Jochen Kuhn

Porträt

NEULICH 5 © Jochen Kuhn

NEULICH 5 © Jochen Kuhn

Wenn man in Deutschland von einem „Kurzfilm-Establishment“ reden darf, dann müsste man Jochen Kuhn auf alle Fälle hinzuzählen. Seit den frühen 1970er Jahren ist er als Filmkünstler tätig und hat seine Ideen seither in verschiedensten Medien umgesetzt, ist aber stets der Ölmalerei und der Animation treu geblieben. Fast 25 Kurzfilme kann Jochen Kuhn, der seit 1991 Professor für Filmgestaltung an der Filmakademie Baden-Württemberg ist, mittlerweile vorweisen.

An der Kasse waren diese – ein klassisches Problem deutscher Filmautoren – nur wenig erfolgreich. Ganz anders hingegen die Resonanz bei der Kennerschaft: Bereits 1981 konnte Jochen Kuhn den höchstdotierten Deutschen Kurzfilmpreis für seinen Animationsfilm „Der lautlose Makubra“ (1981) gewinnen, es folgten weitere Preise beim Trickfilmfestival Stuttgart, der Große Preis der Kurzfilmtage Oberhausen für „Silvester“, für den er zum zweiten Mal den Deutschen Kurzfilmpreis erhielt. Unzählige Festivalteilnahmen fügen sich zusammen zu einem beeindruckend erfolgreichen Kurzfilm-Oeuvre.

Der Wiesbadener, der im letzten Jahr seinen 50. Geburtstag begangen hat, begegnet der in Deutschland weit verbreiteten Geringschätzung des Kurzfilms mit langen- und genreübergreifendem Engagement: „Ich selbst sehe Lang- und Kurzfilme völlig gleichwertig. Die Dauer eines Films sagt nichts über seine Qualität.“  So hat er sich bereits zweimal auch auf das Abenteuer Lang-Spiefilm eingelassen. Wie produktiv so ein Genre-Wechsel sein kann, zeigte sein letzter Langfilm „Fisimatenten“, der Mitte 2000 in den deutschen Kinos startete. Auch wenn die ironisch-melancholische Komödie, die Kuhn in der Kunstszene ansiedelte, nur in wenigen Häusern lief und von kaum mehr als einer Handvoll Filmkunstbegeisterten gesehen wurde, zeigten sich die Rezensenten durchaus angetan. Sie lobten das Werk als „filmische Kostbarkeit“ (epd-Film), bei dem der Zuschauer aktiv gefordert werde. Das lag wohl auch daran, dass der Film eines der wenigen Beispiele ist, wie man reale Spielszenen mit Animation ästhetisch als auch inhaltlich geschickt verschmelzen kann.

Der Begriff Animationsfilm kommt dem Wesen seiner Filme allerdings nicht immer sehr nahe. Denn wenn, wie in seiner mittlerweile auf fünf Teile angewachsenen Reihe von Alltagsbeobachtungen „Neulich“, ein gemaltes Bild „ausgewischt“ wird, und auf der entleerten Fläche ein neues Bild entsteht, dann wirkt das kaum animiert. Vielmehr fühlt man sich als Beobachter eines visuellen Entstehungs- und Verwitterungsprozesses, einer Ästhetik des Verschwindens. Das Auslöschen des Bildes bringt das Neue hervor. Die bevorzugten Farbtöne von Kuhn-Filmen sind in der Konsequenz ein graues Gelb mit Tendenz zum olivgrün; Farben, die den Zerfall auf eine unterschwellige Weise mit sich tragen.

Die visuelle Ebene korrespondiert auch auf ungewohnte Art mit dem Inhalt. Jochen Kuhn lädt uns ein, „als Zuschauer zugleich in seine eigenen Gehirnschleifen einzudringen und dort sich selbst beim Sehen, beim Verfertigen und Verfließen der Gedanken zuzusehen“. Dieses Fehlen einer klassischen visuellen Kontinuität weckt die Neugierde auf das, was nun als nächstes entsteht. Die „Neulich“-Filme erzählen daher von Möglichkeiten, von Alltagssituationen, die eine Eigendynamik entwickeln. Aus einer gewöhnlichen Szene des täglichen Lebens heraus – das Warten an der Bushaltestelle, ein Arztbesuch, also allesamt Situationen, die sich in dem herrlich unbestimmten Wort „Neulich“ so treffend beschreiben lassen – , entwickelt Kuhn kleine Multi-Optionsgeschichten. Seine Frage nach dem „Was wäre wenn?“ führt in manchmal gar kafkaeske Situationen, in denen seine Protagonisten sich ausführlich mit Selbstentfremdung, Einsamkeit und der Suche nach Halt beschäftigen. Dass diese düstere und leicht melancholische Stimmung nicht überhand nimmt, dafür sorgt die leise Ironie und ein feines Gefühl für Absurditäten.

„In seinen Filmen ist nichts, was nicht Jochen Kuhn ist“, schrieb die Schriftstellerin Sibylle Knauss über Jochen Kuhns Filme. Und tatsächlich verkörpert Jochen Kuhn den unabhängigen Filmautor par excellence, der in den meisten seiner Filme die Produktionsprozesse selbst in die Hand genommen: Er ist Maler, Autor, Regisseur, Musiker und Kameramann, der in seinem eigenen Atelier arbeitet. Lediglich Schnitt und Ton überlässt er seinem jahrelangen Wegbegleiter Olaf Meltzer.

Um seine finanzielle Unabhängigkeit von launischen Filmförderungen und nachwuchsorientierten Stipendien zu gewahren, hat sich Jochen Kuhn ein neues Standbein geschaffen: Wie zahlreiche seiner Kollegen, genannt sei nur Matthias Müller, der trotz großer internationaler Erfolge eine Professur für Experimentalfilm an der Kunsthochschule für Medien Köln angenommen hat, ergänzt er seine Tätigkeit als Filmemacher durch einen Lehrauftrag. Mut zur Patchwork-Biografie, das darf man daraus schließen, ist wohl in Anbetracht schrumpfender Kulturförderung in Deutschland das Motto der Stunde. Dies gilt auch für Jochen Kuhn, einen der interessantesten Animationsfilmer der Republik.

Bio- und Filmographie unter http://www.jochenkuhn.de

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