Victor Orozco Ramirez: Ein Dokumentarist im Animationspelz

32 Rbit (2018)  © Victor Orozco Ramirez

 

Victor Orozco Ramirez ist Filmemacher mit Herz und Seele. Der Mexikaner, der seit 2002 in Deutschland wohnt, hat sich mit seinen experimentellen Kurzfilmen längst einen Namen in der deutschen und internationalen Kurzfilmszene gemacht. Viele sortieren ihn allerdings immer noch in die Schublade „Animationsfilm“ ein, obwohl er selbst sich als Dokumentarfilmer versteht. Für Orozco Ramirez, der in Hamburg an der Hochschule für bildende Künste unter anderem bei Pepe Danquart studierte, ist die Animation schlicht und einfach „eine Aufnahmetechnik unter vielen“, derer er sich bedient, um seine Geschichten zu erzählen.

Geschichten, die von der Sehnsucht nach dem Unmittelbaren und dem kritischen Hinterfragen (digitaler) Realitäten handeln und sich dabei nie im malerischen Eskapismus verlieren, sondern – auf poetische und manchmal schwindelerregende Weise – die direkte Umgebung fokussieren. Dabei spielen der eigene Blick und die unhintergehbare persönliche Perspektive eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Beispielhaft wird das schon in seinem frühen Film TATEIKIE BEHIND THE CURTAIN (2008) sichtbar, der uns mitnimmt in das unabhängige indigene Dorf Tateikie in der mexikanischen Sierra Madre. Die dort seit Jahrhunderten beheimateten Huicholes lebten lange sehr zurückgezogen als Bergbauern und Jäger in den unwegsamen Gebieten und waren dadurch einer der letzten von der Zivilisation nur wenig berührten Ureinwohnerstämme Mexikos. Erst in den letzten Jahrzehnten kam es vermehrt zu Kontakten mit der Zivilisation, so dass die uralten religiösen Riten zur Verehrung der Naturgötter Vater Sonne, Mutter Ozean und der Untergottheiten Mais, Adler, Hirsch und Peyote heute bisweilen eine interessante Liaison mit importierten katholischen Ritualen eingehen.

 

TATEIKIE BEHIND THE CURTAIN (2008) © Victor Orozco Ramirez – ganzer Film auf  Vimeo

Orozco Ramirez will in TATEIKIE die Feier der katholischen Karwoche filmen, die in einem solchen Cross-Over mit der alten indigenen Feier des beginnenden Frühlings vermischt wurde. Er erhält jedoch dafür zunächst vom Dorfrat keine Erlaubnis. Zu groß ist deren Ärger darüber, dass sie sich in den letzten Jahren immer wieder von kamera-behängten Touristen mit verschiedensten Versprechen dazu überreden ließen, sich filmen zu lassen, ohne dass diese Gringos ihre Versprechungen je eingehalten hätten. Orozco, der extra aus Hamburg zurück nach Mexico gekommen ist, um im Dorf zu filmen, ärgert sich zunächst, merkt aber bald, dass die jungen Menschen im Dorf, in dem es erst seit kurzem Elektrizität und damit auch TV-Empfang gibt, die Sache ganz anders sehen. Die Jugend spürt deutlich, dass ihre Gemeinschaft genau in diesem Moment dabei ist, entscheidende Veränderungen zu erleben. Sie bitten Victor, trotz des Verbotes zu filmen und tarnen seine Versuche, die Kamera möglichst versteckt einzusetzen. Zwei Brüder nehmen ihn unter ihre Fittiche, laden ihn in ihr Haus ein und machen ihn so zu einem der ihren. Anders als die anderen Touristen und Journalisten darf er während der Feiertage im Dorf übernachten und wird bald nicht mehr als „fremd“ wahrgenommen.

Victor entscheidet sich schließlich, die klandestine Kamera – ursprünglich nur ein Notbehelf – zu einem Stilmittel des Films zu machen. Immer wieder wird das Bild beschränkt durch Vorhänge und Gardinen, hinter denen die Kamera hervorlugt oder Schlitze von Holzverschlägen, durch die die Kamera verfolgt, wie sich die Prozession durchs Dorf bewegt. Am zweiten Tag, so sagt Orozco, hat es dann schon niemanden mehr interessiert, ob er filmte oder nicht. Plötzlich kann die Kamera ganz direkt dabei sein, als eine Kuh geopfert wird und die Menschen im Peyote-Rausch musizieren. Doch es ist keine weitere ethnografische Dokumentation indigener Rituale, die Victor Orozco Ramirez drehen will. Stattdessen stellt er mit TATEIKIE BEHIND THE CURTAIN die Frage in den Raum, welche Rolle der eigene Blick für einen Dokumentarfilm spielt und wie die unhintergehbare Einschränkung durch die subjektive Perspektive unser Bild von der Welt prägt. Das Beobachten steht in diesem Film mindestens ebenso im Mittelpunkt wie das Beobachtete.

