Nicolaas Schmidt und das mikroskopische Kino

FINAL STAGE (2017) © Nicolaas Schmidt

Nicolaas Schmidt war Musiker, hat eine virtuelle Selbsthilfegruppe zum Sonnenuntergang gegründet, stellte Farben, Gegenstände und Fotos aus. Er arbeitet meist alleine, begann beinahe zeitgleich mit Fotografie und Filmemachen, bald folgten installative Arbeiten in realen und virtuellen Räumen. Menschen stehen in seiner Arbeit Räumen, Objekten und nichtmenschlichen Tieren nahezu auf Augenhöhe gegenüber, denn Schmidt ist ein Forscher der Balance. Schmidts Filme intervenieren in eine „geordnete“ – sprich hierarchische – Realitätswahrnehmung und erst die Isoliertheit eines Kinosaals erlaubt es, sich ganz auf ihre offenen, fließenden und kreisenden Strukturen einzulassen.

 

„Wir suchen nicht nach irgendeinem Trend. Wir suchen nach dem Fashion-Statement, das der Welt sagt wer wir sind.“ Filmbilder an eine Gebäudefassade, die ein Gefühl kommunizieren sollen. Egal welches, Hauptsache irgendeines. Der Zuschnitt ist romantisch, die Geschichte spielt im Grunde keine Rolle. Ein Moment aus „Final Stage“, der bis dato wahrscheinlich bekanntesten von Schmidts Filmarbeiten. Im Innern des Gebäudes: ebenfalls Fassaden. Läden, Fressbuden, Product Placement, gestaltete Tafeln, die etwas bewerben. Das Video an der Gebäudefront läuft gemeinsam mit anderen im Loop, den ganzen Tag über. Werbeparolen schallen über eine Hamburger Kreuzung. Ein gefangenes Video, gebunden an einen Zweck, zur endlosen Wiederkehr verdammt und sie gleichermaßen heraufbeschwörend. Die Farbtöne überschlagen sich darin, erinnern daran, dass Bilder doch eigentlich freier sein könnten.

 

Schmidt zeigt in einer weiten, hohen Einstellung von der anderen Seite der Kreuzung diese Werbeleinwand und pickt sich ihre flackernden Farben in mehreren Momenten dann einzeln heraus. Leinwandfüllende Farbflächen werden seinen Film strukturieren, sie kehren auch in anderen Arbeiten wieder. Als Flickerattacke auf das Publikum adaptiert er sie mitsamt der Musik der Reklame und schafft so in seinem Film Raum für etwas, was vielleicht die Essenz dieses Werbeclips sein könnte. Eine Emotion wird isoliert, befreit von ihrem marktschreierischen Tonfall. Eine Emotion wird übergroß. Das kann das Kino: Emotionen aufblasen und sie zum Platzen bringen. Ist das Resultat ein Destillat? Oder vielleicht eine Zersetzung, womöglich eine Zerstörung? Der Handlung des Films stehen die Farbeinsprengsel souverän gegenüber, sind jedenfalls mehr, als nur eine Spielerei. Wenn die Farbe das Bild übernimmt, wird „Final Stage“ für Momente zur Blaupause, zur Grünpause, zur Gelbpause, zur Orangepause, zur Rotpause.

 

FINAL STAGE (2017) © Nicolaas Schmidt

 

Nicolaas Schmidts Filme sind seltene Mischwesen aus gefunden und selbst gedrehten Bildern und populären Musikstücken, die sich dort entfalten, wo Analyse und Pathos, Konzept und Experiment aufeinandertreffen. „Final Stage“ ist sein bis dato längster Film, gerade dreht er an einer Art Fortsetzung. Eine Art Meta-Liebesfilm, der 2017 bei der Berlinale ausgezeichnet wurde und seither zirkuliert, mit einer kleinen Geschichte ausgestattet, die aber nicht mehr will, als andeuten: Ein junger Mann erträgt kaum das Gefühl der Trennung von einem Freund, während er endlos durch das Einkaufszentrum geht. Als wäre dieser unpersönlichste aller Korridore ein Korridor der Intimität, Reflexion und Bewusstwerdung. Ein Film, wie ein Tunnel, mit Tränen zu Beginn und einem Lichtblick am Ende, der aber in die Dunkelheit abrutscht.

