Volker Schlecht: Auf der Suche nach dem passenden Bild

THE WAITING (2023) © mobyDOK, Volker Schlecht

Ein passendes Bild – was ist das überhaupt? Und was geht ihm voraus – vielleicht ein anderes Bild, ein inneres oder doch nur eine unbestimmte thematische Intuition? Das sind Fragen, die sich schnell stellen, wenn man sich mit Volker Schlecht beschäftigt, der zwischen den bewegten und unbewegten Bildern hin und her pendelt: Der Animationsfilmemacher, Illustrator, Zeichner und Professor für Zeichnerische Grundlagen an der Hochschule Anhalt in Dessau reist gerade mit seinem animierten Kurzfilm THE WAITING (2023) um die Kurzfilmwelt. Der nächste Stopp des Films, der seine Premiere in der Sektion Berlinale Shorts der 73. Berlinale feierte, ist das dieser Tage stattfindende Kurzfilmfest Dresden (18.- 25. April). THE WAITING thematisiert das Aussterben einer seltenen Froschart – und reflektiert dabei aber auch globale Interdependenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den Arten, röchelndes Ersticken inklusive. Dabei ist der Film zudem eine elegant animierte Hommage, ein Nachdenken ohne einfache Antworten – und in seiner Konsequenz ein anregendes AniDoc. Diese Qualität hat THE WAITING mit dem Vorgängerfilm KAPUTT (2016) gemein, der international zahlreiche Preise gewann, darunter den Hauptpreis beim Internationalen Trickfilmfestival Stuttgart (ITFS) sowie in der Kategorie Bester Kurzfilm beim Sundance Film Festival.

 

RUE ROSÉ © Volker Schlecht

Dass seine Filme inzwischen international ausgezeichnet werden und er vielen in der Kurzfilmwelt als Filmemacher bekannt ist – obwohl er eben nicht nur das ist – das ist im Grunde ein biografischer Zufall, den man natürlich auch schicksalshaft nennen könnte. Eigentlich studierte Volker Schlecht nämlich Gebrauchsgrafik an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Und die Professur für Illustration war rein zufällig mit Eva Natus-Salamoun besetzt, die durch ihre Rolle als Regisseurin bestens mit der Trickfilmszene in Prag verbandelt war. Sie habe im Grunde für Schlecht „die Welt des Trickfilms eröffnet“, zum Beispiel, in dem sie ihre Studierenden einmal im Jahr für eine Woche mit nach Prag nahm. Für Schlecht ein richtiges Erweckungserlebnis, sodass er schließlich beschloss, als Erster in seinem Jahrgang einen Trickfilm als Studienabschluss zu realisieren. Es entstand sein Diplomfilm RUE ROSÉ (1997): Ein Matrjoschka-Film, der vom Rhythmus lebt, den die verschiedenen Gangarten der Passant*innen vorgeben. Der osteuropäische Einfluss ist RUE ROSÉ klar anzuspüren: Er erinnert an prägende Filme aus Polen, Tschechien und Estland dieser Zeit.

Der filmische Produktionsprozess war ein Abenteuer, das er sich vielleicht nicht zugetraut hätte, hätte er um alle Details gewusst: Kein Wort Tschechisch sprechend verbrachte Schlecht circa sechs Monate in Prag, verließ Salomouns Atelier nur, um im Studio Bratri v triku auf dem Barrandov am 7-minütigen Film zu arbeiten, den er per Hand zeichnete. Ein Mammutprojekt. Nach RUE ROSÉ folgte der 3-minütige SONST NICHTS (2000), bei dem Schlecht mit den Perspektiven und Blicken spielte, die ein Passant einer Mitreisenden zuwirft.

 