 

REALITY 2.0 (2012) © Victor Orozco Ramirez – ganzer Film auf Vimeo zu sehen

 

Fragen wie diese beschäftigen Orozco Ramirez bis heute und spielen immer wieder in seinen Filmen eine Rolle. Das gilt auch für REALITY 2.0 (2012), seinen Abschlussfilm an der Hamburger Kunsthochschule. Der Film blickt dabei auf seine Heimat Mexico, diesmal allerdings nicht mehr auf direkte Weise, sondern vom Standpunkt des in Hamburg lebenden Exil-Mexikaners, der die Verbindung zur Heimat aufrecht erhält durch den Konsum unzähliger Youtube-Videos und Fernsehberichte aus und über Mexico. In diesen Videos geht es immer wieder um die eskalierende Gewalt der Drogen- und Verbrecherkartelle, um Korruption und Willkür. Der Regisseur fragt sich, welche Folgen diese Spirale der Gewalt letztlich für die mexikanische Gesellschaft hat und wie der menschliche Drang zum Voyeurismus die Explosion der Gewalt – sowohl im realen Leben, als auch in den Medien – befeuert. Was passiert mit uns, wenn wir umgeben sind von Bildern der Gewalt? Welchen Einfluss nimmt dieses mediale Grundrauschen aus Hass und Gewalt, das in Mexico zu einer neuen Normalität geworden zu sein scheint, auf die Seele der Menschen?

Victor Orozco Ramirez arbeitet in REALITY 2.0 mit dem Rotoskopie-Verfahren, mit dem er die im Internet gesammelten Ausgangsmaterialien verfremdet. Er behandelt die teils vor Grausamkeit triefenden Videoschnipsel wie ein gefährliches, kontaminiertes Rohmaterial, das mit großer Sorgfalt bearbeitet werden muss, damit es nicht weiterhin an die niedersten Instinkte des Betrachters appellieren kann. Der Einsatz der Rotoskopie dämpft die grelle Überdeutlichkeit der Gewalt in den Videobildern spürbar. Wie ein Schleier legt sich der Filter über die schrecklichen Bilder, abstrahiert und entschärft sie und ermöglicht damit eine kritische Reflektion des Gesehenen. Der unveränderte Ton der Videos zeugt allerdings immer noch vom Schrecken der Ursprungsszenen und ist teilweise kaum zu ertragen. Streckenweise wird er überlagert von dem vom Filmemacher selbst eingesprochenen Off-Kommentar, der die verschiedenen Szenen und Episoden verknüpft und dem Film seine stringent medienkritische Botschaft gibt. „Reality 2.0“ ist der bisher erfolgreichste Film des Mexikaners, er lief weltweit auf ungezählten Festivals und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Deutschen Kurzfilmpreis als bester Dokumentarfilm und dem First Steps Award.

Fast zwei Jahre lang reiste Orozco Ramirez mit REALITY 2.0 um die Welt, besuchte unzählige Festivals, auf denen der Film gezeigt wurde und nahm an dutzenden Diskussionen teil. Er habe in dieser Zeit, so sagt er, fast ein bisschen vergessen, dass er Filmemacher sei und sich einfach dem Reisen und dem Festivalleben hingegeben. Doch irgendwann war es an der Zeit, sich dem nächsten Projekt zu widmen. Den Anlass gab unter anderem ein persönliches Missgeschick. Ein Festplattencrash führte zu einem irreparablen Datenverlust. Betroffen waren auch die Schnittfassungen seiner vier älteren Filme SPARE THE BLOOD, SPOIL THE CHILD (2005), THEATER OF CRUELTY (2004), SQUAREHEAD (2003) und MAKE ME A SAINT (2002), die plötzlich nur noch auf alten DV-Kassetten gespeichert waren. Jahrelange Arbeit, die durch eine falsche Tastenkombination direkt am Abgrund des Vergessens landet. Es war die kollektiv verdrängte Flüchtigkeit des digitalen Gedächtnisses, die ihn direkt zu seinem nächsten Film 32 Rbit (2018) führte.