 

Ein filmischer Dreischritt mit einer Dramaturgie der Atmosphären, beinahe vollständig ohne Sprache. Und der einzige Film Schmidts in dem ein offensichtliches Problem auftritt. Zumindest beinahe. „Auf Probleme kann man verzichten“, meint er im Gespräch. Ein Hauch von Ironie scheint in der Aussage zu stecken. Vielleicht trägt dieser Satz immer eine Unklarheit in sich, egal wer ihn ausspricht. Im Dialog mit dem Filmemacher wird nicht klar, ob er von diesem Satz bereits wusste, oder ob er ihn im Gespräch erfunden hat. So wie die anderen Sätze, die er manchmal in seine Filme stellt, um damit zu spielen, ob Sinnkonstruktionen und Experimente sich gegenseitig bereichern, oder sich eigentlich Feinde sind:

 

I BELIEVE IN THE SUN EVEN WHEN IT’S NOT SHINING
– „Believe“ (2019)

 

WIEN IST ÜBERALL

Irgendwann muss man sich aber doch fragen

und auch noch entscheiden,

ob man da mitmachen

oder aufgeben soll.

– „Die Reise mit der Eisenbahn hat sich durchaus ein wenig gelohnt“ (2011)

 

Zurück in den Korridor von „Final Stage“: Während der zentralen, 12-minütigen Kamerafahrt des Films läuft Musik von Björn Isfält, genauer gesagt das wortlose Stück „The Bertil Theme“ aus Roy Anderssons „Eine schwedische Liebegeschichte“. Eine Szene dieses 70er Jahre Films wiederum lieferte Schmidt die Idee zu „Final Stage“. Einerseits weil es dort ebenfalls um eine tragische Romanze geht, andererseits und vor allem aber aufgrund der Art, wie dort eine Trennung filmisch aufgelöst wird: Zwei Liebende können nicht zusammen sein, er geht, sie weint und blickt ihm nach – die Musik setzt ein und viel zu schnell winkt schon ganz unvermittelt die Aussöhnung. Ein Happy End für die Szene, das sich verfrüht anfühlt, als hätte die Trennung nie wirklich im Raum gestanden.

 

Doch was ist mit dem Moment des Zweifels? Das fragte sich Schmidt und beschloss, das Publikum in seiner Hommage nicht mit einem Ausweg zu erlösen, sondern die Ambivalenz zwischen Bildern und Klängen so lange aufrechtzuerhalten, bis der Schwebezustand in sich bedeutungsvoll wird. Die Musik dieses Roy Andersson Moments gibt es hier in Nicolaas Schmidts „Final Stage“ nun also zu hören. Jedoch bald verlangsamt, schließlich immer schleppender, bis sich das Trauern und Lieben und Leiden ganz und gar vermischt haben, die Erfahrung beinahe surreal wird. Auch der Gang an den Läden vorbei verliert indes ganz unmerklich an Tempo. Ein Wandeln, eine Trance, beinahe ein Loop.

 

Die Erfahrungen von Melancholie, Stillstand und Verzweiflung treffen in dem Film auf das größte gegenwärtige System der sturen Bewegungsmache: den Kapitalismus. Das Kaufen und Verkaufen, das Generieren von Wert kennt kein Innehalten, kennt nur die rastlose Erfindung neuer Illusionen. Nicolaas Schmidt stellt diesem System den Fatalismus eines Herzens gegenüber, das noch nicht gebrochen ist, aber gerade brechen könnte. Wenn dieser Korridor nicht bald endet. Wenn die Versöhnung sich nicht bald ankündigt. Das Ganze zu sehen, ist gleichermaßen zermürbend, aufwühlend, aktivierend. Und ähnlich wie Isfälts Song dann doch auch auffällig unironisch, aber mit einer paradoxen Leichtigkeit ausgestattet. Die Liebe ist eine feste Koordinate in Schmidts Arbeiten.

