Ich drehe Selfies, also bin ich!

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Selfie des Autoren © rww

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Im Jahr 2002 tauchte der Begriff zum ersten Mal in einem australischen Blog auf. Im November 2013 erklärte das ehrwürdige Oxford English Dictionary „selfie“ zum Wort des Jahres. Nachdem es bereits mehr als 92 Millionen mal in Tweets verwendet wurde, erklärte Twitter – etwas verspätet – das Jahr 2014 zum Jahr des „selfie“. Gemeint waren damals selbstverständlich nur Fotos. Dieses Jahr meldete nun das indische Unternehmen Velfie: „2014 was about selfies … 2015 is for #velfies!“. Video-Selfies, kurz Velfies, verbreiten sich inzwischen rasant. Woher kommt das Phänomen? Was macht die Attraktivität aus? Purer Narzissmus? Welche Bedeutung haben Selfies in der Gesellschaft und Kultur? Sind wir alle in eine frühkindliche Spiegel-Phase zurückgeworfen?

 

Technik: Selfie-Plattformen und Gadgets

Die ersten Video-Selfies wurden noch an heimischen Computern mit Webcams aufgenommen. Vorreiter waren Porno-Plattformen wie zum Beispiel die inzwischen eingestellte, aber legendäre Plattform Chatroulette für exhibitionistische Amateure, die 2009 online ging und von einem damals 17jährigen Russen gegründet wurde. Im gleichen Jahr kam das kompakte Apple-Modell iMac erstmals mit eingebauter Kamera auf den Markt, das als Heimcomputer eher familiäre Videokommunikationsbedürfnisse anvisierte.

Jahre später, als Apple im September 2015 sein iPhone-Modell mit dem Betriebssystem iOS9 vorstellte, erregte ein technisch unbedeutendes Feature die größte Aufmerksamkeit: ein Button für die schnelle Aufnahme eines Selfies – in der Nomenklatur der Hersteller „Emergency Selfie“ genannt – und ein eigener Foto-Ordner zum Ablegen von Selfies. In der technischen Entwicklung bedeutender war jedoch, schon viel früher, die Entscheidung, ein Kameraobjektiv auf der Frontseite, also auf der Seite des Auslösers, einzubauen. Denn erst mit der Frontkamera im Smartphone wurden Video-Selfies ortsungebunden und außerhalb der häuslichen Umgebung möglich.

Der Mobiltelefonhersteller HTC perfektionierte diese Funktion kürzlich in seinem neuen Model mit dem bezeichnenden Namen „Desire Eye“. Selfie-Aufnahmen lassen sich bei diesem Modell per Sprachbefehl auslösen („Kamera ab!“). Das Gerät bietet eine integrierte Bildbearbeitung, zum Beispiel zum Austausch des Hintergrunds („Panoramafreiheit“). Außerdem wurde die für die Bildqualität von Selfies entscheidende, vordere Kamera mit 13 Megapixeln kräftig gepimpt.

 

Wirf den Stock weg …

Auch den Selfie-Kameraleuten wird mit neuen Gadgets beim Dreh geholfen. So muss man nicht mehr unbedingt mit dem doch eher lächerlich wirkenden Selfie-Stick spazieren gehen. Aus der gleichen „Garage“ wie der legendäre DIY-Mini-Computer Raspberry – vom Campus der University of California, Berkeley – kommt aktuell mit der „Lily Camera“ eine Kombination aus Selfie-Kamera und Drohne auf den Markt. Die wasserdichte und ultraleichte fliegende Kamera lässt sich in die Luft werfen und kennt dann nur einen Lebensmittelpunkt: Sie kreist und folgt ihrem Besitzer und macht dabei Aufnahmen in HD-Qualität. Gesteuert wird sie von einem GPS-Sender, der als Armband getragen wird.

 

Apps für Millionen

Inzwischen gibt es Dutzende Apps, die es den Nutzern erlauben, ihre Video-Selfies auch online zu verbreiten. Nach Video-Apps wie Vine, die der Verbreitung dienen („broadcasting“ und „sharing“), sind Apps zur Bearbeitung und zur dialogischen Kommunikation der neueste Hype. Allen Ländern voran geht im Moment Indien, wo Velfies sogar in vielen Betrieben fester Bestandteil der Förderung der Unternehmenskultur und Kommunikation unter Mitarbeitern geworden sind.

