Falter, Flimmern und Fragmente
– Sylvia Schedelbauer

LABOR OF LOVE © Sylvia Schedelbauer

Fragmentarische Erinnerungen führen wie ein roter Faden durch die Arbeiten von Sylvia Schedelbauer, die zwischen Experimentalfilm und Essayfilm oszillieren und auch als “Film Erinnerungen” bezeichnet werden könnten. Beim Schauen ihrer einfühlsamen wie experimentellen Filme kommt schnell das Gefühl auf, tief in die Gedankenwelt der Filmemacherin einzutauchen, auch wenn es nur kleine, wohl gewählte Ausschnitte aus ihrem Leben sind, die sie darin preisgibt.

 

Sylvia Schedelbauer ist in Tokio aufgewachsen und zog 1993 nach Berlin, wo sie seitdem lebt und arbeitet. Hier studierte sie an der Universität der Künste freie bildende Kunst in der Klasse von Katharina Sieverding. In dem experimentierfreudigen Umfeld gab es erste Annäherungen an das Medium Film. Das Experimentieren mit immer neuen technischen Möglichkeiten begleitet sie bis heute, wo in ihren Werken analoge und digitale Aufnahmetechniken aufeinandertreffen. Als Kind einer Japanerin und eines Deutschen sind die Reibungsstellen dieser beiden Kulturen die Orte, die sie behutsam in ihren experimentellen Filmen untersucht, um darüber auf kollektive Erinnerungen zu sprechen zu kommen, die transnationale Beziehungen über die eigene Biografie hinaus generationsübergreifend befragen. Sorgsam ausgewählte und komponierte Szenen, Abstraktion und das Abarbeiten an verschiedenen Techniken der Rhythmisierung zeichnen ihren unverkennbaren filmischen Stil aus. 2019 wurde Sylvia Schedelbauer Stipendiatin am Radcliffe Institute for Advanced Study der Harvard University in Cambridge, USA. Dort arbeitete sie an einem Projekt, das ihre eigene Herkunftsgeschichte, in einen größeren Rahmen europäisch-japanischer Geschichte stellt. Gezeigt wurden ihre Filme international auf zahlreichen Festivals u.a. dem Toronto International Film Festival, dem Internationalen Kurzfilmfestival Oberhausen, dem London Film Festival und dem New York Film Festival. Ausgezeichnet wurden ihre Filme mit dem VG Bildkunst Preis und dem Gus Van Sant Award für den Besten Experimentalfilm. Bereits 2008 erhielt sie für “Falsche Freunde” den Preis der Deutschen Filmkritik in der Kategorie Bester Experimentalfilm.

 

ERINNERUNGEN © Sylvia Schedelbauer

 

ERINNERUNGEN, eine ihrer frühesten filmischen Arbeiten aus dem Jahr 2004, ist ein persönlicher Einblick in das Leben ihres Großvaters väterlicherseits, der im Dritten Reich als Soldat gedient hat und in Stalingrad fiel. Die Geschichte des Großvaters wird anhand von abgefilmten Fotografien rekonstruiert, die er in einem Album verwahrte, und die für Sylvia Schedelbauer Ankerpunkte sind, seine Geschichte zu erzählen. Ohne eigene Erinnerungen an den Großvater, geben nur diese Fotos Aufschluss über seine Vergangenheit. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde die vorangegangene Zeit lange kollektiv totgeschwiegen, Mittäterschaft geleugnet und prägende Erlebnisse in den Mantel des Schweigens gehüllt, der, wie im Fall des Großvaters, nur durch die aufbewahrten Fotografien ein Stück weit gelüftet werden kann.

 

Über den Großvater kommt die Filmemacherin auch auf ihren Vater, und schließlich ihre eigene Kindheit zu sprechen. So begleitet sie schon früh das Gefühl, nie wirklich dazu zu gehören, zwischen den Welten ihrer Eltern zu stehen. Die Sehnsucht nach einer kulturellen Zugehörigkeit, die Geborgenheit verheißt, lässt bei ihr den Wunsch erwachsen, in einer anderen Zeit geboren zu sein. Wie viele ihrer Generation, beschäftigt sich Sylvia Schedelbauer als Kind der ersten Nachkriegsgeneration mit der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte, über die innerfamiliär nie viele Worte gefallen ist. “Erinnerungen” kann so vielleicht als Versuch verstanden werden, eine bestehende Lücke und deren Auswirkungen auf die eigenen Identität viel mehr zu benennen als sie tatsächlich schließen zu wollen.

 

Neben eigenen Aufnahmen verwendet die Filmemacherin immer wieder Archivmaterial sowie Found Footage. In FALSCHE FREUNDE (2007) etwa ist dies der Fall, in dem unterschiedliche gefundene Aufnahmen ineinander verschränkt und durch bewusst gesetzte Schwarzpausen ein weiteres Element der Rhythmisierung eingeführt wird. Einblicke in ein Gefängnis, eine Säuglingsstation, Ideen zu Paarbeziehungen sind kaleidoskopisch angeordnet, und führen tief hinein in die Gedankenwelt der Filmemacherin. Die durch kurze, eingeschobene Bilder gestörten Sequenzen sind musikalisch so untermalt, dass sie auf einen Höhepunkt hinzusteuern scheinen. Wieder und wieder sind Körper in Bewegung zu sehen, die über Treppen, schneebedeckte Wiesen, Wege und Kriegsschauplätze auf ein unbekanntes Ziel hinsteuern. Der Film endet, als ein Mann schließlich in einem Gebäude verschwindet. Die erhoffte Katharsis bleibt ein unerfüllter Sehnsuchtsort.