 

Seine Filme formulieren die komplizierte Hoffnung, naive Erfahrungen gleichermaßen auszukosten und sie doch auch ihrer Naivität zu berauben. Er glaubt nicht an die Notwendigkeit, ständig etwas vermeintlich Neues zu erzählen, meint er im Gespräch. Stattdessen sucht er grundlegendere Strömungen und nennt eines seiner Webprojekte zur Erforschung minimalistischer Dramaturgien „Eternal Trend“. Wichtiger als die Geschichten sind die Anordnungen – die Perspektiven auf Bilder, die ihrerseits von der Welt erzählen. Während seine Bilder und Töne in sich kraftvoll und suggestiv sind, tragen sie nicht selten auch Zitate mit einer ganz deutlichen Verwurzelung und Beziehungslogik in sich. In seinen experimentellen Kurzfilmen betreibt er eine Art Tiefenschürfung, unmittelbar ausgehend von Fetzen der Filmgeschichte und Bildern, die wie Treibgut erscheinen, geflutet meist von 80er Jahre Pop, immer wieder flankiert von eigenen Aufnahmen, die manchmal Fragmente sind und gar nicht als Filme bestimmt waren. Dann sind sie aber doch Filme geworden: Montagefilme. Die Betrachtungen und Kollisionen umreißen Haltungen, das Publikum arbeitet sinnlich ebenso wie detektivisch und stellt sich Fragen: „Da stimmt doch etwas nicht.“

 

Eine frühe Arbeit: „Sense + Innocence“ von 2009. Schmidt zeigt ein Streifenhörnchen, das von Wissenschaftlern auf seine Intelligenz getestet wird. „Squeak the Squirrel“ – so der Originaltitel des Videos, das auf Youtube zum Nachsehen einlädt – soll sich eine Nuss unter den Nagel reißen, muss sich dafür allerdings mit einer perfiden Situation herumschlagen. Während Squeak sich abmüht, spielt Schmidt einen Song der vietnamesischen Kindersängerin Xuan Mai und blendet in Untertiteln einen Text über Hoffnungen und Träume ein: „Ein Wunder muss geschehen“, scheint sie zu singen, während Squeak nach einer hoch gehängten, schwingenden Nuss am Faden greift. Im Film halten sich Schwere und Leichtigkeit die Waage, nur 5 Minuten genügen für eine existenzielle Krise und einen sachten Aufschwung.

 

SENSE + INNOCENCE (2009) © Nicolaas Schmidt

 

Der Film nimmt vorweg, was viele nachfolgende Arbeiten prägt: Eine Klarheit und Sorgfalt im Umgang mit eigenem und Fremdmaterial, die allesamt in ihre Teile zerpflückt werden, um in neuen Schattierungen aufzuleuchten. Da ist eine extreme Ökonomie der Mittel, die Auslotung eines filmischen Minimalismus. Warum er Kurzfilme mache? Schmidt meint, ein Langfilm sei nur dann nötig, wenn es nicht anders gehe. Ein Minimalismus also, der sich auch aus Bescheidenheit speist. Und in der Tat bringen seine kurzen Formen zur Entfaltung, was in einem langen Film schwierig wäre: filmische Kleinteile, die sonst hinter den Abfolgen größerer Dramaturgien verschwinden, rücken ins Zentrum, werden wiederholt und verlangsamt, bis sie sich kurz vor ihrem Zerfall ganz unberechenbar aufbäumen. In „Compare“ (2011*/2016) trifft etwa Sinéad O’Connors Kopf in einer digitalen Bildverschmelzung auf den Kopf von Tami Stronach als kindliche Kaiserin aus „Die unendliche Geschichte“, während O’Connors Song in extremer Entschleunigung zum Klagelaut mutiert. Eine filmische Mikrobetrachtung.

 

2020 hatte „Inflorescence“ seine Premiere und erinnert an das Hörnchen. Eine Blume im Sturm vor wolkenverhangenem Himmel, schwankend aber nie stürzend, ständig im Bild und sich in den Vordergrund drängend, aber nie aus Absicht oder mit einem Ziel. Dazu „Don’t Dream It’s Over“ von Crowded House im Loop. Wieder Verlangsamung, wieder Wiederholung, wieder die Einsicht, dass Wiederholung nicht automatisch die Verstärkung eines Gefühls bedeutet, sondern dessen Transformation einleiten kann. Hier steht der Loop selbst im Zentrum, das Aufeinandertreffen eines technischen Loops auf eine natürliche Schwingung der Pflanze wirft Fragen danach auf, was es an einem so simplen Vorgang überhaupt wahrzunehmen, zu verstehen und zu missverstehen gibt. Nochmal: „Auf Probleme kann man verzichten“, meint Schmidt und spricht sich damit für ein Kino aus, dass sich nicht in Geschichten einnisten muss, sondern auch über analytische Spiele zu Größe und Prägnanz finden kann. Diesmal filmte er die Bilder selbst, allerdings beiläufig. Für lange Zeit verweigerten sie sich der Filmform und lebten mit ihm jenseits der Öffentlichkeit als Endlos-Loop. Mit diesen experimentiert der Künstler regelmäßig, Filmpraxis ist für ihn gelebte Alltagspraxis.

