der wirkliche Präsident Selenskyj später ebenfalls tat.

 

Die Satire lebt von ihrer Situationskomik und ist dabei nicht zimperlich. Beim ‚Aufräumen‘ der Missstände handelt der fiktive Präsident eher wie ein Autokrat – was wieder aufgefangen wird, wenn in einer von Wasja’s Visionen Plutarch und Herodot diskutieren, ob Autokratie oder Demokratie besser seien. So ziemlich alle Akteure ukrainischer Politik werden aufs Korn genommen. Auch das Parlament, das als Sauhaufen, der sich gerne mal prügelt, dargestellt wird. Das hinterlässt einen ebenso ambivalenten Eindruck, wie die nonchalante Darstellung internationaler Politik, bei der durchgeht, dass Wasja’s (Amateur-)Außenminister noch nie von Ländern wie Uganda gehört hat und auch nicht hören will. Wirklich witzig ist dagegen die Behandlung internationaler Gläubiger wie etwa der Weltwährungsfond, was an einen gewissen griechischen Finanzminister erinnern lässt.

 

 

Fiktion und Realität verschmelzen

 

Ende 2017 meldete ein Rechtsanwalt der Produktionsfirma Kvartal 95 offiziell den Parteinamen „Diener des Volkes“ an. Angeblich noch nicht mit der Absicht sich in das politische Geschehen einzumischen, sondern um den Namen zu schützen und der beabsichtigten Gründung einer anderen Partei mit dem Titel der Fernsehserie zuvorzukommen. In den kommenden Monaten treten MitarbeiterInnen von Kvartal 95 in die Partei ein und besetzen dort die Führungspositionen. Im November 2018 tauchten dann erstmals Billboards der Partei im Straßenbild auf, die man aber auch als Werbung für die dritte Staffel der Serie verstehen konnte. Im Dezember wurde Selenskyj zum Präsidentschaftskandidaten der Partei nominiert. Und am Neujahrstag 2019 kündigte Selenskyj schließlich öffentlich im Fernsehen seine Kandidatur an. Und zwar nicht in einer Nachrichtensendung, sondern in der Silvester-Ausgabe der Comedy-Show „Abend Kvartal“.

 

Im Unterschied zu anderen Parteien, führte „Diener des Volkes“ keinen klassischen Wahlkampf mit Ständen, Versammlungen und Reden. Stattdessen gab es eine Social-Media-Kampagne. Selenskyj postete selbstgedrehte Selfie-Filme von einer Tour durch die Ukraine und seine Truppe tingelte mit „Abend Kvartal“ durch das Land. Der Kandidat gab kaum Interviews und beteiligte sich erst am letzten Wahlkampftag an einer (echten) Fernsehdiskussion. Obwohl das Land bereits in einer sehr ernsten Krise steckte, äußerte er sich nur vage zu seinem politischen Programm,.

 

In den Augen vieler UkrainerInnen verschmolzen so die Kunstfigur Wasja mit dem realen Kandidaten. Die zentrale Message der Serie, dass ein anderer, aufrichtiger und nicht-korrumpierbarer Präsident möglich ist, war überzeugend genug, um die Wahlen zu gewinnen. Eine Studie über die Darstellung führender Politiker in Filmen und Serien und deren medialen Effekten stützt diese Verschmelzung. »Durch die Verwendung von Humor, um Selenskyj’s fiktive Präsidentenfigur als prinzipientreu zu bezeichnen, haben die Zuschauer der Figur möglicherweise positive Gefühle für Holoborodko auf den Schauspieler Selenskyj übertragen, indem sie das reformorientierte Verhalten seiner Figur mit den Verhaltensweisen, die Selenskyj als Präsident an den Tag legen würde, gleichsetzten [5]«.

 

Dass Schauspieler und gelegentlich auch Komödianten in hohe Positionen gewählt werden können, hat die Welt in den letzten Jahrzehnten schon mehrfach erfahren. Es war aber eher selten ‚eine gute Wahl‘[6]. Eine Ausnahme und vielleicht am Vergleichbarsten mit Selenskyj ist der isländische Komiker Jón Gnarr, der während der Bankenkrise Islands die „Beste Partei“ zuerst nur als satirischen Fake gründete und später aber mit ihrer realexistierenden Version 2010 zum Oberbürgermeister von Reykjavik gewählt wurde. Das Parteiprogramm ist den Forderungen des fiktiven Dieners des Volkes frappierend ähnlich[7]. Das Programm der echten Partei „Diener des Volkes“ ist im Vergleich dazu allerdings noch dünner.

