„Der Kurzfilm ist kein Beleg für Potential – er steht für sich selbst“
– Der Kurzfilm auf der Berlinale

Ein Interview mit der Leiterin der Berlinale Shorts, Anna Henckel-Donnersmarck, und eine Übersicht an kurzfilmrelevanten Veranstaltungen beim größten Publikumsfestival der Welt

THE WAITING © Volker Schlecht

Glitzer, Glamour, Kurzfilm: Am 16. Februar beginnt die 73. Berlinale und nicht nur der abendfüllende Spielfilm bekommt diverse rote Teppiche und Aufmerksamkeit: Insgesamt 70 Kurzfilme laufen im Programm, das macht rund ein Viertel aller 287 Beiträge aus. Neben den Berlinale Shorts zeigen nämlich auch Forum Expanded (16 von 36), Generation (31 von 87) und die Perspektive Deutsches Kino (3 von 13) Kurzfilme. Die Filmscreenings werden außerdem um zwei Gesprächsformate ergänzt. Bei der Diskussionsrunde „Shorts, Communities and Conversations – Kurzfilme und soziale Arbeit“* dreht sich alles um den Einsatz von Kurzfilmen in der therapeutischen Arbeit. Und beim Berlinale Talents-Event „Short Symphonies: Directors’ Scores“ spricht die Berlinale-Shorts-Leiterin Anna Henckel-Donnersmarck mit drei diesjährigen Kurzfilm-Regisseur*innen Anthony Ing, Billy Roisz und Christian Avilés über die Musik zu ihren Filmen, die sie selbst komponiert haben.**

Die Screenings und Gesprächsrunden bilden nur den öffentlich-zugänglichen Bereich ab – hinter den Kulissen wird auch viel für die kurze Form getan, damit diese es schlussendlich auf die Leinwand und andere Anwendungen schafft. Zum Beispiel mit der Short Form Station, dem von Sarah Schlüssel koordinierten Talent Lab von Berlinale Talents (24. bis 31. Januar), der Talentförderinitiative der Berlinale. Zehn ausgewählte Talente aus dem Kurzformbereich – der auch Web-, XR- und VR-Formate beinhaltet – hatten hier schon vor dem Festival online die Möglichkeit, an ihren Stoffen zu feilen, sie miteinander zu diskutieren und unter Mentoring auf die nächste Stufe zu bringen. Während des Festivals stellen sie diese auf dem European Film Market (16. bis 22. Februar) vor. Hier präsentieren sich traditionell auch verschiedene Institutionen und Projekte mit Kurzfilmbezug, darunter auch die AG Kurzfilm.

 

MWANAMKE MAKUENI © Faktura Film, Valeri Aluskina, Daria Belova

 

Nichtsdestotrotz ist und bleibt die wichtigste Heimat des Kurzfilms bei der Berlinale die Sektion Berlinale Shorts, wo sie seit 2007 allein im Rampenlicht stehen. Von 2008 bis 2018 leitete sie Maike Mia-Höhne, die heute die Leitung des Kurzfilm Festival Hamburg innehat. Die Sektion zeigt im Einklang mit der Gesamtberlinale oft politische und künstlerisch anspruchsvolle Filme. Auch 2023 bildet da keine Ausnahme: Das Programm schöpft aus dem vollen Spektrum der Kurzfilmform, vom klassischen Animationfilm, über hybride und essayistische Werke bis hin zu Dokumentar- und Spielfilm. Unter den 20 ausgewählten Beiträgen finden sich auch zwei deutsche Filme: THE WAITING von Volker Schlecht, ein animierter Dokumentarfilm über das Artensterben und Forschung, sowie MWANAMKE MAKUENI von Daria Belova und Valeri Aluskina, der auf fast schon französisch anmutende Manier die Sehnsucht eines Mannes nach seiner in einem kenianischen Frauengefängnis einsitzenden Gattin verhandelt.

