Eine elementare Bildarbeiterin
– Zur Filmemacherin Alex Gerbaulet

SCHICHT © Alex Gerbaulet pong film 2015

 

I.           Die Geschichte, die Frauen und ich

 

In DATTERODE (2005), einer frühen im Studium an der Hochschule für bildende Künste Braunschweig entstandenen Arbeit Alex Gerbaulets, sehen wir einige präzise ausgewählte Bilder des Ortes und seiner Umgebung in Nordhessen, über den eine Stimme aus dem Off unter anderem erzählt, dass er das Zuhause für einen niederländischen Kriegsverbrecher war. Dieser war bis zu seinem Tod ein beliebter Nachbar, seine Haftstrafe in den Niederlanden musste er nie absitzen, da sich der deutsche Staat bis zuletzt geweigert hatte, ihn auszuliefern.

Datterode © Alex Gerbaulet 2005

Die spezifische Seherfahrung dieser Arbeit entspringt nicht bloß der Spannung zwischen einem ganz gewöhnlichen –  man könnte auch sagen: »idyllischen« – Ort im Bild und den Informationen auf der Ebene des Tons. Genauer rührt die Spannung vor allem daher, dass sich der Blick des Films über den Ton als der einer Person, der Filmemacherin, zu erkennen gibt, die sich unter anderem scheut, zu filmen, oder froh ist, keine Aufnahmen mehr machen zu müssen (als der Akku leer ist). Aufeinander treffen also nicht so sehr Bilder und Töne, sondern eine ganz bestimmte Subjektivität, die sich im Ton, im Blick und ihrem Zueinander artikuliert und ein Ort, seine sichtbare Materialität und seine (mehrheitlich) unsichtbare Geschichte. Wenn Alex Gerbaulet in ihren Arbeiten »Ich« sagt, sagt sie immer auch »Geschichte« und umgekehrt. Während wir Datterode und seine Geschichte kennenlernen, lernen wir auch die Filmemacherin und ihr Unwohlsein kennen. Das eine hängt mit dem anderen zusammen: Alex Gerbaulet ist (auch), wie sie sich zu dem Thema ihres jeweiligen Films verhält.

Der 2015 entstandene SCHICHT (2015) ist nicht nur Gerbaulets erfolgreichster Film – er gewann u.a. den deutschen Wettbewerb der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, den Prix Premiere des FID Marseille und den Preis der deutschen Filmkritik –, er steht rückblickend (und bis hierhin) auch im Zentrum eines Werkes, das deutsche Geschichte und Gegenwart immer wieder mit der eigenen Biographie in ein Verhältnis setzt.

 

SCHICHT © Alex Gerbaulet pong film 2015

Hier erfahren wir u.a.: Gerbaulet heißt Alexandra, weil der Vater ein großer Fan der gleichnamigen Schlagersängerin war und ist in Salzgitter geboren, wo dieser unter anderem für die Salzgitter AG arbeitete, die davor, ab 1937 als Reichswerke Herman Göring ihre Arbeit vor Ort aufgenommen hatte.

 

SCHICHT © Alex Gerbaulet pong film 2015

 

Von dieser Grundkonstellation aus bohrt sich der Film durch die Schichten einer Familiengeschichte wie auch jener Deutschlands. Ein Sich-am-falschen-Ort-wähnen, das einem schon in DATTERODE begegnet ist, ist der Filmemacherin als Historikerin auch hier, im familiären Umfeld, anzumerken. Aus dieser Konstellation – nah dran am Kern eines Unwohlseins – entwickelt sie etwas Produktives, das Geschichte zum einen nach und nach aufdeckt und als Geschichtetes begreifbar macht und sie zugleich auch umschreibt: Denn in der patriarchalen Struktur kleinbürgerlicher Verhältnisse und deutscher Geschichte, die der Film Schicht für Schicht abträgt, erzählt sie neben der Geschichte ihrer Mutter, die mit 46 Jahren nach langem Leiden an Multipler Sklerose gestorben ist, auch die eigene – im Widerstand, als queerer Punk, auf der Suche nach einem eigenen Weg.