Illustration für Musikexpress © Drushba Pankow

Mit den Gangarten oder Walk-Cycles gibt es Thematiken und auch rhythmus-gebende stilistische Elemente bei Schlecht, die so gut zum Medium der Illustration passen, dass man denken könnte, sie gingen schon immer Hand in Hand. Doch zur Illustration kam Schlecht tatsächlich erst später, durch die Zusammenarbeit mit Alexandra Kardinar, einer Kommilitonin. Anfang der gemeinsamen Arbeit und des bekannten Stils der beiden, die sich als Duo Drushba-Pankow* nennen, war ein Experiment: Bei einem ihrer ersten Projekte – einer Doppelseite in der ersten Ausgabe des Illustrationskompendiums Freistil – setzten sich die beiden vor ein großes weißes Papier und zeichneten dann im Corps-Exquisite-Prinzip los, erst der Eine, dann die Andere, ohne zu wissen, was daraus wird. Mitten- und nebeneinander, drüber und daneben. Auf diese Art und Weise entstand ein fotorealistischer Stil, bei dem man „nicht erkennt, wer was gemacht hat“ – und der auch unter einem gewissen Zeitdruck funktioniert. Der anfangs analoge ko-kreative Prozess läuft auch im digitalen Bereich ähnlich ab – Kardinar und Schlecht teilen die Bildelemente leger untereinander auf und fügen sie im Nachgang via Photoshop zusammen, kolorieren sie. Die Grundlagen bilden nach wie vor Fotoreferenzen, die sie aber nicht sklavisch übernehmen, sondern durch Auslassung oder Ergänzung zu ihren eigenen Sujets machen. Es ist ein Stil, der hoch im Kurs steht und für zahlreiche Illustrationsprojekte, beispielsweise für „Psychologie Heute“ oder „Die Zeit“, angefragt wird. Und der ein Segen, und natürlich auch Fluch ist – denn selbst wenn die beiden gern einmal etwas anderes ausprobieren würden: Sie werden ja schließlich für das gebucht, was man bereits von ihnen kennt. Wie frei sie mit dem Referenzmaterial schließlich umgehen, gibt dennoch der Auftrag allein vor: Bei „Und wenn die Wahrheit mich vernichtet – Pater Richard Henkes im KZ Dachau“ (ein Graphic Documentary über den Lebensweg des Pallottiner-Paters Richard Henkes) war es klar, dass die Fotografien keine Veränderung dulden, dass die Detailtreue die Authentizität der erzählten Widerstandsgeschichte vermittelt, sie dringend benötigt. Und bei Projekten wie „Das Fräulein von Scuderi“ (einer Graphic Novel nach der Kriminalnovelle von E.T.A. Hoffmann) konnten sie gänzlich improvisieren und taten das dann auch.

„Und wenn die Wahrheit mich vernichtet – Pater Richard Henkes im KZ Dachau“ © Drushba Pankow

 

Im Bereich Animation sei hingegen eben nicht notwendig die Referenz, sondern eher die Themensetzung mit dem Bildtransformationspotential der Animation der Ausgangspunkt, sagt Schlecht. Bei GERMANIA WURST (2008), der erste Kurzfilm, den Schlecht digital zeichnete, ging es ihm damals konkret darum, diese Transformation einmal im Sinne einer deutschen, assoziativen Geschichtschronologie von nicht weniger als 2000 Jahren durchzudeklinieren. Das spielerisch wirkende Erkunden von Zusammenhängen zwischen verschiedenen Staatsverfasstheiten, Systemen, politischen Strömungen; die Kontinuität von Militarismus und Faschismus. Eine deutsche Wurstmasse, die sich durch die verschiedenen Epochen presst bzw. durchgepresst wird, Schäferhunde inklusive.

 

GERMANIA WURST (2008) © Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf

Volker Schlecht realisierte GERMANIA WURST als er an der Filmuniversität Konrad Wolf (2002 -2007) als Mitarbeiter lehrte, bevor er an der Berliner BTK/University of Europe (2007-2020) Grundlagen, Animation und Illustration unterrichtete (seit 2014 als Professor). Es war die erste von inzwischen drei Stationen, an denen Schlecht eine Dozententätigkeit ausgeübt hat. Ein Broterwerbsjob, aber einer, aus der er nicht nur viel Kraft zieht, sondern auch Erfahrungswerte weitergeben möchte. Seit 2022 unterrichtet er Zeichnerische Grundlagen im Bereich Architektur der Hochschule Anhalt in Dessau. Ein Bereich, in dem er sich uneingeschränkt wohl fühlt.

„Ich kannte die anderen Bereiche zwar alle aus den Perspektiven des Machers, aber nicht als Experte, das fiel mir insbesondere im Bereich Comic auf“.

Vieles habe er sich durch das Unterrichten selbst beigebracht. Das seien vielleicht keine Hürden oder Unannehmlichkeiten gewesen, aber durchaus ein immer wieder neues „Erlernen“ inhaltlicher, curricularer Grundlagen, von denen er sich nie sicher war, dass er sie bis ins letzte Detail beherrschte.

 

© Volker Schlecht

Bei den Zeichnerischen Grundlagen in Dessau sei er hingegen sofort im Stoff gewesen, vielleicht auch, weil die Zeichnung bei Volker Schlecht ohnehin den Alltag bestimmt – außerhalb der Universität, aber auch außerhalb des gemeinsamen Arbeitens als Drushba-Pankow. Denn das freie Zeichnen ist für Schlecht ein wichtiger täglicher Handgriff, eine Notwendigkeit, die erst einmal „nichts will“. Immer gibt es ein Papier, egal, ob das iPad daneben liegt oder der Bildschirm, an dem er arbeitet. Dem Papier ging tatsächlich ein angetrockneter Teebeutel voraus, auf dem Schlecht mit dem Kugelschreiber zeichnete. Die daraus entstehende „Teebeutel-Serie“ und auch andere Arbeiten hat er bereits im Rahmen von Gruppenausstellungen präsentiert. Inwiefern daraus eine eigene, für sich stehende Ambition wird, auch Einzelausstellungen mit seinen Blättern zu bestreiten, das weiß er selbst gerade noch nicht:

„Ich meine dieses freie Zeichnen ernst. Aber ich habe keinen Druck, dass ich mich hier beweisen muss“.