Ein anderes Beispiel aus dem Pionierland Indien ist die App frankly.me, deren Funktion als Stimme des Volkes beworben wird. Die App macht es möglich, mit Video-Selfies persönliche Fragen an Politiker und Stars zu stellen. Im Wahlkampf zu den Landtagswahlen in New Delhi Anfang dieses Jahres hat frankly.me Medienberichten zu Folge eine zentrale Rolle gespielt.

Ebenso aus Indien kommt Velfie App, deren Konzept als umgekehrte Karaoke Machine beschrieben werden kann: Die Nutzer laden Tondokumente mit Zitaten von Celebrities, Politikern, Schauspielern oder historischen Persönlichkeiten aus einer Mediathek und können sie mit Aufnahmen von sich selbst synchronisieren und anschließend online verbreiten. Velfie App knüpft so mit einer professionelleren Option an die am Häufigsten auftretende Form von Video-Selfies an: Menschen, die sich zu ihrer Lieblingsmusik tanzend und singend auf YouTube präsentieren.

Deutschland ist, neben Indien, mit Dubsmash aus Berlin ganz vorne dabei: „Roland Grenke, Jonas Drüppel und Daniel Taschik, alle drei erst Mitte 20, stecken hinter Dubsmash. Mit der App kann jeder klingen wie Terminator Arnold Schwarzenegger, Angela Merkel, Stromberg und viele andere Prominente“, schrieb die Berliner Zeitung (bz, 13.1.2015). Dubsmash ist inzwischen weltweit in knapp 200 Ländern verbreitet und verzeichnete in nur einem Jahr 75 Millionen Downloads.

 

Festivals, Wettbewerbe und virale Werbung

Inzwischen gibt es sogar Selfie-Video-Festivals. Ob sie außerhalb des Cyberspace Sinn machen und sich halten können, ist fraglich. Viele solcher Ereignisse erwiesen sich schon als Eintagsfliegen. Erfolgreicher sind Mobile Festivals und Online-Wettbewerbe für Selfie-Videos. PR-Agenturen haben das Thema auch entdeckt. Dutzende Wettbewerbe im Rahmen von Werbekampagnen oder Gewinnspielen rufen zu Selfie-Einreichungen auf. Auch nicht-kommerzielle Veranstalter sind dabei, wie der grenzüberschreitende EUREGIO-Zusammenschluss, der zum Tag der Nachbarsprache Anfang dieses Jahres einen Dubsmash-Wettbewerb ausgerufen hat. Manche Aktionen muten aber eher bizarr an, wie etwa der Schul-Wettbewerb der Stiftung Bibel und Kultur mit ihrem Selfie von Gott!

Auch seriöse Filmfestivals machen bereits mit. So konnte man beim Crossing Europe Filmfestival in Linz 2014 mit einem Selfie-Beitrag einen Festivalpass gewinnen. Ein werbefinanzierter Selfie-Film der Kosmetikfirma Dove hat es 2014 sogar ins Programm des Sundance Film Festival geschafft: Der siebenminütige Film mit dem Titel Sell if I zeigt Mütter und ihre Töchter, die sich mit der Problematik ihres Aussehens, ihrer Erscheinung und Verletzlichkeit in Selbstdarstellungen auseinandersetzen – erstaunlich selbstreflexiv für eine Branche, die ja davon lebt, dass sie Frauen vorgaukelt, ihr Wert hänge vom Grad ihrer Schönheit ab!

 

Selfie-Filme und Selfies im Kino

Narzissmus im Film gibt es selbstverständlich schon viel länger als Smartphones und Selfies. Auf einen interessanten Aspekt zur Vorgeschichte – und eine Vorbedingung für die spätere Entwicklung – weist Rosalind Krauss hin. In dem Essay The Aesthetics of Narcissism von 1976 beschreibt Krauss das damals neue Medium Video als ein Medium des Narzissmus. Im Unterschied zum Medium Film, das im Wesentlichen repräsentiere, befördere Video die narzisstische Spiegelung des Selbst. Denn Video war das erste Medium, das simultan in Bewegtbildern eine Person zugleich aufnehmen und wiedergeben konnte. Das Schließen der Lücke zwischen Aufnahme und Wiedergabe ist nach Krauss die Ursache für die selbstzentrierte Struktur von Videoaufnahmen und macht den Narzissmus zum Wesensmerkmal des Videografierens. Als Beispiele benennt Krauss die damals weitverbreiteten Closed-Circuit-Installationen und Videos von Richard Serra (z.B. Boomerang von 1974) und Joan Jonas (Vertical Roll, 1972).
1974 schloss Nam June Paik den Menschen aus dem Closed-Circuit aus und lieferte mit seiner vielleicht bekanntesten Arbeit TV-Buddha gewissermaßen ein Selfie mit Gott.

