Niemand kann für immer traurig sein
Sophie Linnenbaum

 

PIX © Sophie Linnenbaum, DOP  Leonard Caspari, Szeno  Christina Kirk

Sophie Linnenbaum, geboren 1986 in Nürnberg, ist eine Beobachterin der kleinen Alltagsmomente und zwischenmenschlichen Begegnungen. Ihre Filme sind dabei nicht als reine Unterhaltung zu verstehen, sie lassen sich nicht nebenbei konsumieren, um dann unterzugehen in unserem mit bewegten Bildern überfluteten Gedächtnis. Vielmehr nutzt die Filmemacherin ihr Medium gekonnt und manchmal auch verquer, um subtil Denkanstöße zu liefern; den Film als Medium selbst in Frage stellend, wenn Sequenzen zum Stillstand gelangen, wenn filmische Mittel auf die Darsteller:innen übertragen werden oder wenn Szenenwechsel nicht etwa durch Schnitte oder Überblendungen eingeleitet werden, sondern wie im Theater die Requisiten und Staffagen von Komparsen aus dem Bild getragen werden. In ihren Kurzfilmen befragt Sophie Linnenbaum unser Miteinander: “Wenn ich einen Film drehe, ist es mir immer wichtig, das Menschliche zu betrachten und zu behalten.“ Nicht nur aus dieser Äußerung lässt sich Linnenbaums Gefühl für soziale Strukturen, Machtverhältnisse und den Wert zwischenmenschlicher Beziehungen bemessen, sondern all das lässt sich immer auch in den Plots und durchdachten Dialogen und Handlungen ihrer Filmwelten wiederfinden. So sind es aber auch diese Punkte, welche die Filmemacherin in ihrem Regiestudium, angefangen 2013 an der Filmuniversität KONRAD WOLF, schätze. Der universitäre Kontext bot ihr früh Gelegenheit, auf verschiedenen Ebenen Kooperationen anzustoßen und sich intensiv über die Möglichkeiten von Film und das Filmemachen als Praxis auszutauschen. Bereits in den ersten Jahren ihres Studiums war Sophie Linnenbaum mit ihren Kurzfilmen auf nationalen und internationalen Festivals vertreten, derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Langfilm.

 

MEINUNGSAUSTAUSCH © Sophie Linnenbaum & Sophia Bösch, DOP Janine Pätzold

 

MEINUNGSAUSTAUSCH (2016), ein knapp fünfminütiger Kurzfilm, ko-inszenierte mit Sophia Bösch, parodiert geschickt das Klischee der Angst vor dem Fremden, das man “den Deutschen” nachsagt. Den Blick frontal auf die Kamera gerichtet, erzählen unterschiedliche Personen von ihren Begegnungen mit “den Fremden”. Schnell wird deutlich, dass die Erzählstimme nicht zu der Person gehört, die ihrer Ansprache scheinbar direkt an den:die Zuschauer:in richtet, sondern die Erzähler:innen den Schutz der Anonymität ausnutzen, um stereotype Sichtweisen zu wiederholen, die sich auf die gezeigten Personen projizieren lassen. Die konträre Gegenüberstellung von Gesagtem und Gezeigtem macht deutlich, wie schwerwiegend Vorurteile Gesellschaften spalten können.

 

[OUT OF FRA]ME © Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, DOP  Janine Pätzold