Dieser Weg lässt Gerbaulet einen Teil ihrer Jugend auch bei ihren Großeltern verbringen, die in DIE SCHLÄFERIN (2018) wiederum ins Zentrum ihrer filmischen Arbeit – diesmal in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Mirko Winkel und dem Schriftsteller Tim Schramm – gestellt werden. Genauer ist es auch hier die Großmutter, Margit, deren Lebensgeschichte sie im Film mit jener von Irina überblendet, von der die Zeitung berichtet, sie habe ihren Mann erstochen. Im Blick auf die Interieurs – die Küche, das Wäschezimmer, die leeren Flure – bürgerlicher Heteronormativität und der Skizzierung normierter weiblicher Lebensläufe zeichnet der Film einen, mitunter zärtlich-mitfühlenden Blick auf die Großmutter und zeitgleich ein dekonstruierendes Bild bundesdeutschen Ehealltags und häuslicher Gewalt.

 

Die Schläferin © Alex Gerbaulet pong film 2018

 

Und auch wenn Gerbaulet sich von ihrer Familie gelöst hat und nach dem Abitur in Braunschweig bis zum Abschluss als Meisterschülerin studiert, findet ihre in Zusammenarbeit mit Ines Meier entstandene, verspielteste Arbeit SCHON NACHMITTAG (2009) in der Stadt (und ihrer ultrapräzisen Atomuhr) das Ticken – die Mechanismen und Architekturen des Alltags, der Ausgrenzung, der Belästigung (von Frauen) – in dem sich über Deutschland als Ganzes sprechen, nachdenken, ärgern lässt.

Schon Nachmittag © Alex Gerbaulet 2009

 

II.          Gemachte Bilder: Verspielte Genauigkeit

Die ebenfalls noch im Studium, in Zusammenarbeit mit Mirko Winkel entstandene Arbeit GEFANGENENBILDER (2007) ist der einzige Film, in dessen Zentrum Männer stehen. Nur hat fast keiner von ihnen ein Gesicht, außer der Tätowierer in der Jugendanstalt Neustrelitz. Allen anderen, seinen Kunden, wird der Kopf durch die Kadrage abgeschnitten oder wir sehen sie nur von hinten. Im Fokus des Films steht neben der manchmal nebenbei eingefangenen Zärtlichkeit, die die Finger des Tätowierers den Körpern – ihrer Haut, ihren Brustwarzen, den Härchen – zuteil werden lässt, vor allem die Frage, welche Bilder (Hakenkreuze, KKK-Symbole, Hitler-Gesichter usw.) die neuen Bilder (Totenköpfe, »Tribals« usw.) überschreiben und warum dies geschieht. Dabei werden die Dialoge zwischen der Filmemacherin hinter der Kamera und den Männern im Bild zusätzlich ins Englische übersetzt im Zentrum des Bildes sichtbar: als Untertitel, die keine Untertitel sind, als Sprache, die Schrift wird, die Bild wird.

 

Gefangenenbilder © Alex Gerbaulet 2007

 

Sehr früh (und eigentlich auch schon in DATTERODE) zeigt sich in den Arbeiten Gerbaulets ein solches Verständnis von Bildern (und Sprache) als etwas Gemachtem, als etwas, das nicht nur abbildet, sondern herstellt und herstellbar ist, geschrieben wird und überschreibbar ist. Dies zu betonen, scheint vor allem mit Blick auf die Tatsache sinnvoll, dass ihre Filme meist (und zurecht) als Dokumentarfilme begriffen werden. Bild und Ton bilden aber eben nicht einfach ab, bzw. zeichnen auf, sie haben bei Gerbaulet immer schon die Eigenschaft, die Aufmerksamkeit auf sich als Gemachtheiten und Formgebungen zu ziehen; indem das Bild mal da ist oder seine Abwesenheit ausstellt, indem es Dinge bewusst auslässt oder fokussiert; indem Sprache hervorgehoben wird, etwa in der Trockenheit und Genauigkeit, mit der Fakten vorgetragen werden, oder in der verspielt dadaistisch-psychoanalytisch-assoziativen Virtuosität, mit der z.B. in SCHICHT der Tod der Mutter erzählt und mit den konkreten und metaphorischen Schichten des Films verwoben wird: »Sie liegt auf dem Rücken, sieht durch die Erde hinauf. / Jemand beißt ins Gras. Die Grasnarbe. / Darüber ist Gras gewachsen. / Schichten. Sedimente. Tiefer. Weiter. Schwarz. Nacht. Schacht.«