Künstlerische Arbeiten der jüngeren Zeit sind seltener als in der frühen Videokunst Selfies der Autoren, sondern eher Found-Footage-Filme mit Selfies von Anderen. So benutzt das belgische Künstlerkollektiv Leo Gabin Selfies von Amateurfilmen aus YouTube – u.a. ausgestellt 2013 in der Ausstellung Privat der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main. Zu angeeigneten Selfies gehören anzüglich tanzende Teenager in girls room dance (2010) oder Mädchen, die ihre Lieblingskosmetik und Konsumfetischartikel vorführen in Hair Long (2013). Ihre neuesten Arbeiten stellt das Künstlertrio im Januar 2016 in der Berliner Galerie Peres Projects aus. Eine Auswahl ist auch auf Vimeo zu sehen.

Viel früher entstanden und ein schöner Kommentar auf die Selfie-Manie im Internet ist auch das Video Mass Ornament (USA 2009). Natalie Bookchin, die in den 90er Jahren zur aktivistischen Netart-Gruppe RTMark gehörte, zeigt darin Selfies von performenden Jugendlichen als multiple Splitscreens … und als Ornament der Masse.

Ohne YouTube-Footage hingegen kommt der US-amerikanische Künstler Ryan Trecartin aus, der darstellerisch völlig übertrieben und durchgedreht sich selbst und andere für seine Selfie-Videos  inszeniert (z.B. Biennale Venedig 2013).

Frühere Beispiele für autobiographische Arbeiten von Künstlern sind die Filme von John Smith, insbesondere die Hotel Diaries, in denen der Filmemacher seine persönlichen Befindlichkeiten und sozialpolitischen Kommentare in seine eigene Kamera spricht.
Einen Pionier machten Florian Krautkrämer und Matthias Thiele in einem Vortrag (Selfie-Shots im Film, Universität Braunschweig) in dem britischen Super-8- und Kurzfilmemacher Tony Hill aus. Seit Jahrzehnten konstruiert Hill verblüffende, oft undurchschaubare, Gadgets, die dem GoPro Selfie Kit weit voraus waren und unter anderem im Kurzfilm Holding the Viewer (1993) eingesetzt wurden. Allerdings bleibt Tony Hill in den meisten seiner Filme selbst unsichtbar, was dem narzisstischen Selfie-Konzept entgegensteht.

 

Counter Velfies

Ein aktuelles, bekanntes Beispiel, allerdings kein Kurzfilm, ist der dokumentarische Spielfilm Taxi Teheran (Iran 2015), mit dem Regisseur Jafar Panahi sein Berufsverbot als Filmemacher umgeht, indem er eine Kamera fest in einem Auto montiert und sich als Taxifahrer in Gesprächen mit Fahrgästen zeigt. Ähnlich motiviert sind die Selfies von Ai Weiwei, die vom Feuilleton als die ersten und wichtigsten Selfies der Kunstgeschichte gefeiert wurden.

In eine ganz andere Richtung zielen die Queer Selfies (Neuseeland, 2014), in denen die Besucher des Big Gay Out Events in Auckland ihre eigenen Geschichten der Kamera anvertrauen. Die Initiatoren wollten damit der GLTB Community eine Möglichkeit geben, sich der Medien zu ermächtigen, in denen sie sonst häufig falsch und missbräuchlich dargestellt wird.

