Die Wunde klafft – Jovana Reisingers humoristische Entlarvungen gegenwärtiger Rolleneinschreibungen

„pretty boyz don´t die“ (2016) © Jovana Reisinger, Setfotografin: Sophie Wanninger

„Jeder kann sehen, dass dein Körper high-class ist. Du machst doch was aus dir. Du bist nicht vor dem Fernseher des Lebens gesessen, sondern hast Sport getrieben. Ein toller Bursche!” – eine männliche Stimme aus dem Off begleitet das umherirrende Model Max auf der Suche nach seinem Hotel in einer Stadt, in der ein Männermodelmörder sein Unwesen treibt. Die Videoarbeit „pretty boyz don´t die“ (2016) ist der Beginn der insgesamt vierteiligen Kurzfilmreihe „pretty pretty mad sad“ (2016-18) und die erste filmische Arbeit der Autorin und Filmemacherin Jovana Reisinger. Was in dieser Szene bereits erfasst wird, ist Reisingers anhaltendes Interesse für das Ausgesetzt-Sein gegenüber einer leistungsfordernden und an Selbstoptimierung orientierten Gesellschaft. Darin werden glücksversprechend Erwartungen geschürt, vermeintlich normative Körper- und Rollenbilder reproduziert, an bestehenden Machtstrukturen festgehalten und uns vorgegaukelt, dass sozialer Status alleine von eigenen Bemühungen und Disziplin abhängig ist – Fallgruben bleiben innerhalb dieser Narrative dem eigenen Müßigsein geschuldet.

 

„mad girls don´t cry“(2018) © Jovana Reisinger

Als Model Max später vor einer Leuchtreklame innehält, auf der eine Grafik der Brooklyn Bridge mit Lichtkrone abgebildet ist, stellt der Off-Erzähler die Regeln klar: „Das ist die große Welt, zur Schau gestellt in einem Schaufenster. Man wird hart arbeiten müssen bis einem die echte Welt zu Füßen liegt.“  Ausgehend von der Erzählung des amerikanischen Traums, der im dritten Teil „mad girls don´t cry“(2018) buchstäblich gefolgt wird, wenn Protagonistin Natalie in die USA reist, um endlich ein Starlet zu werden, weiß Reisinger diesen, eng mit der Populärkultur und dem US-amerika-zentrischen Weltbild verbundenen Mythos auch ästhetisch für sich zu nutzen – Leuchtschriften, Anglizismen, Prints der US-amerikanischen Flagge, Cowboy/-girl-Look, Idee des Weltstars ­­– um sich dem weitergefassten Thema der gnadenlosen Selbstoptimierung und daran geknüpfte Erfolgsbestrebungen sowie der Industrie dahinter anzunehmen. Diese Beschäftigung zieht sich konsequent durch Reisingers künstlerisches Werk. Der Blick der Protagonist*innen ist in „pretty pretty mad sad“ (2016-18) stets einem/r Objekt/Person der Begierde entgegengerichtet, das sozialen Aufstieg verspricht und treibt auch stilistisch die äußere Handlung voran. Für Barfrau Linda ist es die Heirat mit dem erfolgreichen Model Max, für Natalie ist es der Durchbruch in den USA. Beide scheitern trotz oder eben durch das Festhalten an altbewährten, glücksversprechenden Vorgehensweisen. Die Erfolgserzählung wird als vordergründiger Handlungsstrang hier rigoros und überzogen durchlebt, unterstützt von dem männlichen Moderator/Coach, der vor allem die weiblichen Protagonistinnen in ihrem Scheitern vorführt, zynisch ihr Handeln kommentiert, ihnen Ratschläge erteilt und in diesen Machtgesten das bestehende patriarchalische System bedient, das Menschen in tradierte Rollenbilder drängt.

 