 

WISHING WELL © Sylvia Schedelbauer

 

Mit dem Kurzfilm WISHING WELL (2018) war Sylvia Schedelbauer 2018 bei den Berlinale Shorts vertreten. Hier erinnert das Flickern der Bilder an ein stetiges Pulsieren, in dem sich verschiedene Bilder mal schneller, mal langsamer übereinander schieben, während sich die Kamera langsam rückwärts bewegt. Dem Flickern stehen wieder Schwarzpausen als bewusste Brüche gegenüber, die die Linearität der Narrative aufbrechen. Digitale Aufnahmen eines Waldes, die von einem schneidenden Ton gestört werden, werden überlagert von kurzen, auf 16-mm-Film aufgenommen, Sequenzen die einen Jungen zeigen, der den Wald zu erkunden scheint. Mythologisch hat der Wald eine besondere Stellung, so ist er Schauplatz von Sagen und Märchen, ebenso ist er Sehnsuchtsort, der in Malerei und Literatur romantisiert wird. In der umgekehrten Bewegung der Szenen liegt gleichwohl der Versuch, zu verborgen Gedanken vorzudringen und der Wald wird so zum Ort der persönlichen Sinnsuche.

 

FALSE FRIENDS © Sylvia Schedelbauer

LABOR OF LOVE (2020), beginnt mit der Erinnerung an eine Pagode, die keinem realen physischen Ort oder Kontext zugeordnet werden kann. Die Kamera ist zunächst auf eine flimmernde Kreisform gerichtet, deren Umrisse sich stetig verändern. Eine weibliche Erzählerstimme aus dem Off versucht die lose Erinnerung einzuordnen, sie mit anderen Erinnerungen und Gedanken assoziativ in Verbindung bringen, während der fortwährende Bilderstrom visuell das Wandern der Gedanken aufgreift. Die Flickertechnik, die teilweise stroboskopartige Abfolge von Bildern, die von Sylvia Schedelbauer erstmals 2007 in FALSCHE FREUNDE erprobt wurde, kommt hier wieder zum Einsatz. Da der digitale Übertrag der 16-mm-Aufnahmen mit High-Definition-Standards nur ungenügend Ergebnisse brachte, experimentierte die Filmemacherin mit verschiedenen Techniken wie Verlangsamung und Unschärfen, um die Unterschiede in der Aufnahmequalität auszugleichen, bis sie zur Überlagerungstechnik kam, die schließlich im Flickern mündete. In LABOR OF LOVE führt sie das Flickern zusammen mit digital erzeugten Farbüberlagerungen ins Extreme. Vereinzelt tauchen Bilder auf, die schnell wieder in einem Farbenmeer versinken.

 

Wohin können uns Erinnerungen führen, ist eine der inhaltlichen Fragen, die LABOR OF LOVE über den Einsatz der filmischen Mittel stellt. Welche Orte schlummern verborgen in unserem Inneren, die neue Perspektiven eröffnen können? Aufgebaut wie eine geführte Mediation, wendet sich die Schilderung zunehmend inneren Bewusstseinszuständen zu und wiegt das Unbekannte gegen das Bekannte auf. Aus den Farbverläufen, die sich dazu abgestimmt auf die Musik über die Bildfläche schieben, hebt sich das Bild eines menschlichen Gehirns ab, dem Ort, an dem alle Fäden unseres Bewusstseins zusammenlaufen. Von dort geht es hinab in die verwobenen Wirren des Verstandes, kurz blitzt ein Falter auf, wie ein Deja-Vu, ehe auch er wieder im Farbenmeer verschwindet. Kurz vor Schluss löst sich dann jede Referenz zu unserer Umwelt komplett auf, Quadrate fliegen hypnotisch über die Bildfläche und jeder Bezug zur Realität gleitet endgültig in die Abstraktion ab.

 

Filme können unser Denken verändern, sagt Sylvia Schedelbauer, dabei bezieht sie sich nicht nur auf die inhaltliche Ebene, sondern auch auf das Zusammenspiel von Bild, Ton und Schnitt. Ihr Rückgriff auf Archivmaterial liegt nahe, wenn es darum geht, Erinnerungen wach zu rufen, die sie nicht unmittelbar selbst gemacht hat, aber die das eigene Ich beeinflussen. Die Verschränkung von Altem und Neuem und der Abstrahierungsprozess, den das Filmmaterial in der Postproduktion durchläuft, lässt viele Fragen ganz bewusst offen, macht aber deutlich, das nur so erst die Möglichkeit entsteht, die eigenen Gedankenwelt zu erkunden, die sich bei der Filmemacherin immerzu zwischen verschiedenen Welten und Zeitlichkeiten bewegt.

 

Filmografie:

 

LABOR OF LOVE, 11 min, 2020

WUNSCHBRUNNEN (Wishing Well), 13 min, 2018

MEER DER DÜNSTE (Sea of Vapors), 15 min, 2014

SOUNDING GLASS, 10 min, 2011

WAY FARE 7 min, 2009

FALSCHE FREUNDE (False Friends), 5 min, 2007

FERNE INTIMITÄT (Remote Intimacy), 15 min, 2007

ERINNERUNGEN (Memories), 20 min, 2004