 

SCHICHT © Alex Gerbaulet pong film 2015

 

Wenn man möchte, kann man darin Einflüsse der Filmemacherin Birgit Hein ausmachen, bei der Gerbaulet in Braunschweig studiert hat und die mit ihren eigenen Arbeiten wie auch mit »Film als Film«, dem von ihr und Wulf Herzogenrath herausgegebenem Standardwerk zum experimentellen Kino, zu einem solchen Begriff des Bildes beigetragen haben könnte. Definitiv aber liegt in dieser verspielten Genauigkeit im Umgang mit Bildern und Sprache auch ein zentraler Aspekt dessen, was Gerbaulets Arbeiten politisch macht: Das Bild als etwas Gemachtes zu begreifen, bedeutet seine Macht und seine ideologischen Aufladungen und Funktionen ernst zu nehmen. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich andere Bilder, Gegenbilder machen. Auf der Basis dieses politischen Kunstverständnisses hat sich Alex Gerbaulet 2015 mit der Filmemacherin Mareike Bernien zusammengetan. Ihre erste Zusammenarbeit TIEFENSCHÄRFE (2016), der die Morde des NSU in (unter anderem) Nürnberg verhandelt[1], auf die und von den Tatorten aus guckt und sie mit Bildern von Nichtorten – Unterführungen, Hinterhöfen, Straßenecken – ins Verhältnis setzt, bringt Bilder tatsächlich aus dem Lot, lässt sie um ihre eigene Achse kippen, um sie in anderen Momenten wieder aufzurichten: ein falsches Bild; ein schiefes Bild; ein Bild, das anders herum gedacht werden müsste; ein zurecht gerücktes Bild.

 

Tiefenschärfe © Alex Gerbaulet & Mareike Bernien pong film 2016

 

Das Ganze mündet schließlich im Blick eines Tatorts auf die Stadt, wobei die Montage diesen über die Stromleitungen zwischen den Häusern zum Zentrum eines Netzes macht, das diese durchzieht. Dieses Neuzusammensetzen der Bilder entspricht auf der Tonspur einem beständigen Aussprechen der Namen der Opfer – Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç – und einer ebenso insistierenden Verweigerung aus den Wörtern »Döner« und »Morde« jene Wortkonstruktion zu machen, mit der eine Zeitung und die deutsche »Mehrheitsgesellschaft« sich erzählt, das habe mit »uns« bzw. ihr nichts zu tun.

 

III.          Politische Bild-Arbeit: Transformation und Kollektivität

 

Ebenfalls in Zusammenarbeit mit Mareike Bernien ist auch Gerbaulets neuste Arbeit SONNE UNTER TAGE entstanden, die den Weg eines Rohstoffs entlang seiner unterschiedlichen Begriffe (Pechblende, Uranium, Wismuth), changierenden Verwendungen (Verzierung, Heilung, atomare Waffen) und politisch-ideologischen, wissenschaftlichen und medialen Kontexte verfolgt.

Sonne Unter Tage © Alex Gerbaulet & Mareike Bernien pong film 2022

 