 

Mit dem Wahlsieg der Partei „Diener des Volkes“ endete schlagartig die dritte Staffel der Serie. Nicht nur Selenskyj selbst, sondern auch viele seiner KollegInnen von Kvartal 95 übernahmen nun Regierungsrollen und wichtige Ämter im realen politischen Leben des Landes. Selbstverständlich kam die Vermutung auf, die Serie und die Kandidatur seien von vornherein ‚orchestriert‘ gewesen. Der Stellvertreter in der realen Präsidialverwaltung und Drehbuchautor von „Diener des Volkes“, Yuriy Kostiuk, sagte in einem Interview, dass sie nicht beabsichtigt hätten, dass die Show Selenskyj zur Präsidentschaft verhilft; ihr Ziel sei es, „Werte, nicht Lösungen in der Wirtschaft, der medizinischen Versorgung, Infrastruktur, zu präsentieren“.[8]  Produzent und Berater Kyrylo Tymoshenko sagte, »Die Show hat in den Köpfen der Menschen ein Bild davon geschaffen, wer der Präsident sein könnte«[9]. Dieses Bild korrespondierte mit den Vorstellungen einer Mehrheit des Wahlvolks. Laut einer Umfrage von 2018 nannten nur 16% Professionalität als wichtige Eigenschaft eines Präsidenten. Für die Mehrheit war es wichtiger, dass ein Kandidat als ehrliche und nicht korrumpierbare Person erschien[10].

 

Selenskyj selbst erklärte den Zusammenhang in einem Interview mit der BILD so: »Als Diener des Volkes habe ich versprochen, der Korruption Einhalt zu gebieten, Ehrlichkeit und Transparenz in die ukrainische Politik zu bringen, das Land zu vereinen, Frieden zu schaffen und das Leben der einfachen Menschen zu verbessern. Mit diesen Zielen bin ich so aufrichtig wie Wassily Holoborodko«[11].

 

Man kann also von einer nahtlosen Ablösung der Fiktion durch die Realität sprechen. Und das ist in der Politik- und Mediengeschichte bisher beispiellos.

 

 

Die erste Staffel von „Sluha Narodu“ ist bis zum 18. Mai in der Mediathek von Arte mit deutschen oder französischen Untertiteln zu sehen. Die zweite und dritte Staffel folgen Ende Mai bis Dezember 2022.

URL: „Diener des Volkes“, 2015, OmdtUt 

 

 

[1] „Diener des Volkes“ ist schon seit mindestens 2000 Jahren eine beliebte Redewendung in der Politik. »Das Volk muss Vertreter der Obrigkeit ernennen, und Menschen, die genügend Muße haben, sollten sich als Diener des Volkes den Sorgen der öffentlichen Angelegenheiten widmen« (Isokrates, 436-338 v. Chr.). In Osteuropa wird die Phrase mit dem Stalinismus in Verbindung gebracht. 1937 tauchte sie als Slogan in einer Moskauer Abgeordnetenwahl für Stalins Kandidaten  auf. Seitdem ist der Slogan zu einem sowjetischen ‚Mem‘ geworden, das vielfältige Verwendungen auf Plakaten und Zeitungsanzeigen fand. Selenskyj tauschte in seiner Serie den Adressaten, indem er ‚Diener‘ nicht auf die Abgeordneten des Volkes, sondern auf den Staatsführer münzte.

[2] russisch „Sluga Naroda“ („Sluha Narodu“ ist die Transkription aus dem Ukrainischen); OmU auf YouTube

[3] seit 27. März in UK auf Channel 4

[4] Etwa „House of Cards“, „Borgen“, „The West Wing“, die narrativ ausgefeilt einem filmischen Realismus verpflichtet sind.

[5] „From fiction to reality: Presidential framing in the Ukrainian comedy Servant of the People, von Nataliya Roman, Berrin A Beasley und John H Parmelee, University of North Florida; European Journal of Communication 2022, Vol. 37. Die Studie untersucht das präsidiale Framing in „Diener des Volkes“, das möglicherweise Selenskyj geholfen haben könnte, die Präsidentschaft zu gewinnen. Aufbauend auf der Forschung zu fiktionalem Framing und politischer Satire analysierte die Studie die Rollen und Charaktereigenschaften des fiktiven Präsidenten. (aus dem Abstract zur Studie)

[6] Man denke nur an den Schauspieler Ronald Reagan (eine Doku über ihn wurde übrigens vom Sender des „Abend Kvartal“ am Vorabend der ukrainischen Präsidentschaftswahl ausgestrahlt – synchronisiert von Selenskyj), den Sitcom-Host Donald Trump, den Komiker Jimmy Morales aus der TV-Serie „Moralejas (Sitten)“, der Präsident Guatemalas wurde, oder an den Komiker und ‚Anti-Politiker‘ Beppe Grillo von den 5 Sternen in Italien.

[7] Punkte im Wahlprogramm von „Besti flokkurinn“: 1. Hilfe für Familienhaushalte, 2. Verbesserung der Lebensqualität der weniger Wohlhabenden, 3. Stopp die Korruption, 4. Gleichheit unabhängig von der sozialen Herkunft, 5. Mehr Transparenz in der Politik, 6. effektive Demokratie, 7. Schuldenerlass der Nation, 8. Kostenlose Busfahrten usw.

[8] zitiert aus: The New Yorker 25.10.2019; Originalquelle: Thromadske Ukraine, 13.06.2019

[9] ebenda

[10] Quelle: „Zelensky Unchained“, Studie des European Council on Foreign Relations, 1.9.2019; unter Berufung auf Rating Group Ukraine

[11] BILD 17.6.2019

 

 

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