In jeder Hinsicht echte Video-Selfies sind die ausschließlich online verbreiteten Clips des libanesischen Blogger SiMi A Merheb (Issam Merheb), die sich auf witzige, oft dadaistisch komische Weise über den Libanon, seine Menschen und Gewohnheiten lustig macht. In den ultrakurzen Statements – meist weniger als eine Minute lang – nimmt SiMi die Verwestlichung in seinem Land aufs Korn und propagiert die Schönheit und Einmaligkeit der eigenen libanesischen Sprache und Kultur. Trotz des Bezugs zur traditionellen Kultur hat SiMi keine Probleme damit, den Ursprung der Velfies im Libanon zu verankern und die Urheberschaft den Indern streitig zu machen: „A Velfie is a Video Selfie made in Libanon“! (siehe: Please help to save the „Velfie“)

 

Selfies kunst- und ideengeschichtlich

Die Kunstgeschichte kennt Selfies als gemalte oder gezeichnete Selbstporträts natürlich schon länger. Als frühestes gilt das Selbstporträt von Francesco Mazzola aka Parmigianino von 1524. Dieses Bild, das verblüffende gestalterische Parallelen zu heutigen Selfies aufweist, ist aber mit seiner besonderen Perspektive unter den Selbstporträts eine Ausnahme.

Selfies und Video-Selfies sind gegenwärtig ein massenmediales Phänomen und können nur als Teil der zeitgenössischen Populärkultur verstanden werden. Um das Phänomen zu erklären, liegt es nahe, auf die Spiegel-Theorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan zurückzugreifen. Lacan spricht von einer entwicklungspsychologischen Phase oder einem Stadium, in dem der Mensch im Spiegelbild seinen eigenen Körper entdeckt und zum ersten Mal ganzheitlich wahrnimmt. Dieses Spiegelstadium konstituiert nach Lacan das Ich (moi) und wird lustvoll, aber wegen der gleichzeitig entdeckten Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit auch ängstlich erlebt. Diese Phase beschreibt nach Lacan jedoch nur einen kurzen Lebensabschnitt und endet bereits im 18. Lebensmonat. Auch wenn so manche Selfies und Velfies reichlich infantil wirken, sollte die Ich-Bildung längst abgeschlossen sein, wenn zur Kamera gegriffen wird. Gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass exzessives Selbstphotographieren und Selbstfilmen mit Identitätsbildung zu tun hat – und mit dem Vergnügen, wie Lacan ebenfalls feststellte, zu glauben, dass die Person im Spiegel perfekter und fähiger ist, als sie sich in ihrem Körper selbst wahrnimmt.

„Ich ist ein Anderer“, heißt es schon bei Rimbaud („Je est un autre“, Brief an Paul Demeny, 15. Mai 1871). Und der deutsch-spanische Kunsttheoretiker Alexander García Düttmann fragt in einem Essay, das 2015 im Four by Three Magazin erschien, „Is there a Self in Selfies?“ und gibt gleich zu Beginn die Antwort, „Nein, es ist unwahrscheinlich, dass es ein Selbst im Selfie gibt“. Nach Düttmann ist das Selbst im Selfie-Bild nicht das Selbst der Person, die es aufgenommen hat, sondern eine Selbstreferenz des Mediums. Das Photographische wird auf den Moment reduziert, der den photographischen Vorgang immer und immer wieder auslöst. Selfies feiern den Moment des Auslösens, während das Bild oder der Film an Bedeutung verlieren. Als Selfie verschwindet, nach Düttmann, die Photographie oder die Photographie des Films im Alltag – in einem Alltag, in dem das Leben nicht mehr mit dem Dasein verbunden ist.

Diese These verweist auf gesellschaftspolitische Gründe und mediale Veränderungen als Ursache für das Massenphänomen Selfie. Die schnelle Zirkulation der Bilder und Filme in digitalen Netzen unterstützt diesen Aspekt. Dabei spielt es übrigens auch eine immer geringere Rolle, ob die Aufnahmen schön oder hässlich gefunden werden. Die Hauptsache ist, sie belegen die (mediale) Existenz des Absenders und werden verbreitet. Dazu passt auch, dass ein „Like“ immer seltener ein zustimmendes Werturteil ist, sondern nur eine Bestätigung der Wahrnehmung, das letztlich nur der Selbstbestätigung dient – und übrigens nicht der Kommunikation oder einem Dialog.