Dabei vollführt der Film seine Denkbewegung entlang einer erkleklichen Anzahl verschiedenster Bildtypen – Fotografien, Archivaufnahmen, selbstgedrehter Bilder, Museumsobjekten – deren Gemeinsamkeit vor allem darin auszumachen wäre, dass sie zusammen genommen die Transformation eines Gegenstandes durch verschiedene Bildtypen hindurch sichtbar machen. Auch hier verweisen die Bilder immer auf sich selbst, sind nie nur das Bild von etwas, sondern eine Möglichkeit, für die der Film sich unter vielen entschieden hat: So erscheint das Archivmaterial im falschen Format oder wird in seiner ursprünglichen Laufrichtung manipuliert, werden aktuelle Bilder mit einem Infrarotfilter gedreht, decken die Strahlen von Taschenlampen die Objekte in einem dunklen Bild erst auf, hinterlassen Finger Abdrücke auf von UV-Licht beschienenen Fotografien. Wie das Element im thematischen Zentrum des Films sind auch die Bilder Gegenstand von Transformationen, Umschreibungen, Neucodierungen. Diese Prozesse sichtbar zu machen, also auch für die Betrachter*innen nachvollziehbar zu machen, bedeutet, jeder*m Einzelnen die Komplexität eines tendenziell unabschließbaren Denkprozesses anzuvertrauen, dessen Ziel nicht die eine Wahrheit über den Gegenstand ist, sondern ein Blick für die Verhältnisse, in denen er verhandelt wird. Nicht die Geschichte des Uraniums, sondern seine Position, Rolle, Funktion in einer Vielzahl von Geschichten.

 

Sonne Unter Tage © Alex Gerbaulet & Mareike Bernien pong film 2022

 

Ein Blick auf alle bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Arbeiten lässt Alex Gerbaulets Werk – analog zu der Bewegung die SONNE UNTER TAGE als einzelner Film vollzieht – vor allem als eines der Transformationen lesen, durch die sich einige grundlegende ästhetisch-politische Prinzipien ziehen, die das Verständnis von Bildern, Blicken und Beziehungsweisen zwischen ihr, ihrem Gegenstand und den Betrachter*innen betreffen. Dieses Skelett lässt eine Vielzahl unterschiedlicher filmischer Körper zu. Die Filme unterscheiden sich tatsächlich formal stark voneinander, jeder hat auch seine eigene Form, einen anderen Zugang, einen neuen Rhythmus.

Ein Begriff, den ich empfinde, auf den ich intuitiv und reflexiv stoße, wenn ich diese Filme sehe, ist der der Arbeit – Arbeit als Prozess, Arbeit als lustvolle und mühsame Überwindung von inneren und äußeren Widerständen, Arbeit als Herstellung neuer Zustände, Verhältnisse und Perspektiven, die nicht weniger Arbeit bedeuten, aber den Prozess der Reflexion und des Nachdenkens in Gang halten und sich darin Essenzialismen, Eindeutigkeiten, Zuschreibungen widersetzen. Filme machen als Arbeiten, Film sehen als Arbeiten, über Filme nachdenken als Arbeiten. Ein solches Verständnis des Arbeitens als Prozess und des Herstellens von Prozesshaftem zeigt sich auch in den wiederkehrenden, aber eben nie dauerhaft fixierten künstlerischen Kollaborationen mit Mareike Bernien, Mirko Winkel, Ines Meier (als Co-Regisseur*innen), Jenny-Lou Ziegel (Kamera), Tom Schön (Ton) oder Philip Scheffner (Schnitt), Merle Kröger (Dramaturgie) und Caroline Kirberg (Produzentin) – die zusammen mit ihr und Mareike Bernien die Produktionsplatform pong film[2] bilden, wo Alex Gerbaulet auch als Produzentin (und neuerdings Geschäftsführerin) arbeitet, und wo sie zuletzt unter anderem Amel Alzakout und Khaled Abdulwaheds Purple Sea (2020) mit möglich gemacht hat. Diese Form der kollektiven, kollaborativen Arbeit ließe sich Zeile für Zeile in einem tabellarischen Lebenslauf ablesen. Sie bildet sich aber eben auch als Form, Ästhetik, Seherfahrung in ihren Filmen ab, die Bilder und Töne zu Schnittstellen machen, an denen sie sich mit anderen an der Welt und wir mit ihr an ihren Filmen gemeinsam abarbeiten, um dann, vielleicht nach einer Pause, in diesem Modus des Miteinanders produktiv ästhetisch und politisch weiter zu leben (und arbeiten).

 

[1]    Gerbaulet war auch Mitglied der Vorbereitungsgruppe zum »Tribunal NSU-Komplex auflösen« 2017, sowie Mitinitiatorin der »SPOTS« // www.tribunal-spots.net

[2]   www.pong-berlin.de