Ein Kurzfilm auf dem Weg in die Schul- und Bildungsarbeit: Die Herausgabe von JOE BOOTS – ein Fallbeispiel

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Filmstill JOE BOOTS: Ein etwas 30jähriger Mann mit langen Haaren und freiem Oberkörper breitet die Arme aus und schaut nach rechts aus dem Bild heraus, er hat mehrere auffällige Tatoos.

JOE BOOTS © Florian Baron / Kamera: Johannes Waltermann

 

Kurze Dokumentar-, Spiel- und Animationsfilme passen nicht nur wegen ihrer Länge besonders gut in Bildungszusammenhänge. Sie haben auch das Potential, Diskussionen und Lernprozesse anzustoßen. Aber nicht alle sind geeignet.

 

Vor 15 Jahren habe ich Methode Film gegründet, um künstlerisch interessante Kurzfilme zu verlegen und Konzepte für deren Verwendung in Bildungskontexten zu entwickeln. Der inhaltliche Schwerpunkt meiner Filmauswahl liegt im Bereich der sozialen Kompetenz. Ich entdecke „meine“ Filme auf internationalen Festivals und muss als Unternehmerin immer auch bedenken, ob es einen Markt für sie gibt.

 

Als ich auf einer Fachtagung Ideen für den Gebrauch internationaler Kurzfilme im schulischen Unterricht vorstellte, begann eine Geschichte einer umgekehrten Reihenfolge – nicht ich suche aus, sondern ein Film kommt zu mir.

 

Seit 9 Jahren ist Methode Film nun Partnerin von doxs!, der Kinder- und Jugendsektion der Duisburger Filmwoche. Die Partnerschaft steht im Zusammenhang mit einem Preis, der von der Bundeszentrale für politische Bildung bpb gestiftet wird: Die GROSSE KLAPPE für politischen Kinder- und Jugend-Dokumentarfilm.

 

Ziel der Partnerschaft ist es, dafür zu sorgen, dass der Preisträgerfilm auch über das Festival hinaus für die Schule und die außerschulische Bildung zugänglich ist, für Gesprächsstoff sorgt und im besten Fall Lernprozesse ermöglicht. Einige Wochen oder auch Monate nach der Preisverleihung gibt Methode Film eine didaktische DVD heraus, die den prämierten Film mitsamt Unterrichtsideen und Arbeitsblättern enthält. Sie wird über kommunale und konfessionelle Medienzentren den Schulen zur Verfügung gestellt, die sie aber auch selbst für ihre Unterrichtsbibliothek erwerben können.

 

Soweit die Idee. Ihre Umsetzung findet in einem besonderen Spannungsfeld statt: Auf Festivals steht der Film mit allen seinen künstlerischen Facetten im Zentrum, in der Schule geht es vor allem um fächerbezogene Inhalte und Kompetenzen. Ein Schulfach Film gibt es nicht, und während die Kultusministerkonferenz 2012 noch Medienbildung inklusive Filmbildung als Zielvorstellung formuliert hatte, sind 2016 die Weichen hin zur digitalen Bildung gestellt worden. Erfreulich ist aber die Entwicklung des Textbegriffs im Kontext schulischen Unterrichts: Denn man geht inzwischen von einem erweiterten Textbegriff aus, der auch audio-visuelle Formen umfasst. Heißt: Die Fähigkeit zu entwickeln, Filme als besonders gestaltete Information wahrzunehmen und zu entschlüsseln, hat ihre Berechtigung auch im Fachunterricht. In der Schulwirklichkeit aber sind Lehrpersonen, die in der Lage sind, diese Kompetenz zu vermitteln, ohne fachbezogene Inhalte aus den Augen zu verlieren, aktuell eher die Ausnahme.

 

Zurück zur Herausgabe des Preisträgerfilms – was passiert genau?