Mit diesen Zeichnungen begann Schlecht während der Arbeit an KYRIE ELEISON (2013), eine akribische antike-Figuren-Animation. Nicht notwendigerweise opak, aber doch viel weniger zugänglich als andere seiner Filme, thematisiert KYRIE ELEISON griechisch-römische Einflüsse auf das frühe Christentum, verwebt Religion mit Mozarts Musik. Ein italienischer Filmemacher hätte ihn sofort verstanden, erzählt Schlecht, während er glaube, dass der Film für mitteleuropäische, gar deutsche Augen vielleicht etwas weniger zugänglich wäre.

 

KAPUTT (2016) © mobyDOK, Volker Schlecht

Für ein großes Publikum im besten Sinne zugänglich ist hingegen Volker Schlechts bekanntester Film, KAPUTT, der wie sehr wenige Animationsfilme überhaupt den Unrechtsstaat DDR zum Thema hat. Grundlage für KAPUTT, den Schlecht zusammen mit dem Autoren- und Produzentenduo mobyDOK aus Max Mönch und Alexander Lahl realisierte, stellten die Sprachaufnahmen mit ehemaligen Insassinnen des Frauenknasts Hoheneck dar, die Volker Schlecht sofort in Mark und Bein gingen. Hier griff er vor allem die den Film so prägende beengte Räumlichkeit der Zellen und der Zwangsarbeit auf, die Schlecht analog zu William Kentridge mittels ausradierter Zeichnungen umsetzte. KAPUTT verzichtet dabei gänzlich auf sprechende Gesichter, wie man sie in Anidocs so häufig findet. Allein durch die dichter werdenden Räume und Strukturen in Kombination mit den starken Erinnerungsfetzen entsteht so ein klaustrophobischer Einblick in den zermürbenden Gefängnisalltag.

Auch beim aktuellen Film THE WAITING, bei dem Schlecht abermals mit Alexander Lahl und Max Mönch zusammenarbeitete, bildeten die Sprachaufnahmen den Anfang – oder vielmehr die Anfrage der beiden, ob Schlecht die Bildwelt für diese Sprachaufnahmen liefern wolle. Abstrakt sei ihm das erschienen. Doch dann habe er die Sprachnahmen angehört, und sei sofort dem Enthusiasmus der Forscherin für ihr Objekt, den Frosch, verfallen. Der Film entstand – als erster Film seit Jahren – völlig ohne universitären „Außenrahmen“, zwischen den Stationen BTK und den Anfängen von Dessau. Er habe in der letzten Phase auch viel im Zug auf dem iPad gezeichnet, und hatte dabei ein Aha-Erlebnis: Das Zeichnen war für ihn das erste Mal so, dass er nicht das Gefühl hatte im digitalen Raum „gegen die Maschine“ oder auch „gegen die Cleanheit anzuarbeiten“. Rotoskopie hätte er für die wenigen Krankenhausszenen eingesetzt, aber die Frösche habe er in den Bewegungsabläufen nur durch die eigene zeichnerische Auseinandersetzung einfangen können, da sei nur ein wenig Naturalismus aus YouTube-Referenzen gewonnen worden. Und zum ersten Mal sei ihm der „Zwiebelhaut-Effekt“ bei der Animation einigermaßen zufriedenstellend geglückt – dass sich ein Bild sichtbar aus dem nächsten herausschält, stehen bleibt, Platz für das nächste macht. Für Schlecht auch eine Hommage an einen großen Lieblingsfilm, nämlich den Klassiker PAS DE DEUX von Norman McLaren (1968).

Der veränderte Wahrnehmungsprozess, der mit dem Digitalen entsteht, ist Schlecht dabei sehr bewusst. So sei die digitale Zeichnung und Animation nur rein auf die Arbeitsschritte hin besehen zeitersparender – durch das Digitale entstünde aber eine Sucht nach Perfektion, die dann wiederum zeitintensiv sei. Dafür sei das durch das Digitale mögliche Trial und Error-Prinzip wie das „Feilen an einer Skulptur“ und mache ungemein viel Spaß. Für seinen anderen großen Arbeitsbereich, die Illustration, treiben Schlecht aber durchaus die mit der Perfektionierung des Digitalen zusammenhängenden Risiken von ChatGPT und anderen Bildgeneratoren um. Gerade für Grafikdesigner*innen und Illustrator*innen, die mit Referenzmaterial arbeiteten, stelle sich schon die Frage, ob man irgendwann durch die Maschine ersetzt werde. Aber immerhin: Für Volker Schlecht bleiben dann noch die Studierenden, und zuletzt die eigenen, freien Papiere. Und für die Sehnsucht nach dem kollektiven oder gemeinschaftlichen Arbeiten Gott sei Dank auch eben der Film.

 

* Der Name des Illustrator*innen-Duos ist aus dem damals gängigen Bezug auf Ostberlin entstanden, eher spaßiger Natur, auch wenn Schlecht heute manchmal an der Griffigkeit zweifelt. Seit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ist auf der Website Klarstellung und Namenserklärung nachzulesen.

 

Beitragsbild: THE WAITING (2023) © mobyDOK, Volker Schlecht