Bundesarchiv restituiert verschollen geglaubten Avantgarde-Kurzfilm des polnischen Künstlerpaares Themerson

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Standbild aus „Europa“ von Franciszka und Stefan Themerson (1932) © Themerson Estate

 

Nur wenige Avantgarde-Filmemacher des letzten Jahrhunderts waren, trotz eines schmalen filmischen Œuvres und obwohl sie der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sind, so bedeutend und einflussreich wie das polnische Künstlerehepaar Franciszka und Stefan Themerson.

 

Die Themersons schufen in Polen zwischen 1930 und 1937 fünf Kurzfilme[1] Zwei weitere Filme entstanden in London im Auftrag der polnischen Exilregierung[2]. Die vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen entstandenen Filme übergaben sie in Paris zur Aufbewahrung einem Labor. Dort wurden sie 1940 von der deutschen Besatzungsmacht konfisziert und galten seitdem als verloren.

 

1983 erstellte Stefan Themerson den zehnminütigen Kurzfilm Europa in der London Film-makers‘ Co-op aus Standfotos des Films als Dia-Rekonstruktion. Zwölf Jahre nachdem die beiden Künstler verstarben (1988), nahmen letztes Jahr die Erben zusammen mit der Commission for Looted Art in Europe[3] eine Spur nach dem Original auf, die nach Deutschland führte. Es stellte sich heraus, dass sich im Bundesarchiv eine 35mm-Nitratkopie und eine Sicherungskopie von Europa befand, die über das Reichsfilmarchiv nach Berlin gelangte und bis zur Wiedervereinigung zum Bestand des Staatlichen Filmarchivs der DDR gehört. Die anderen Filme sind immer noch verschollen.

 

35mm-Bildkader aus dem Vorspann von „Europa“ © Bundesarchiv

Diesen September gab nun das Bundesarchiv die Restitution des Films an die Erbin der Themersons, Jasia Reichardt, bekannt[4]. Die Originale und die restaurierte Fassung erhielt das BFI Archiv zur Bewahrung vom Themerson Estate als Schenkung. Inzwischen wurde der vor achtzig Jahren beschlagnahmte Film von Fixafilm in Warschau auch digital restauriert. Die restaurierte Filmfassung hatte kürzlich beim London Film Festival im Oktober 2021 seine Premiere.

 

Das Werk der Themersons wird in den nächsten Monaten von LUX Distribution weltweit vertrieben[5]. Die nächste öffentliche Vorstellung findet am 1. Dezember im Centre Pompidou statt. Ein kurzes Demo-Reel der Restaurierung wurde im Oktober von Fixafilm auf Vimeo[6] veröffentlicht.

 

Der Film selbst ist von dem gleichnamigen futuristischen Gedicht des Lyrikers Anatol Stern inspiriert. Es ist eine Warnung vor einem zweiten Weltkrieg und ein Lamento über soziale Krisen und ethischen Verfall der 30er Jahre in einem am Abgrund stehenden Europa. Franciszka und Stefan Themerson übertrugen die Lyrik in animierte Bilder aus Photogrammen und Kollagen.

 

Wegen ihrer selbst entwickelten Photogramm-Technik wurden die Themersons mit Künstlern wie Man Ray, Fernand Léger und Moholy-Nagy verglichen. Sie gelten als Pioniere des abstrakten und absoluten Films. In Polen waren sie auch wegen ihres Engagement für eine Warschauer Filmkooperative nach dem New Yorker Vorbild bekannt. Mit der Kooperative SAF gaben sie die Filmzeitschrift „f.a.“ (film artystyczny) heraus.

Selbst nicht nur Filmemacher, sondern Künstler in vielen Sparten (Malerei, Illustration, Texte, Musik, Fotografie), trugen sie dazu bei den Film als neues künstlerisches Medium zu verstehen und waren an der Prägung des Begriffs artists‘ film beteiligt. Ihre publizistischen und kunsttheoretischen Aktivitäten setzten sie nach ihrer Flucht auch im Exil in London fort, wo sie seitdem lebten.

 

 

Themerson-Filme auf UBUWeb

Przygoda Czlowieka Poczciwego (The Adventure of a Good Citizen)         

Calling Mr. Smith über „deutsche Kultur“ und die Besetzung Polens 

The Eye and the Ear  https://www.ubu.com/film/themerson_ear.html

 

Weitere Informationen über Leben und Werk der Themersons

Themerson Archive

Porträt auf Monoskop

Artikel „Marcin Giżycki discusses the films of Stefan and Franciszka Themerson

 

[1] Apteka (The Pharmacy, 1930), Europa (1932/30), Drobiazg Melodyjny (Moment Musical, 1933), Zwarcie (Short Circuit, 1935) und Przygoda Czlowieka Poczciwego (The Adventure of a Good Citizen, 1937).

[2] Calling Mr. Smith (1942) und The Eye and the Ear (1944)

[3] Die Commission for Looted Art in Europe (CLAE) ist eine internationale, sachverständige, nicht-gewinnorientierte Vertretungskörperschaft, die 1999 in London gegründet wurde. URL: www.lootedartcommission.com

[4] „Restitution des Films „Europa“

[5] In der LUX Collection befinden sich: „Europa“ (1931: 35mm); „Adventures of a Good Citizen“ (1937: 16mm, HD digital file, DCP); „Calling Mr. Smith“ (1943: 35mm, 16mm, HD File, DCP); „The Eye and the Ear“ (1944-45: 35mm, 16mm, DVD, Digibeta, SD digital file); „Europa Reconstruction“ (1984: DVD, Digibeta, SD digital File) sowie Rekonstruktionen von „Moment Musical“ von „Pharmacy“.    https://lux.org.uk/work/europa

[6] https://vimeo.com/630219923