Verantwortlich für diese 17. Ausgabe Berlinale Shorts zeichnet Anna Henckel-Donnersmarck, die seit 2019 die kuratorische Leitung innehat. Die klassisch ausgebildete Filmemacherin arbeitet(e) viel im Videoinstallationsbereich, ist in Jurys, Auswahlkommissionen vertreten und moderiert. Warum auf einem Publikumsfestival wie der Berlinale, das vor allem für seine lange Filmform international so bekannt ist, auch der Kurzfilm eine derart prominente Rolle spielt? Darüber und über andere Aspekte der Sektion und des Kurzfilmbetriebs hat Marie Ketzscher für shortfilm.de mit ihr gesprochen.

 

Anna Henckel-Donnersmarck – Leiterin der Berlinale Shorts © Anjula Schaub

 

shortfilm.de: Das ist jetzt deine vierte Ausgabe als Leiterin der Berlinale Shorts. 2020 war noch ein “normales” Jahr, dann folgten zwei COVID-Ausgaben mit vielen Beschränkungen. Wie hat sich die Vorbereitung dieser ersten Nach-Pandemie-Ausgabe gestaltet?

Anna Henckel-Donnersmarck: Vor Kurzem haben wir im Büro unter Kolleg*innen festgestellt, dass die Vorbereitung eigentlich gerade recht smooth läuft, ohne Hektik. Und wir haben uns gefragt, warum das so ist. Bis eine*r sagte: Ja, was soll denn jetzt noch kommen? Und das stimmt ja auch: In den COVID-Jahren haben wir mit so vielen Unsicherheiten ein Festival planen müssen. Und trotzdem was auf die Beine gestellt. Mit der Erfahrung kann man jetzt viel gelassener Probleme angehen. Und auch wir als Sektion haben inzwischen viel mehr Routine nach drei gemeinsamen Ausgaben in unseren neuen Rollen.

shortfilm.de: Was sind für dich die prägenden Merkmale der diesjährigen Shorts-Filmauswahl?

Anna Henckel-Donnersmarck: Die Parallelen sehe ich gar nicht so sehr in den Inhalten oder Themen, sondern in den formalen Aspekten. Und formal fällt auf, dass die Fiktion in reale Kontexte eingebettet wird. Was so weit gehen kann, dass tatsächlich konkrete Orte und Zeiten benannt werden, wie in NUIT BLANCHES, der in der Wahlnacht am 22. April 2022 in Frankreich spielt oder im chinesischen Film WO DE PENG YOU (ALL TOMORROWS PARTIES), der am letzten Tag der Asienspiele 1990 in China ansetzt. Dass die Filmemacher*innen ihre Filme so konkret verorten wollten, das hat mich verblüfft.

 

WO DE PENG YOU (ALL TOMORROWS PARTIES) © Bingchi Pictures

 

shortfilm.de: Glaubst du, dass das ein Trend ist, dass auch das Fiktive unbedingt authentisch sein will? Könnte man vielleicht sogar über eine Entwicklung sprechen, dass es diese Fokussierung auf Authentizität bzw. eine Authentizität medienübergreifend, gesamtgesellschaftlich gibt?

Anna Henckel-Donnersmarck: Ich finde nicht, dass die Filme durch die Einbettung in Realität Authentizitätsanspruch erheben. Das Gegenteil ist der Fall: So entsteht eher Fiktionalisierung. Um bei den zwei genannten Beispielen zu bleiben: Sie sagen beide nicht zu mir: „Guck mal, ich bin echt, weil ich zu dieser Zeit an diesem Ort stattfinde“, sondern: „Guck mal, ich bin eine Fiktion. Und ich benutze einen realen Hintergrund vor dem ich als Fiktion stattfinde“. Es ist sehr interessant, wie sie das umkehren.


shortfilm.de: Was für ein Wort könnte man den benützen, um diese Filmform zu beschreiben? Der Begriff „hybrid“ ist vielleicht schon etwas abgegriffen, aber wäre das eine denkbare Kategorie?