[OUT OF FRA]ME (2016) erzählt die Lebensgeschichte von Paul von seiner frühesten Kindheit an aus der Gedankenwelt des Hauptdarstellers heraus. “Manchmal hätte ich mir gewünscht, wie die anderen Kinder zu sein”, so fasst Paul rückblickend seine Kindheit zusammen, in der die Beziehungsprobleme der Eltern keinen Raum mehr ließen für das Kind, das eines Tages in logischer Konsequenz aus dem Rahmen fällt. Und zwar ganz bildlich, oder eben unbildlich, denn Paul ist von diesem Moment an nur noch als Anschnitt auf Fotos aber auch im Film selbst zu sehen. Die Angst, sich selbst zu verlieren, ist ab diesem Moment omnipräsent in Pauls Leben. Über ein schicksalhaftes Treffen wird Paul schließlich Teil der Selbsthilfegruppe “Outtakes”. In dieser Gruppe treffen allerhand filmische “Problemfälle” aufeinander: Gisela, deren Leben permanent unterlegt ist von Filmmusik, Jakob, der waghalsige Schnitte erlebt, und so die mitunter die besten Momente seines Lebens verpasst und Günter, eine klassische Fehlbesetzung. Hannah ist immer im Bild, ob sie es will oder nicht und kann sich nur dann durch das Leben navigieren, wenn sie sich mit einer anderen Person den Frame teilen kann. Das sich Paul und Hannah näherkommen müssen, erscheint logisch, doch ihre Verbindung wird durch Pauls Suche nach Beweisen seiner eigenen Existenz auf eine harte Probe gestellt. Fast schon beiläufig verbindet “[Out of Fra]me” die Herausforderungen des Filmemachens, das Festlegen auf einen Ausschnitt und damit unweigerlich die Entscheidung gegen dieses oder jenes mit großen gesellschaftlichen Themen. In einer Gesellschaft, die wenig Rücksicht auf den Einzelnen nimmt, fällt es zunehmend schwerer, sich nicht selbst zu verlieren.

 

Der knapp 9-minütige Kurzfilm PIX (2017), mit dem Sophie Linnenbaum 2017 den Deutschen Kurzfilmpreis gewann, startet mit einem markerschütternden Schrei, der die finale Einleitung einer Geburt begleitet. Kaum landet der Säugling in den Armen seiner glücklichen Eltern, holt der frischgebackene stolze Vater die Kamera hervor und hält diesen besonderen Moment fest. Im Schnelldurchlauf läuft das Leben der Kleinfamilie vor den Augen der Zuschauer:innen ab, in immer neuen Sets, die im Hintergrund von fleißigen Helfer:innen auf- und abgebaut werden, werden weiter fleißig Fotos für die Sammlung geschossen, schnell, ehe der Moment verstrichen ist. Auf die ersten Schritte des Kindes folgt ein Weihnachtsfest bei den Großeltern, folgt die Einschulung, folgt ein Geburtstag auf den nächsten. Und auf die erste Liebe schließlich Hochzeit, Eigenheim und das erste eigene Kind. Auf den Tod der Eltern folgt wiederum ein neues Leben, während die Bilder, gerahmt an der Wand, Augenblicke der Vergangenheit konservieren und die Frage offen bleibt, ob es denn nun diese besonderen Momente oder eben doch der ganz alltägliche Wahnsinn ist, der das Leben so lebenswert macht.

 

RIEN NE VA PLUS © Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, DOP Fee Strothmann

 

RIEN NE VA PLUS (2017), bei dem sie gemeinsam mit Michael Fetter-Nathansky das Drehbuch geschrieben hat, beschreibt in einem berührenden Porträt die inneren Zweifel eines Mannes, der im Begriff ist, sich von einem Hochhaus zu stürzen, als ihn ein Anruf jäh aus der Handlung reißt. Der Anruf wird entgegengenommen, die Angestellte eines Casinos verkündet einen Hauptgewinn, für den es lediglich seiner Unterschrift bedarf. Zögerlich findet an beiden Seiten der Leitung Annäherung statt, die gekonnt durch Schuss-Gegenschuss Sequenzen perfekt getimt aufgebaut wird, bis die Handlung abermals eine dramatische Wendung findet und Bodos Pläne ins Wanken geraten. Wie weit reicht unser Mitgefühl? Wie lange ist man fremd? Fragen wie diese stellt der Film und beantwortet sie, Schuss-Gegenschuss: “Niemand kann für immer traurig sein”

 

DAS MENSCH © Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, DOP Valentin Selmke

 