Ein Kurzfilm von Matthew Frost für das Modemagazin Vs. Magazine mit Kirsten Dunst bringt es auf einfache und effektive Weise auf den Punkt. In dem viralen Video Aspirational (USA 2014) wird die Celebrity-Schauspielerin (Dunst als sie selbst) von zwei jungen Mädchen auf der Straße entdeckt und sofort um ein gemeinsames Selfie bedrängt. Während Kirsten Dunst ein ganz normales Gespräch anbietet, lehnen die Beiden einen Dialog im wirklichen Leben abrupt und kategorisch ab. Sie fordern stattdessen von Dunst, in ihren Social-Media-Präsenzen getaggt zu werden. Die Mädchen haben nichts anderes im Sinn, als das Gespräch zu beenden und abzuhauen, um ihre Trophäe möglichst schnell im Netz verbreiten zu können.

 

Narziss & Video

In ihrem Vortrag Feedbacking the Self weist Angela Krewani, Medienwissenschaftlerin an der Universität Marburg, auf die narzisstische Struktur des Selfies hin und vergleicht sie mit dem Narzissmus, wie ihn Rosalind Krauss für das Medium Video beschrieb: die selbstzentrierte Struktur, wie sie charakteristisch für Selfies ist und ein Narzissmus, der eine völlig andere Betrachtungsweise von Körper, Emotion, Intimität und Privatheit hervorbrachte.

Mit der Digitalisierung der Medien wurde die Möglichkeit der Simultanität von Aufnahme und Wiedergabe nicht nur selbstverständlich, sondern auf ein weiteres Level gehoben. Während wir uns ohne technische Hilfsmittel nicht gleichzeitig mit eigenen Augen sehen können, ist die visuelle Selbstbeobachtung nun sogar verschärft möglich geworden. Gleichzeitig wird die Option der Selbstbeobachtung und Selbstreflexivität, wie wir sie bisher kannten, als potentiell kritisches Korrektiv der Weltwahrnehmung einer Person auf die Selbstreferenz des technischen Mediums reduziert.

 

Paradox

Selfies sind als Massenphänomen unserer Zeit vor allem Ausdruck einer Ohnmacht des Einzelnen und einer fehlenden Anerkennung durch das ökonomische und gesellschaftliche System, in dem wir leben. In den traditionell vorherrschenden Medien dominieren die Mächtigen aus Politik, Wirtschaft und Unterhaltungsindustrie das Bild. In einer Zeit, in der aber fast jeder eine eigene Kamera besitzt, sind Selfies eine einfache Methode, die Kamera auf sich selbst zu richten und den Blick anderer auf sich zu lenken. Auch die Mädchen im Kirsten Dunst-Film Aspirational sind – wie die Fans in tausenden, realen Backstage- und Prominenten-Selfies – nicht an der Celebrity als Person an sich interessiert, sondern nur an einer Aufwertung ihrer eigenen Person durch einen quasi osmotischen Wichtigkeitstransfer. Die Frage ist nur, ob diese Methode – gelegentlich auch als Demokratisierung der Medien propagiert – wirklich an den bestehenden asymmetrischen Machtverhältnissen rührt.

Aus dem passiven Beobachter wird nur scheinbar ein selbstbewusster Erzähler, der nicht am Rand der Landschaft steht, sondern sich per Knopfdruck zu einem Teil des Geschehens macht. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann sieht aber die Gefahr, „dass hinter der Selbstoptimierung nicht die liberale Idee steckt, dass jeder so sein soll, wie er will, sondern die Idee, dass es eine Norm gibt des schönen, leistungsfähigen, belastbaren Menschen, an der sich alle zu orientieren haben.“

Sherry Turkle betont in ihrem Buch Alone Together (2011), dass diese sogenannten Social Media an die Stelle echter sozialer Beziehungen treten – mit dem Manko, dass der soziale Kitt fehlt, der zu einem gemeinsamen Handeln erforderlich ist, um die Entfremdung im eigenen sozialen Leben tatsächlich zu überwinden.

So wird das menschliche, unbefriedigte Bedürfnis, als Individuum geschätzt und anerkannt zu werden, in sein Gegenteil verkehrt. Henry A. Giroux weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese narzisstische Kultur dazu beiträgt, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen im Rahmen der kapitalistischen Konsumgesellschaft in einen Akt des Kommerzes verwandeln. Das elektronische Selbst wird de facto zum öffentlichen Eigentum, das aber im Besitz von großen Unternehmen im Big Data Sektor für kommerzielle Zwecke genutzt wird.