Da ist zunächst einmal der Entscheidungsprozess der Jugendjury, in den ich als Herausgeberin keinerlei Einblick habe. In der Regel können sich 10 – 12 Schülerinnen und Schüler aus Duisburger und umliegenden Schulen im Alter von ca. 16-18 Jahren im Rahmen einer mehrtägigen Sichtungs- und Evaluierungsveranstaltung für einen der für die GROSSE KLAPPE nominierten Filme entscheiden. In manchen Jahren schaue ich mir die vorausgewählten Filme ebenfalls an und finde dabei meist einen oder zwei Titel, die ich mir gut in meinem Programm vorstellen kann. Wie sich über die Jahre gezeigt hat, steht der Preisträger erst nach langen Diskussionsprozessen und Auseinandersetzungen innerhalb der Jugendjury fest. Prämiert werden Filme, die die Jurymitglieder emotional ansprechen und ihnen Dinge zeigen, die sie so „noch nie gesehen“ (doxs!) haben. Also in der Regel auch künstlerisch interessante oder ungewöhnliche Formate. Kriterien wie Lehrplanbezug oder eine bestimmte maximale Länge – die für meine Programmgestaltung wichtig sind – spielen keine Rolle.

 

Manchmal trifft sich beides und es ist schnell klar, dass der jeweilige Preisträgerfilm sein Publikum auch außerhalb des Festivals in Bildungszusammenhängen finden wird. Manchmal aber auch nicht, und dann durchforste ich die Bildungspläne der Republik, ob und wo sich Anknüpfungspunkte finden lassen, die die Verwendung des Films im Fachunterricht wahrscheinlich machen.

 

Finde ich solche Anknüpfungspunkte, dann habe ich ein wichtiges Verkaufsargument, wenn ich Monate später den neuen GROSSE KLAPPE Preisträgerfilm auf den Markt für Unterrichtsmedien bringe. Dieser Markt ist klein, und es tummeln sich etliche Anbieter darauf – nicht wenige dergestalt ausgerichtet, dass sie selbst Filme produzieren, die passgenau bestimmte Bildungsplanthemen abdecken. Künstlerisch ist das meist ohne Reiz, aber für die Stoffvermittlung am Lernort Schule wird es gerne genutzt, weil explizit, übersichtlich und „abprüfbar“. Jeder, der das deutsche Schulsystem durchlaufen hat, kennt solche Filme, die sich um Biotope im Verlauf der Jahreszeiten, um komplexe Visualisierungen von Vulkanexplosionen oder Geldmarktzusammenhänge drehen. Historische (Film)Dokumente werden clipartig aufbereitet, Erklärvideos reduzieren komplexe Themen zu sinnfälligen Schaubildern. Häufig sind solche Unterrichtsmedien mit Frage- und Antworttools ausgestattet, die Lernzielkontrollen ermöglichen.

 

Insbesondere kommunale Medienzentren schätzen solche Produkte, weil sie meist schon mit ihrem Titel eine Aussage darüber machen, für welches Inhaltsfeld eines Schulfaches sie genau passen: Jede Lehrkraft weiß, dass ein Medium mit dem Titel DER IGEL in die Grundschule gehört – um zu erkennen, dass ein Kurzspielfilm namens MACROPOLIS dort ebenfalls bestens aufgehoben ist, braucht es deutlich mehr Vermittlungsaufwand.

 

Im November 2017 wurde der knapp 30minütige Fernsehfilm JOE BOOTS (Florian Baron, Deutschland 2017) ausgezeichnet. Er entstammt der 3sat-Reihe „Ab 18!“, einem Format für ältere Jugendliche und junge Erwachsene, in dem junge Menschen aus der ganzen Welt mit ihrer besonderen persönlichen Geschichte vorgestellt werden. JOE BOOTS zeigt einen jungen Mann aus den USA, der als 17-Jähriger eine Entscheidung gefällt hat, die sein späteres Leben massiv beeinflusst: Unmittelbar nach Abschluss der High School und unter dem Eindruck von 9/11 hat er sich freiwillig beim Militär verpflichtet und wurde bald darauf nach Irak geschickt. Er kehrt mit einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung zurück. Der Film hat mit mehrfach wiederkehrenden Zeitlupenpassagen ein eigenwilliges Stilmittel und einen immer noch jugendlich wirkenden Protagonisten, der anzurühren vermag.

 

Wie passt ein solcher Film, der für Jugendliche ab ca. 16 Jahren geeignet ist, in den Fachunterricht bundesrepublikanischer Schulen?