Anna Henckel-Donnersmarck: Hybrid ist für mich eher eine stilistische Kategorie. Davon würde ich also sprechen, wenn jemand beide Mittel – die des Spielfilms und des Dokumentarfilms – verwendet. So wie der australische Film MARUNGKA TJALATJUNU (DIPPED IN BLACK): Der ist gescriptet, aber auch autobiografisch. Inszenierung und dokumentarisch Eingefangenes werden quasi ineinander verwoben. Ein weiterer hybrider Film ist THE WAITING. Der Ton besteht aus einem Interview mit einer Biologin, die Bilder aus unfassbar eleganten Animationen. Es geht um das Artensterben, aber auch um die Frage: Wie funktioniert Forschung eigentlich?

shortfilm.de: Abtreibung, Drogeneskapismus, Balconing sind nur einige Themen, die im Berlinale Shorts-Programm verhandelt werden. Ich empfinde den Jahrgang als sehr düster – vor allem, was die Perspektive junger Menschen angeht. Da schwingt eine latente bis offensichtliche Hoffnungslosigkeit mit. Habt ihr das auch beobachtet?

Anna Henckel-Donnersmarck: Eigentlich nicht. Da gibt es HAPPY DOOM, den tragikomischen LA HERIDA LUMINOSA (DAYDREAMING SO VIVIDLY ABOUT OUR SPANISCH HOLIDAY) oder auch FROM FISH TO MOON, der einen mit einer gewissen Leichtigkeit in diesen Supermarkt-Alltag mitnimmt. IT’S A DATE ist ein Film, bei dem einen erstmal der Thrill packt. Und WO DE PENG YOU (ALL TOMORROWS PARTIES) ist wunderschön. Er trägt einen dann regelrecht durch die Nacht, wenn man aus dem Kino kommt. Insgesamt entstand also beim Sichten der Eindruck: Vielleicht haben wir diesmal ein leichteres Programm als die Vorjahre! Aber vielleicht ist das dann anders, wenn man die Filme in Kombination miteinander schaut? Das Urteil überlasse ich gern dem Zuschauer und der Zuschauerin und freue mich auf die Reaktionen.

shortfilm.de: Die Berlinale ist ein Publikumsfestival, da würde man ja denken, dass Q&As ohnehin einen festen Platz haben. Aber ihr habt eine ganz explizite „Shorts take their time“-Vorstellung programmiert. Was hat es damit auf sich?

Anna Henckel-Donnersmarck: Da die ganze Berlinale eng getaktet ist, müssen wir uns bei unseren Q&As mit den Filmemacher*innen sehr stark nach der Zeit richten und können sie nicht fürs Publikum öffnen. Das ist sehr schade, denn das Tolle an der Berlinale ist ja eben, dass das Publikum sich so stark einbringt. Aus diesem Grund haben wir vor vier Jahren zum ersten Mal das Format „Shorts take their time“ mit Publikumsbeteiligung eingeführt, da kriegen wir ein Kino für zweieinhalb bis drei Stunden. Das Konzept: Nach jedem Film wird so lange miteinander gesprochen, bis es nichts mehr zu sagen gibt. Und dann schaut man erst den nächsten Film an. Die Leute, die dahin gehen, wissen, was sie erwartet, außerdem ist das kleinere Kino hoffentlich schön intim und weniger einschüchternd. Vor vier Jahren hat sich das Screening schnell rumgesprochen und war im Nu ausverkauft. „Shorts take their time“ ist im Grunde eine Win-Win-Situation für alle Seiten. Denn das Format ist auch für die Filmemacher*innen schön, weil sie eine ganz andere Resonanz auf ihren Film bekommen.

shortfilm.de: Ich hatte gesagt, dass ich das Programm eher pessimistisch begreife. Komischerweise sticht da für mich ein Film optimistisch heraus, der das Thema #metoo oder eigentlich allgemeiner: den Male Gaze aufgreift. Und das auf sehr überraschende Art und Weise: OURS. Eine Filmstudentin will aus Material eines Amateurfilmers einen Film machen – und findet neben Naturaufnahmen auch für sie verstörende Bilder auf und von Frauen.

Anna Henckel-Donnersmarck:
Der Film ist deshalb für mich so relevant, weil die Regisseurin Morgane Frund nicht im Aufzeigen des männlichen Blicks und der Empörung darüber stecken bleibt und sich auf der richtigen Seite wähnt, sondern sagt: Das tut jetzt weh, aber ich gehe jetzt in den Dialog und drücke mein Unbehagen aus. Dazu gehört es eben auch, die andere Seite ernst zu nehmen und sich auf sie einzulassen – das ist harte Arbeit! Und wir als Zuschauer*innen haben das Privileg, dieser mühsamen Arbeit beiwohnen zu können. Ich freue mich deswegen auch sehr darauf, OURS mit dem Publikum zu teilen und bin mir sicher, dass die Diskussion, die der Film anstößt, weitergeht. Man könnte also sagen: Der Film ist mit dem Abspann noch lange nicht zu Ende.