Ein weiteres Paradoxon lässt sich bezüglich der Folgen für die Privatheit (privacy) feststellen. Weil sie glauben, dass diese Medien einen Vorteil und Nutzen für ihre Identität haben, beteiligen sich Menschen massenhaft an der Selbstüberwachung und Veröffentlichung ihres Verhaltens. Lee Humphreys beschreibt dies in einem Aufsatz (Who’s Watching Whom?, Journal of Communication 2011) als Konstruktion eines freiwilligen Panoptikums. Der Begriff Panoptikum ist dabei Foucaults Theorie entlehnt, nach der Sichtbarkeit eine Falle und das Bekenntnis Ziel der Strafe ist. Insofern in unseren modernen Gesellschaften nun Kameras allgegenwärtig sind, könnte man in Foucault’s Sprache „Selfie-Videos“ und „Likes“ auch mit „Überwachen“ und „Strafen“ übersetzen.

 

Links zu Quellen, Videos und Texten zum Weiterlesen

Oxford Dictionary: http://blog.oxforddictionaries.com/press-releases/oxford-dictionaries-word-of-the-year-2013/
„Aspirational“ mit Kirsten Dunst auf Vimeo: https://vimeo.com/106807552
Dove Selfie Short Film: http://mashable.com/2014/01/20/dove-selfies-short-film/#XbxmEBEwlikj
#Velfie App Contest: https://www.youtube.com/channel/UCAmWvZIkwLR1GdTrLrh7ycA
Leo GABIN Videos: https://vimeo.com/user7415250/videos
Natalie Bookchin: http://bookchin.net/projects/mass-ornament/
Ryan Trecartin Videos: https://vimeo.com/trecartin
John Smith „Hotel Diaries“: http://johnsmithfilms.com/selected-works/hotel-diaries/
Tony Hill Films: http://www.tonyhillfilms.com/films
SiMi A Merheb: https://www.youtube.com/user/microsax
SiMi A Merhab, YouTube-Kanal: https://www.youtube.com/user/microsax/videos?view=0&sort=da&flow=grid
Queer Selfies: http://www.nzonscreen.com/title/queer-selfies-2014
Alexander Garcia Düttmann, Four by Three Magazine: http://www.fourbythreemagazine.com/is-there-a-self-in-selfies.html
Joshua Sarinana, Philosophy of the Selfie: http://www.joshuasarinana.com/philosophy-of-the-selfie/
Artur Kim, Towards a Philosophy of the Selfie: http://philoselfie.tumblr.com/
Piero Scaruffi, Selfies, Surveillance and the Voluntary Panopticon: http://de.slideshare.net/scaruffi/selfies-48208513
Katie Warfield, Making Selfies/Making Self: http://www.academia.edu/8991582/Making_Selfies_Making_Self_digital_subjectivities_in_the_selfie
Bent Fausing, SELF-MEDIA: http://de.scribd.com/doc/236971521/SELF-MEDIA-The-Self-the-Face-the-Media-and-the-Selfies
Angela Krewani, Feedbacking the Self (pdf): http://www.uni-marburg.de/fb09/medienwissenschaft/forschung/veranstaltungen/selfie_bilder-dateien/selfie_abstracts_update.pdf
National #Selfie Portrait Gallery (2013): http://www.moving-image.info/national-selfie-portrait-gallery/
Selfie City: http://selfiecity.net/

 

Curiosa:

17 Funny ChatRoulette Screenshots: http://www.oddee.com/item_97000.aspx
8Bit Philosophy, Video Why Do We Take Selfies: http://www.escapistmagazine.com/videos/view/8bit-philosophy/57397-Why-Do-We-Take-Selfies-Mario-Foucault
Bolex Selfies: https://www.youtube.com/channel/UCumie5nRbq2iUwn9rhScuwg/
JK Keller, Idiot continues to take daily self-portrait for 16 yrs despite better projects, longer projects, more popular projects…:https://vimeo.com/108551893
Beckie0, She takes a Photo: 6.5 Years: https://www.youtube.com/watch?v=eRvk5UQY1Js
Anupam Kher #velfie tribute to Marlon Brando #2: http://www.v.ytapi.com/watch?v=yEu5f4POQO4
Museum of Selfies: http://museumofselfies.tumblr.com/
No Make-up Selfies: http://nomakeupselfie.com/
BelfieStick: http://belfiestick.com/

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