Die USA als englischsprachiges Referenzgebiet sind flächendeckend nur im Englischunterricht Gegenstand des Oberstufenunterrichts – die englische Originalfassung aber ist allenfalls für sehr starke Grundkurse und für Leistungskurse zumutbar. Immerhin. Moderner Fremdsprachenunterricht geht von dem bereits erwähnten erweiterten Textbegriff aus, der auch audiovisuelle Formen umfasst, und der Kurzfilm ist von der Fachdidaktik längst entdeckt, da er die motivierende Verbindung von Filmerleben mit gewinnbringender Filmanalyse innerhalb der begrenzten Zeitfenster schulischer Bildung ermöglicht.

 

Auch inhaltlich bietet der Oberstufen-Englischunterricht einige Anknüpfungspunkte, wie ein Blick beispielsweise in die aktuellen Bildungspläne Hessens erschließt:  „Werte und Überzeugungen: z. B. (…) Patriotismus“, „Träume und Albträume: z. B. individuelle Schicksale (Vietnamkrieg, 11. September 2001)“, „Initiationsgeschichten“, „nationale Identität und nationale Stereotypen“, „Die USA als Supermacht“, heißt es dort. (Hessisches Kultusministerium, Kerncurriculum Gymnasiale Oberstufe Englisch (2016), S. 38 f.)

 

Wie sieht es in den Gesellschaftswissenschaften aus? Hier findet man von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, aber Themenfelder wie „Zukunftsvorstellungen Jugendlicher im Hinblick auf deren Freiheitsspielräume sowie deren Norm- und Wertgebundenheit“ oder, im Leistungskurs, die Erläuterung „komplexerer politischer, ökonomischer und sozialer Strukturen, Prozesse, Probleme und Konflikte unter den Bedingungen von (…) Krieg und Frieden“ (NRW, Kernlernplan Sozialwissenschaften für die Gymnasiale Oberstufe) geben Anlass zu der Hoffnung, dass sich die eine oder andere Lehrkraft finden wird, die den Film im Unterricht einsetzt. Auch der Hessische Bildungsplan für das Fach Politik und Wirtschaft macht Mut: In der Qualifikationsphase werden unter dem Themenbereich „Internationale Konflikte und Konfliktbearbeitung in einer differenzierten Welt“ u.a. folgende Inhalte vorgeschlagen (Hessisches Kultusministerium, Kerncurriculum Gymnasiale Oberstufe Politik und Wirtschaft (2016), S. 44):

 

Ziele, Strategien und möglicher Beitrag deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zur Konfliktbearbeitung und -prävention

 

Wunderbar, denke ich mir. Die Vermutung, man könne ausgehend vom Schicksal des US-Veteranen Joe Boots auch in der Schule auf die Situationen hier lebender Rückkehrer von Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu sprechen kommen, ist also gar nicht so verkehrt. Welche Motive kann es auch im deutschsprachigen Raum geben, freiwillig einer Armee beizutreten? JOE BOOTS als Vorbereitung für Gespräche mit der Bundeswehr, wenn sie an Schulen Informationsveranstaltungen zu Karrieren in ihren Reihen durchführt – auch eine Möglichkeit?

 

Zurück zur Chronologie der Ereignisse:

Mit dem Eindruck, einen eher kleinen, aber doch vorhandenen Absatzmarkt für den neuen GROSSE KLAPPE Preisträger zu finden, reise ich zum Festival. Preisverleihung mit vielen anregenden Begegnungen. Der Protagonist Joe Boots ist persönlich anwesend mitsamt dem jugendlichen Filmregisseur. Sie sind glücklich über ihren Preis und erzählen mir gerne, wie die Produktion zustande kam. Auch über das Festival hinaus stehen bereits einige Begegnungen und Gespräche mit Jugendlichen in Schulen in ihren Terminkalendern.

 

Dieses Interesse am Schicksal eines nahezu Gleichaltrigen prägt auch die Entscheidung der Mitglieder der Jugendjury:

 

Wir wollen einen Film auszeichnen, der höchst aktuelle und brisante Thematiken behandelt. Anhand der Geschichte eines Veteranen werden verschiedene Perspektiven zum Thema Krieg, darunter Aspekte wie die Verherrlichung von Kriegseinsätzen, Kritik am Patriotismus oder der Umgang der Gesellschaft mit Zurückkommenden, aufgegriffen. Der Film beeindruckt mit ästhetisch anspruchsvollen Bildern, die auf überzeugende Art und Weise mit dem Inhalt verknüpft sind. Der Protagonist zeichnet sich durch seine sympathische Erzählweise und ein großes Maß an Reflektiertheit gegenüber der eigenen Geschichte aus. Besonders ist uns der Einsatz von Slow Motion-Aufnahmen aufgefallen, die einen beinahe surrealen Eindruck vermitteln. Die inneren und äußeren Explosionen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film. (…)