DAS MENSCH (2019) ist Teil eines Gesamtprojektes mit fünf Kommilitonen:innen aus Sophie Linnenbaums Jahrgang an der Filmuniversität, das aus einer verlorenen Wette hervorging. Kellner:innen spielen als verbindendes Element eine Rolle in allen zugehörigen Filmen, ganz unterschiedlich werden in den Kurzfilmen die Rituale des gemeinsamen Essens, aber auch das Verhältnis von Gast und Personal befragt. Während einer Konfirmationsfeier kommen die angespannten Verhältnisse einer Kleinfamilie zum Vorschein, die sich immer weiter zuspitzen und irgendwann ins grotesk-dramatische abdriften.

 

VÄTER UNSER © Sophie Linnenbaum, DOP Janine Pätzold

 

In den letzten beiden Jahren hat sich Sophie Linnenbaum auch im Dokumentarfilm ausprobiert und bisher zwei eindrucksvolle Filme geschaffen, in denen sie sich ganz nah an ihre Hauptfiguren heran begibt und damit ihrem Sujet, dem Menschen, treu bleibt. Radikal fokussiert und subjektiv nähert sich Sophie Linnenbaum mit VÄTER UNSER (2021) dem Verhältnis von Kindern zu ihren Vätern an. Frontal vor die Kamera vor einem schwarzen Backdrop gesetzt, erzählen im Wechsel sechs Personen offen ihre individuellen Erfahrungen. Über die Einzelschicksale wird das kulturhistorisch aufgeladenen Verhältnis von Vätern und ihren Kindern problematisiert.

 

NORMAL STUFF THAT PEOPLE DO © Sophie Linnenbaum, DOP Falco Seliger

 

Dass der Umgangston in Sterneküchen rau ist, ist längst kein Geheimnis mehr und das der Weg hin zum:r Spitzenkoch:köchin lang und steinig ist, ebenfalls. Nach den Lehrjahren, Jobwechseln und Wettbewerben bleibt ein relativ kleines Feld, das auf den großen Ruhm hofft. Sophie Linnenbaum begleitet in NORMAL STUFF THAT PEOPLE DO (2021) Bjarni, einen isländischen Koch bei seinen Vorbereitungen zum Bocuse D’Or, dem wohl wichtigsten Kochwettbewerb, der enormem Aufwand verlangt. Zwischen der Fokussierung auf den Lebenstraum, brechen in Sophie Linnenbaums festgehaltenen Szenen auch solche durch, in denen der junge Mann seinen Lebensweg in Frage stellt.

 

Der Mensch als Subjekt, interagierend und gefangen im System wird von Sophie Linnenbaum auf den Bühnen ihrer filmischen Arbeiten in Szene gesetzt. Wo fängt der Mensch an und wo hört der Film auf? Und muss denn überhaupt etwas aufhören, wenn immer etwas Neues anfängt?

Durch das gekonnte Spiel mit Genres, dabei ein bisschen aus der Zeit und wieder hinein gefallen, manchmal wunderbar komisch, manchmal tieftraurig, zeigt Sophie Linnenbaum, dass das Leben mehr ist als die Aneinanderreihung von Momenten, mehr als die Sammlung von Fotos an der Wand. Und dass auch ein Film nicht nur aus bewegten Bildern besteht, sondern mit jedem Bild, das er beschreibt, auch ein wenig das Leben bewegen kann.

 

FILMOGRAPHIE

MEINUNGSAUSTAUSCH (2016)

[OUT OF FRA]ME (2016)

PIX (2017)

RIENE NE VA PLUS (2017)

MONDAY – A GERMAN LOVE STORY (2017)

A GENTLE NOISE BETWEEN THE LINES (2017)

DAS MENSCH (2019)

NORMAL STUFF THAT PEOPLE DO (2021)

VÄTER UNSER (2021)

 

Beitragsbild: PIX © Sophie Linnenbaum, DOP Leonard Caspari, Szeno Christina Kirk