 

32-RBIT (2018) © Victor Orozco Ramirez – ganzer Film auf Vimeo

 

Der Film erzählt die Geschichte der Digitalisierung als Geschichte einer enttäuschten Liebe – einer Liebe zum Internet und dem damit einhergehenden Versprechen der totalen Verfügbarkeit von Information und Vernetzung. Erst nach einer Honeymoon-Phase, in der Orozco Ramirez wie die meisten von uns das Internet als Demokratisierungsmaschine im Land der unbegrenzten digitalen Möglichkeiten wahrnahm, wird nach und nach sichtbar, dass die Medialisierung des Lebens auch gravierende Schattenseiten mit sich bringt. Das Freiheitsversprechen des Internets entpuppt sich als ultimative Versklavungstaktik. Statt all die Inhalte und Zerstreuungen, die in uns die Illusion nähren, über die Welt Bescheid zu wissen tatsächlich umsonst zu bekommen, zahlen wir de facto mit jedem Klick dafür mit unseren Daten. Tatsächlich verstellt unser starrer Blick auf die virtuelle Welt uns die Sicht auf das Leben. Wir scheinen dazu verdammt zu sein, immer wieder den gleichen Fehler zu machen und dort Freiheit zu vermuten, wo wir uns eigentlich nur den gar nicht mehr so verborgenen Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie unterwerfen.

Technisch ähnelt 32-RBIT ein Stück weit dem Vorgängerfilm REALITY 2.0. Auch hier wird das Found Footage Material aus dem Internet mit der Rotoskopie-Technik bearbeitet. Die Bilder wirken allerdings sehr viel flächiger und weit weniger digital, was auch daran liegen dürfte, dass die Hintergründe in diesem Film – anders als bei 32-RBIT – alle handgemalt sind. Die Farbgebung ist um einiges düsterer geworden, statt in den „mexikanischen Nationalfarben“ Grün-Weiß-Rot, mit denen viele Szenen von REALITY 2.0. nachkoloriert wurden, arbeitet 32-RBIT ausschließlich mit schwarz-weiß Kontrasten.

Victor Orozco Ramirez sagt von sich selbst, er sei ein Künstler, der vom Fragment zum Ganzen kommt. Verbindendes Element zwischen den in sich geschlossenen Szenen ist der von ihm selbst gesprochene Off-Kommentar, der in essayistischer Manier um sein Thema kreist. Bilder und Kommentar sind exakt aufeinander abgestimmt, allerdings niemals in illustrierender oder erklärender Manier, sondern immer mit einem feinen Gespür für die Lücke zwischen Bild und Kommentar, die das Publikum selbst mit Bedeutung füllen kann, muss und darf.

Da er klassische Off-Kommentare eigentlich hasse wie die Pest, habe es eine Weile gedauert, bis er gemerkt habe, dass der rote Faden seiner Filme eben dieser Off-Kommentar sein würde. Bis heute macht Victor Orozco Ramirez einen großen Bogen um „klassische“ Kommentare, die genau das erzählen, was man ohnehin sieht oder die Szenen mit einer Bedeutung aufladen, die sich nicht aus dem Gezeigten ergibt. Statt den Kommentar zur gezielten Manipulation des Publikums zu nutzen, hat er inzwischen die Kunst perfektioniert, seine Erzählstimme zu einer eigenständigen Ebene neben Bild, Ton, Musik und Montage zu machen.

Seine Arbeitsweise ähnelt nicht nur deshalb weit mehr derjenigen eines Dokumentar- bzw. Essayfilmers als der klassischen Herangehensweise im Animationsfilm. Seine Filme entstehen letztlich erst am Schnittplatz. Während Animationsfilmer ihre Projekte oft minutiös vorausplanen, in größeren Teams arbeitsteilig vorgehen und meist von Anfang an wissen, wie ihr Film im „look and feel“ aussehen soll, arbeitet Orozco Ramirez eher spontan und bleibt als Autorenfilmer bis zum Schluss allein dafür verantwortlich, welche Ideen, Bilder, Themen, Töne und Footage-Materialien er verwendet. Der Kurzfilm ist für ihn keine Übungsstrecke und erst recht keine Visitenkarte, sondern das genuine Medium, in dem er sich ausdrücken will. Seine Arbeitsweise bringt es mit sich, dass er für jeden seiner Filme viel Zeit braucht und so ist es nicht verwunderlich, dass Kunst, persönliches Leben und Alltag in seinen Arbeiten oft eine enge Verbindung eingehen.