„Die klaffende Wunde“ (2020) © Jovana Reisinger

„Die klaffende Wunde“ (2020) wiederum stellt eine humoristische Umkehrung zu der Auffassung dar, dass psychische Krankheiten innerhalb leistungsorientierter Kulturen verdrängt oder schnellstmöglich überwunden werden müssen. Auf die artikulierte Sorge über eine depressive Freundin wird hier mit stoischem Verständnis reagiert. Auf Marthas Hilferuf, „Maria sagt, sie will nichts, ja, jetzt hat sie sich hingelegt und weigert sich wieder aufzustehen“, antwortet Petra, die selbst gerade ihre Tabletten eingenommen hat und bereits in einem Gartenstuhl auf den See blickend, dahindämmert mit einem beiläufigen „Lass sie doch liegen, wenn sie liegen will“. Das für die Fassbindertage zum 75-jährigen Geburtstag des Filmemachers produzierte Video gibt Raum für die Erzählung des Ermüdungszustands, der auch stilistisch in den langgezogenen Worten und der gleichmütigen Haltung Petras erfahrbar wird. Der angedeutete Krankheitszustand der abwesenden Person Maria, der den Dialog bestimmt, findet in Petra seine Ausformulierung und Anwesenheit; die ganze Szene entpuppt sich als eigentlicher Krankenbesuch Petras, wenn Martha die schönen Blumen lobt und sorgend fragt, ob sie Petra noch ins Bett bringen soll; auch das so oft in Film und Literatur rezipierte Bild des in die Landschaft blickenden, isolierten Kranken halten als Indiz dafür her. Die Übertragung der Krankengeschichte auf eine anonyme dritte Person, hier Maria, verweist auf subtile Weise auf die gesellschaftliche Verdrängung und Stigmatisierung von psychischen Krankheiten, die hier auf empathische, humorvolle und erfrischend gelassene Weise anerkannt wird.

 

„pretty girls don´t lie“ (2017) © Jovana Reisinger

Selbstoptimierung hat sich, wie es die Soziologin Anja Röcke in ihrem Buch „Soziologie der Selbstoptimierung“ weitsichtig zusammenbringt, ab Mitte des 20. Jahrhunderts „zu einer Leitidee und auch einem Leitbegriff der Gegenwart“ entwickelt, „die breit anschlussfähig als auch umkämpft und kritisierbar sind“. Dabei durchdringen sie die unterschiedlichsten Bereiche, wie Therapie, Beratung, Gesundheit, Glück, Schönheit und Beruf, fordern also sowohl geistiges als auch körperliches Leistungsvermögen, die auch dominierende soziale Vorstellungen, wie die Annahme eines binären Geschlechtersystem und die Kategorisierung von Körperbildern mehr bestätigen als zu überwinden versuchen. (Anja Röcke, 2021) Überwiegt bei Männern mehr die Erfolgsorientierung, so hält sich in Hinblick auf Frauen mehr das Thema der körperlichen Mängelbeseitigung im Vordergrund und verdeutlicht zudem die Aufrechterhaltung von Geschlechterdifferenzierung, die Frauen und Männern gewisse Attribute zu- und/oder abspricht. In „pretty pretty mad sad“ (2016-18) verdeutlichen dies bereits die Titel der Arbeiten. Model Max werden von Seiten des Off-Kommentators in seinem erfolgreichen Leben Gefühle wie Traurigkeit und Einsamkeit aberkannt; die Männerclique in „Sad Boyz Get High“ (2018) erscheint zu rücksichtsvoll und sensibel in ihrer Rolle als Drogendealer und so bleibt sie kaum gesehen; Eingeblendete Outtakes in „pretty girls don´t lie“ (2017) enttarnen, wie die Assistentin des Moderators eines eingeblendeten Teleshopping-Spots, in dem Verjüngungs-Produkte für Frauen verkauft werden, kleingehalten und grob beiseitegeschoben wird, sobald ihr Verhalten nicht mehr den männlichen Vorstellungen von „weiblich“ entspricht. Allumfassender wird dieses Thema in der sechsteiligen Talkshow „Men in Trouble“ (2021) behandelt, wenn sich Reisinger, anlehnend an das Format Daily-Talk, den sechs Themen Glück, Liebe, Geld, Sex, Schönheit und Glaube, einzeln widmet.

 

„Men in Trouble“ (2021) © Jovana Reisinger

Reisingers Bildsprache und Dialoge leben oft von der referentiellen Bezugnahme zu unterschiedlichen und meist vergangenen Fernsehformaten, wie Talkshows, Daily-Talks oder Teleshopping. Die Rückbesinnung auf das abgelöste Leitmedium Fernsehen erschafft ein anachronistisches Moment, das gegenwärtige soziale Fragen an überholten Formaten abarbeitet, die seit den 1990er Jahren im deutschen Fernsehen Einzug hielten und eine Nähe zur Gesellschaft suggerierten, auch indem sie eine vermeintliche Verbindung zu den Zuschauenden aufrechterhielten. Gezeigt wurden Menschen, die einseitig und auf ein Thema hin betrachtet, präsentiert wurden, und so Kategorien wie „normal“ und „anders“ förderten, die gleichsam den patriarchalischen Denkmustern unterlagen. Aber auch die Industrie, die darauf reagierend den Markt mit Produkten befüllt, verfestigte dieses gespaltene Gesellschaftsbild.