(GROSSE KLAPPE 2017, 7. Europäischer Filmpreis für politischen Kinder- und Jugenddokumentarfilm, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, JOE BOOTS von Florian Baron, Begründung der Jury)

 

Die Herausgeberin erinnert sich an den Vietnamkrieg, im Zuge dessen hinreichend über traumatisierende Erlebnisse auch für die Kriegsherren geschrieben und gefilmt worden ist. Jugendliche in der Schule heute scheinen davon nicht mehr zu wissen. Auch ein gewisses Pathos, das den Film durchzieht, scheint dazu beizutragen, dass die Jugendlichen sich angesprochen fühlten. Trotz dieser Irritationen ist es erfreulich zu sehen, dass und wie die Jugendjury neben dem berührenden Inhalt die Gestaltung der Preisträgerfilme hervorhebt: Dass Dokumentarfilme eine „kreative Behandlung der Wirklichkeit“ (John Grierson) darstellen, gehört zu den Kernbotschaften, die ich mit meinem Filmprogramm in die Schulen bringen möchte.

 

Doch mitten in die schöne Stimmung hinein platzt eine kleine Bombe: Die Nutzung eines Musiktitels an zentraler Stelle des Films ist rechtemäßig nicht geklärt.

 

Zunächst denkt man sich, das wird schon werden, aber es wird nicht: Abgabe der Produktion für eine Auswertung am Bildungsmarkt nicht möglich, teilt mir der Sender mit. Zugegeben löst diese Absage auch das Problem der vermuteten schwierigen Vermarktung des Films – aber zufriedenstellend ist dies nicht. Nicht für die Kooperation mit doxs!, nicht für die Fernsehredaktion, die großen Wert auf die nachhaltige Wirkung ihrer Produktionen legt, nicht für den Filmemacher und seinen Protagonisten.

 

Auf der Suche nach Auswegen entsteht die Idee, neue Musik zu komponieren – ein teures Unterfangen. Der Alternativvorschlag, die Musiknutzungsrechte nachträglich zu erwerben, erweist sich als nicht umsetzbar, da der amerikanische Musikgroßverlag, bei dem sie erschienen ist, nicht einmal reagiert. Pragmatisch wäre eine Kürzung des Films um die kritischen Passagen – für den schulischen Einsatz wird er aufgrund geringerer Länge dadurch sogar interessanter. Aber kann man den Filmemacher davon überzeugen? Time will tell…..

 

Zwischenzeitlich haben sich an ganz anderen Stellen interessante Entwicklungen ergeben: JOE BOOTS wird als einer von lediglich zwei möglichen Vorschlägen für den Deutschen Kurzfilmpreis 2018 in der Sparte Dokumentarfilm nominiert, und – für meine Arbeit noch wichtiger – mit dem deutschen Menschenrechtsfilmpreis 2018 ausgezeichnet. Die Begründung der Jury greift auf das Menschenrecht auf den „höchsten erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit“ zurück, das  seit 1966 zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten gehört, wie sie von der großen Mehrheit der Staaten in den Vereinten Nationen verabschiedet wurden. (Deutscher Menschenrechtsfilmpreis 2018, Begründung der Jury von Katja Maurer, medico international) Das ist nun Glück auch für die Herausgeberin: Veranstalter dieser zweijährig vergebenen Auszeichnung ist eine ganze Reihe von (entwicklungs)politisch und humanitär engagierten Organisationen, die dazu beitragen könnten, dass es eine Nachfrage nach einer DVD mit dem Film gibt.

 

Diese erfreuliche Perspektive vor Augen, nimmt – über ein Jahr nach der Preisverleihung in Duisburg – die DVD-Herausgabe Fahrt auf.

 

Weiterführende Informationen / Links

doxs!-Festival: www.do-xs.de

Deutscher Menschenrechtsfilmpreis: www.menschenrechts-filmpreis.de

Ab18! www.3sat.de

Filme im Unterricht: www.filme-im-unterricht.de

Methode Film: www.methode-film.de