Im neusten Film REVOLYKUS (2020) sehen wir zum Beispiel sein eigenes Haus in einem kleinen Dorf in Süddeutschland, das er in baufälligem Zustand kaufte und in einem jahrelangen Prozess selbst Stück für Stück renovierte. Dass er dabei nicht nur ohne schweres Gerät arbeitete, sondern auch viele Arbeitsschritte wie das Entfernen verschiedenster Tapetenschichten oder die Demontage von Deckenvertäfelungen mit Stoptrick-Aufnahmen festhielt, zog die Renovierung zweifellos in die Länge, führte aber zu einem herausragend animierten Kurzfilm, der sich den Themen Radikalisierung und Rassismus widmet. Auf der Bildebene unterscheidet sich REVOLYKUS deutlich von den beiden Vorgängerfilmen, weil diesmal nicht mehr die im Computer bearbeiteten Rotoskopien im Mittelpunkt stehen, sondern ausschließlich selbst gedrehte Bilder des Hauses und seiner Umgebung zum Einsatz kommen. Gearbeitet wird sowohl mit diversen Stoptrick-Varianten als auch mit direkten Animationen auf den Wänden, Fußböden und Möbeln des Hauses, die an die Arbeit des Graffiti-Künstlers Blu erinnern. Es scheint, als hätte sich der Künstler nach den beiden medienkritischen und komplett auf Youtube-Footage basierenden – Vorgängerfilmen ein Stück weit selbst aus der medialen Umklammerung befreien und wieder in direkten Kontakt mit der wirklichen Welt kommen wollen.

 

REVOLYKUS (2020) © Victor Orozco Ramirez – Trailer auf Vimeo

 

Die Verbindungen zwischen dem Sichtbaren und dem Hörbaren sind in diesem Film deutlich fragiler geworden, was die Qualität des Off-Kommentars noch verdeutlicht und die hypnotische Wirkung der Montage unterstreicht. REVOLYKUS kann man ohne Schwierigkeiten mehrmals anschauen, ohne auch nur einmal das Gefühl zu haben, alle Bedeutungsebenen erfasst zu haben. Victor Orozco Ramirez zeichnet mit diesem Film ein zutiefst erschreckendes Bild der (deutschen) Gegenwart, in der sich Rassismus, Xenophobie und Engstirnigkeit sowohl im Alltag als auch in den Medien als neue Gegenkultur gerieren. Während das Haus nach und nach seiner typischen kleinbürgerlichen Einrichtungsmerkmale beraubt wird, entwickelt sich die Erzählung im Kommentar zu einer ohne jede Wut vorgetragenen Klage, die von Minute zu Minute mehr Wucht entwickelt. REVOLYKUS ist ein dystopischer Kommentar zu den Zuständen im pandemiegeprägten Deutschland, in der die Politik von der Angst vor ihren nach rechts driftenden Bürgern geprägt ist. Ausgehend von dem kleinen, baufälligen Haus, das zum neuen Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz wurde, richtet Victor Orozco Ramirez mit großer Klarheit seinen Blick darauf, wie sich innere und äußere Zustände bedingen und wohin das Land, das seine neue Heimat wurde, sich bewegt.

„Since some time ago, I don’t get out that much. Outside is is quite cold. Besides, that’s how I avoid the stares. Inside here, in this wrecked house. I hope to escape this journey at the end of the night.“

(Seit einiger Zeit gehe ich nicht mehr so viel raus. Es ist sehr kalt draußen. Außerdem ist das ein Weg, nicht mehr angestarrt zu werden. Hier drinnen, in diesem zerstörten Haus, versuche ich, dieser Reise ans Ende der Nacht zu entkommen. – Zitat aus REVOLYKUS)

 

Filmografie

 

MAKE ME A SAINT (2002)

SQUAREHEAD (2003)

THEATER OF CRUELTY (2004)

SPARE THE BLOOD, SPOIL THE CHILD (2005)

TATEIKIE BEHIND THE CURTAIN (2008)

REALITY 2.0 (2012)

32-RBIT (2018)

REVOLYKUS (2020)

https://victororozco.com

 

Beitragsbild: REALITY 2.0 (2012) © Victor Orozco Ramirez