 

„Men in Trouble“ (2021) © Jovana Reisinger

Auch in Reisingers Arbeiten – wie sollte es auch anders sein – herrscht das Patriarchat vor. Überzogen, floskelhaft, repetitiv, unverschämt und eintönig tritt es in ihrem Werk in Erscheinung. Vorlaute Männer, die Machtgesten und Sexismen reproduzieren, körperliche Erscheinung und Handlungen herablassend be- und verurteilen, kontrollieren die vordergründige Handlung – vor allem dann, wenn die Protagonist:innen aus den überholten Rollenbildern auszubrechen drohen. In „Men in Trouble“ (2021), die im Rahmen des Ausstellungs- und Vermittlungsprogramms „Enttäuschung“ in der Kunsthalle Osnabrück entstand, genauso wie in „Beauty is Life“ (2020) sind diese Machtstrukturen auch im Off verortet und erzählen durch die Verlagerung auf eine, die Handlungen überschauende filmische Ebene die gesellschaftliche Oberhand einer männerdominierten Autorität. Die Eingangssequenz von „pretty boyz don´t die“ (2016), in der sich die Künstlerin selbst, wie auch in weiteren Arbeiten als mediale Figur inszeniert – folgt einem Gespräch zweier Frauen beim nächtlichen Currywurst-Snack und macht klar, dass die diskriminierenden Urteile auch von Frauen fortgeführt werden, wenn sie heteronormative Vorstellungen bedienen und Menschen schlechtreden, die aus den normativen Erwartungskategorien fallen. „Diese Donna Dollar kommt immer zu spät und sieht aus wie eine Nutte…Manchmal schäme ich mich wegen der für mein eigenes Geschlecht“. Flache Charaktere, wie es das Model Max ist, die Moderatoren der Wahl zur Super-Blondine-3000 und des Teleshopping-Spots sowie die Gäste (Frau 1-9 und Mann 1-4) in „Men in Trouble“ (2021) personifizieren bestimmte Aspekte innerhalb der starren patriarchalisch-kapitalistischen Strukturen, die Reisinger durch eine stets wechselnde Dynamik aus einem Neben-, Mit- und Gegeneinander der filmischen Bereiche Kostüm, Kamera, Dialog, Cast, Ton und die Einbeziehung von Text – sei es durch Bauchbinden, Slogans, Leuchtschriften oder Prints – immer etwas entgegensetzt und auf diese Weise ihre sozialkritischen Räume erarbeitet und lesbar werden lässt, die eine diverse, gleichberechtigte und von ihren Einschreibungen befreite Gesellschaft antizipiert.

Die Dialoge und die Einbeziehung von Sprache und Text nehmen dabei eine besondere Rolle ein, denn Text ist immer Grundlage Reisingers künstlerischer Arbeit. In ihren Videoarbeiten fügen sich Dialoge und Monologe aus Slogan-sprache, überspitzten Motivationsansagen und Werbesprüchen, Floskeln und zu oft rezipierten Sprichwörtern zusammen und erscheinen sinnentleert und obsolet. So enttarnt Reisinger die eingeschriebenen und sich wiederholenden Mechanismen und höhlt sie mit ihren eigenen Mitteln aus. Mimik und Gestik der Darstellenden, aber auch Reisingers durchdachte Wahl von Styling, Kleidung und Cast lehnen sich gegen das festsitzende System auf und bilden die Menschen in ihrer Vielseitigkeit und ihrem Vermögen sich weiter zu entwickeln ab.

 

„Beauty is Life“ (2020) © Jovana Reisinger

Besonders die feministische Hinterfragung der gegenwärtigen Rolle der Frau* ist bei Jovana Reisinger ein dominierendes Thema. „Beauty is Life“ (2020) blickt besonders auf den weiblichen Körper als konstantes Objekt der Begierde sowie der Mängel. Sämtliche Beauty Gadgets, von vaginalen Straffungs-Sticks über vibrierende Büstenhalter bis hin zu Smile-Trainern, die die industriell gelenkte Demokratisierung von Schönheitstherapien verdeutlichen, werden hier zunächst summend und brummend von Frauen mannequinhaft in einem Schönheitssalon, der nach der Künstlerin selbst benannt ist, vorgeführt. Dabei veranschaulichen sie den Einfluss der Schönheitsindustrie, die Frauen von klein auf beibringt den eigenen Körper stets zu hinterfragen. Die sterile und reduzierte Ästhetik – transparentes Mobiliar, ein einziger Bonsai, seidene, hellrosa Bademäntel, frontale Kamera – fokussiert die optimierenden Applikationen und bestätigt das Streben nach Makellosigkeit. Nach und nach setzen im leichtgängigen Fortlauf der gezeigten Therapien irritierende und brechende Momente ein, die aus Ton, Kamera, Mimik und Gesten der Darstellenden erwachsen und sich auf diese Weise sukzessiv einen kritischen Resonanzraum erarbeiten, der in einem zweiten Teil, einem Round Table, in dem die Rolle des weiblichen Körpers von Frauen* reflektiert und diskutiert wird, endet. Dabei ist die Filmemacherin, blicken wir auf den Cast, immer um die Abbildung von Diversität und besonders in „Beauty is Life“ (2020) um ein vielseitiges (Körper-)Bild von Frauen* bemüht. Reisingers Kritik geht immer der Versuch voraus, die gegebenen Strukturen in ihren traditionellen Werturteilen und ästhetischen Konventionen offenzulegen, sichtbar zu machen, um ihnen kritisch begegnen zu können und sie aufzubrechen.