 

OURS © HSLU – Morgane Frund, BA Video

 

shortfilm.de: Das Programm erscheint in jedem Fall sehr künstlerisch und experimentell für ein Publikumsfestival. Und auch du bist ja als Künstlerin aktiv, filmisch und installativ. Wie wichtig ist dir dieser Aspekt auch bei deiner Arbeit als Shorts-Leiterin und Kuratorin?

Anna Henckel-Donnersmarck: Wir haben bei der Sichtung keine Agenda. Bei mir persönlich ist der Blick vielleicht durch meine klassische Animationsfilm- und Dokumentarfilmausbildung geprägt, sodass ich streng bin mit der handwerklichen Komponente. Ich freue mich deshalb immer, wenn jemand dieses Handwerk unkonventionell einsetzt. Das ist ja überhaupt auch das Spannende beim Kurzfilm: Dass er so diverse Ästhetiken nutzen und kombinieren kann. Beim Langfilm geht das gar nicht so leicht, weil die Sehgewohnheiten und die Erwartungshaltungen des Publikums viel enger gesteckt sind. Beim Kurzfilm gibt es allerdings auch eingefahrene Sehkonvention. Zum Beispiel wird der Kurzfilm gerne benützt, um zu überprüfen, ob eine Regisseur*in interessant ist, ob man in sie investieren will. Er dient dann als Beleg für ein Potential. Bei Berlinale Shorts geht es hingegen um den Film an sich, wir sehen ihn als eigenständiges Kunstwerk. Wir wissen oft gar nicht besonders viel über die Leute, die ihn gemacht haben.

shortfilm.de:  In den letzten Jahren hat sich viel in Sachen Kurzfilm getan. Ich denke da an den Kurzfilmpreis, der ja der höchstdotierte Preis für einen Kurzfilm in Deutschland ist. Oder an den Kurzfilmtag am 21. Dezember. Hast du den Eindruck, dass solche Entwicklungen für den Kurzfilm einen Wahrnehmungsschub bedeuten?

Anna Henckel-Donnersmarck: Beide Veranstaltungen sind tolle Entwicklungen für die Branche, die Filmemacher*innen und das Publikum – allein, wenn man dann die Deutschlandkarte anschaut und sieht, wie viele und welch unterschiedliche Institutionen, Orte und Initiativen beim Kurzfilmtag mitmachen! Es beteiligen sich wirklich immer mehr Menschen. Meiner Meinung nach gibt es ohnehin ein viel größeres Publikum für den Kurzfilm, als wir überhaupt erahnen. Dieses Publikum weiß nur noch nichts von uns. Das merke ich zum Beispiel beim shorts/salon*** – da sind die Leute immer ganz begeistert und werden schnell zu Stammgästen. Und es würden bestimmt noch weitere Besucher*innen kommen, wenn es mehr Kurzfilm-Veranstaltungen gäbe und die Leute davon Wind bekämen.

 

 

 

 

Das gesamte Berlinale-Shorts-Programm findet sich hier.

 

* Shorts, Communities and Conversations – Kurzfilme und soziale Arbeit: Dienstag, 21. Februar, 10:30 Uhr, Botschaft von Kanada; der Eintritt ist kostenlos – vorherige Online-Anmeldung nötig

** Short Symphonies: Directors’ Scores: Donnerstag, 23. Februar, 14:00 – 15:30 Uhr, HAU3, Karten über den Berlinale-Ticketshop

*** der von Anna Henckel-Donnersmarck und Sarah Schlüssel ins Leben gerufene shorts/salon möchte einen Raum für Dialog, Spielfreude und Gesellschaft bieten, indem er Filmscreenings mit gesellschaftspolitischem Input oder Gespräch verbindet. Passend dazu findet er auch gern einmal an Orten statt, wo man ihn nicht gleich vermutet, zum Beispiel in Bibliotheken. Der Eintritt ist oft frei.