 

INFLORESCENCE (2020) © Nicolaas Schmidt

 

Das Wirken des Leipziger Filmemachers verdichtete sich an der Hamburger HFBK, wo er Freie Kunst, Time-based Media und Film studierte. Trotz seiner zahlreichen Festivalaufführungen und Auszeichnungen stellt er sich zur Filmbranche und dem Kunstmarkt heute weitestgehend quer. So veröffentlichte er etwa „Compare“ erst fünf Jahre nach der Fertigstellung des Films, weil Festivaleinreichungen keine Priorität hatten. Heute kann er erfreulicherweise immer wieder mit Förderung arbeiten und sich, wie in „Final Stage“ mit Schauspieler*innen, neue ästhetische Methoden erschließen. Über die Plattform VETO Film versucht er sich mit sechs weiteren Filmemachenden an einem authentischen Label für experimentelle Filme. Besonders mit seiner Serie 36KFRGB richtete er sich schließlich ausdrücklich gegen Verwertungslogiken. Es entstand dafür neben Ausstellungsarbeiten etwa die Parodie eines Online-Shops und schließlich der Kurzfilm „36000 Frames RGB – 29th Special: Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit*“, den er gemeinsam mit Ray Juster herstellte und für den 2015 beide von der Deutschen Wettbewerbs Jury des Kurzfilm Festival Hamburg ausgezeichnet wurden.

 

36KFRGB-S29: DIE MANIFESTATION DES KAPITALISMUS IN UNSEREM LEBEN IST DIE TRAURIGKEIT* (2015) © Nicolaas Schmidt / Ray Juster

 

Der einzige Film, der die Analyse ganz explizit als Strategie benennt, mit Bildern eines Blender-Tutorials für Flugzeug-Ingenieure beginnt, bald zu Werbematerialien und Propagandabildern der Luftfahrtbranche wechselt und schließlich ganz tief ins visuelle Gedächtnis der Populärkultur einsteigt. Das Kino und seine ikonischen Aufnahmen schöner, weißer, weinender Menschen mischen sich mit einem Protestsong, der von lakonischer Abgeklärtheit zu einem feurigen Aufbegehren findet:„Nicht du bist in der Krise, sondern die Form, die man dir aufzwingt.“ In einem frühen Film gab es übrigens eine analoge Montage, die viel über Schmidts Humor erzählt und davon, dass er zwar Erklärungen gerne verweigert, aber zur Politik seiner Eingriffe ein feines Bewusstsein besitzt: Ein Döner, eine Pizza, ein Hotdog, ein Burger und eine Portion Pommes werden im Fleischwolf vor der Kamera zu einem Matsch gequetscht, der dann in der Mikrowelle gebrutzelt und mit Spießchen wie Wiedergekautes auf einem Teller serviert wird. Dazu erzählt eine Frau von Männerwünschen, Zukunftsängsten, sich kreuzenden Lebensbahnen und von Suizid. „Ohne schlechtes Gewissen genießen“.

 

OHNE SCHLECHTES GEWISSEN GENIESSEN (2010) © Nicolaas Schmidt

 

http://www.nicolaasschmidt.de

 

Filmografie

2020 Inflorescence
2019 Believe
2018 Who’s The Next One (THERNST)
2017 Final Stage
2016 Compare (2011*)
2015 Autumn
2015 36KFRGB-S29: Die Manifestation Des Kapitalismus In Unserem Leben Ist Die Traurigkeit*
2014 Leaving Monochromia
2013+2014 36000 Frames RGB (Serie)
2013 Break
2012 Forever
2011 Die Reise Mit Der Eisenbahn Hat Sich Durchaus Ein Wenig Gelohnt
2010 Ohne Schlechtes Gewissen Genießen
2010 Der Lauf Und Chopin
2009 Sense+Innocence
2008 Neuseenland