 

„WENDY“ (2019) © Jovana Reisinger

So wird in „Men in Trouble“ (2021) der männlichen Chefetage ein glänzendes und üppiges rosa Fernsehstudio vorgesetzt, um mit der Erzählung einer drohenden „Verweiblichung“ und der „Verlustangst des Mannes“ innerhalb feministischer Bewegungen zu kokettieren. Die in Form eines Trailers konzipierte Videoarbeit „WENDY“ (2019), erzählt die Rettung eines im Wald zaghaft und hoffnungslos um Hilfe rufenden jungen Mannes von einer Reiterin und befreit die rein männlich reproduzierte Rolle des Reiters/Ritters/Retters aus ihren patriarchalischen Fesseln. Auch Natalie, die sich in „mad girls don`t cry“ (2018) in den USA ohne Geld verliert, wird von einer Frau gerettet. Die Künstlerin schafft in ihren Arbeiten ein filmisches Gefüge aus provokanten Nachahmungen erstarrter, diskriminierender und erfolgsorientierter Gesellschaftsmechanismen und Bildern, die unsere diverse und von fluiden Geschlechterbildern geprägte Gesellschaft abbilden. Die schleppende und mühsame Überwindung vor allem von patriarchalischen Mechanismen wird in Reisingers filmischen Werk nachvollziehbar und blickt dabei auch auf die mit ihr verbundenen Rückschläge. Aus feministischer Perspektive beleuchtet die Filmemacherin besonders Geschlecht, Gender sowie Sexualität innerhalb der bestehenden Machtstrukturen und das immer auf humorvolle Weise, sei es durch Umkehrung gewohnter Erzählungen und Rollenbildern oder in Form von überzogenen Nacherzählungen, die von Reisingers genauer Beobachtung leben.

 

Jovana Reisinger arbeitet als Autorin und Filmemacherin. Nach ihrem Abschluss in Kommunikationsdesign an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München studierte sie Drehbuch an der Hochschule für Fernsehen und Film München (Diplom 2019) und wird zudem ein Diplom in Dokumentarfilmregie erhalten. Ihr Debütroman „Still Halten“ wurde 2017 im Verbrecher Verlag veröffentlicht und 2018 mit dem Bayern 2-Wortspiele-Preis, einem Aufenthaltsstipendium im Literarischen Colloquium Berlin, sowie 2019 mit einem Aufenthaltsstipendium des Goethe Institut China ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman „Spitzenreiterinnen“ erschien im Frühjahr 2021 ebenfalls im Verbrecher Verlag. Sie drehte diverse Kurzfilme, die in Ausstellungen und Festivals unter anderem in der Kunsthalle Osnabrück (2020-2021), Goethe Institut Paris (2020), yi: project space Beijing (2019), im KV – Verein für zeitgenössische Kunst Leipzig (2019), im Kunstverein München (2018) oder bei den Kurzfilmtagen Oberhausen (2017, 2019, 2021), Kurzfilm Festival Hamburg (2021), Underdox Festival (2017, 2019, 2020), Woche der Kritik (2019) gezeigt wurden. Neben der seit 2020 erscheinenden Kolumne „Bleeding Love“ für die Vogue Germany über die Menstruation, schreibt sie regelmäßig Hörspiele und Essays.

 

 

 

Filmografie

pretty boyz don´t die (2016)

pretty girls don’t lie (2017)

mad girls don’t cry (2018)

sad boyz get high (2018)

WENDY (2019)

Beauty is Life (2020)

Die klaffende Wunde (2020)

Men in Trouble (2021)

https://jovanareisinger.de

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