Chemnitzer Filmwerkstatt

Dreharbeiten zu HAMMERTHAL DREI (Olaf Held, 2019) © Chemnitzer Filmwerkstatt

Es kostet nur wenig Mühe, sich über verfügbare Datenbanken die Fakten zu ziehen. Schnell wird man dort erfahren, dass der Chemnitzer Filmwerkstatt e.V. eine medienpädagogische Einrichtung ist, die „den filmischen Nachwuchs fördert. Sitz ist das Clubkino Siegmar, das der Verein 1996 in freier Trägerschaft übernommen hat.“ Was aber steckt hinter der Nüchternheit dieser Zahlen und Worte, was hinter der Idee, die noch viel größer ist und immerhin schon über Jahrzehnte von Chemnitzer Erz-Filmern gelebt wird? Es lohnt, genauer hinzuschauen, am besten vor Ort, wo sich eine ganze Region ernsthaft dafür zu rüsten beginnt, 2025 Europäische Kulturhauptstadt zu werden. Gleich vornweg: Ohne Filmwerkstatt wird es nicht gelingen. Und ohne Film würde dort auch der alltäglichen Moderne etwas fehlen.

Östlicher Stadtrand, fast ländlich. So beschreiben die Betreiber des nun wirklich altehrwürdigen Clubkinos in Chemnitz-Siegmar die Lage ihrer Spielstätte. Das über 100 Jahre alte Haus ist ein Prachtstück für Cineasten, die sich nicht nur für auf- und anregende Filme, sondern zudem für Bausubstanz und Gemütlichkeit interessieren und begeistern können. In normalen, also virusfreien Jahren kommen stabil über 50 000 Besucher ins Zweisaal-Kino mit dem 180 Plätze fassenden Großen Saal als Höhepunkt. Wärme kontert hier den Zeitgeist aus. Die Übernahme des Spielbetriebs in der Zwickauer Straße war für die Chemnitzer Filmwerkstatt also folgerichtig, ein Zeichen von Heimatliebe sowieso.

Geht man die Treppen nach oben, findet sich das, was man „Sitz“ nennt – ein Medienhaus mit Produktions- und Büroräumen, Schnittplätzen. Ein sehr junger Mann weht gerade herein, der ein Praktikum absolvieren will. Hier also geht Geschichte weiter. Ralf Glaser, im 60. Lebensjahr angelangt, registriert es mit einem freundlichen Lächeln. Er war schon dabei, als die Geschichte in den Achtzigern begann. Er und sein Cousin Lutz Zoglauer.

Beide experimentierten als Jugendliche aus lauter Lust und Neugier zunächst mit 8-, dann 16mm-Kameras, fanden im Karl-Marx-Städter Urgestein Horst Viertel einen kundigen Mentor mit privatem Filmstudio samt „Tonumspieleinheit“ und bald einer AK-16-Kamera mit Kassetten.

„Das war etwas ganz Großes“,

erinnert sich Ralf Glaser. Das Interesse, im Medium Film auszureizen, was möglich war, blieb, erst recht, als die beiden Cousins auf Claus Löser trafen. Glaser:

„Claus verkehrte in Künstlerkreisen, kannte die Musiker der AG Geige, viele Maler und Schriftsteller. Lutz und ich aber wollten Filme machen, einfach Filme. Gangsterfilme! Durch Claus kam dann natürlich eine wichtige Bereicherung in unser Leben.“

Filmclub am Theater, subversive Kunst, Off-Kultur, um es genauer zu benennen. Aufmerksam wurden auch die, die von Berufs wegen aufmerksam zu sein hatten. In den Akten des Trios steht wohl Genaueres …

„Blutiger Abend“ hieß 1983 ein erster gemeinsamer Kurzfilm, „Nekrolog“ zwei Jahre später ein nächster. Tarkowski mischte sich mit Hitchcock, Vorbilder mit eigenständigem Wagnis. Film und/oder die Gewerke der Branche an einer Hochschule zu studieren, war für Ralf Glaser und Lutz Zoglauer vordergründig nie das Ziel. Glaser gab mal eine Bewerbung ab, wurde abgelehnt, einen zweiten Versuch ließ er bleiben. Es zählte eher der Wunsch, Gemeinschaft zu leben. Dass sich für beide bis heute in der Filmwerkstatt aus Seitenpfaden Berufswege auftun und ebnen, war und ist ein schöner Nebeneffekt. Löser ging nach Berlin und wurde Regisseur, Filmkritiker, Kinobetreiber, Kurator und Autor, Glaser und Zoglauer blieben bei sich und in Chemnitz. War ja auch ein wenig wie Manchester dort. Manchester? Vielleicht war die englische Stadt ja wirklich die Initialzündung.

Filmer von dort kamen 1992, als sich das politische Blatt längst gewendet hatte, nach Chemnitz, um einen 16mm-Dreiviertelstundenfilm über Arbeitslose zu drehen. In den städtischen Amtsstuben besann man sich auf Namen, die man kannte. Im Jahr zuvor schon hatte sich die Chemnitzer Filmwerkstatt als eingetragener Verein gegründet und blieb konkurrenzlos. In Sachen Manchester-Chemnitz war ein gemeinsamer Workshop die Folge, zu dem auch namhafte Filmschaffende wie Peter Hartwig und Peter Badel als Dozenten anreisten. Nach dem Projekt sollte Schluss sein, doch man hatte auch in der Verwaltung Filmblut geleckt und Potenzen erahnt. Eine Medienwerkstatt sollte vom Jugendamt initiiert werden, Technik wurde angeschafft, als gäbe es wirklich ein Morgen, man schaufelte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen frei, denn es ging im Konkreten um Jugendarbeit, die Sinn macht. Und immer auch ums Potenzial von Menschen und einer Region. Dieser Mix aus sozialer, medienpädagogischer und freier filmkünstlerischer Arbeit formte die Philosophie der Chemnitzer Filmwerkstatt – es ist bis heute eine Erfolgsgeschichte auf jedem dieser drei Gebiete. Und ein viertes kam hinzu, denn der Verein öffnete sich mit seinem Wissen und seiner Logistik auch den Professionellen. Ein Kleeblatt also. Was für ein Glück!

 

Dreharbeiten IM SOMMER SITZEN DIE ALTEN (Beate Kunath, 2009) © Chemnitzer Filmwerkstatt

Zeitig kamen weitere für die Filmwerkstatt prägende Namen hinzu, weil die Menschen dahinter geblieben sind, immer wieder dorthin zurückkehren und sich vor allem vom Herzen her mit Ralf Glaser & Co. verbunden fühlen. Torsten Neundorf und Erik Wiesbaum fürs Team, Beate Kunath, Olaf Held, Carsten Gebhardt mit vielen eigenen Arbeiten sind nur fünf davon. Dass der Kurzfilm dominieren würde, liegt in der Natur des Genres. „Langfilme sind Angeber“, hieß es einst in der Szene. Kurze passen in ihrer handwerklichen und stilistischen Vielfalt ja auch viel besser auf eine gemeinsame Heimkino-Edition. Was sich die Chemnitzer Filmwerkstatt da zum 25. Jubiläum im doppelten Sinne „geleistet“ hat, spricht für sich.

 

Dreharbeiten 20 KARAT FÜR DIE KATZ (Erik Wiesbaum, Undine Roßner, 2012) © Chemnitzer Filmwerkstatt

„Retrospektive Edition 25“ heißt die Doppel-DVD/Blu-ray. 27 Kurzfilme sind darauf enthalten und würde es wirklich noch eines Beweises der immensen Ambition, freigeistigen Ausstrahlung, ästhetischen Qualität und hartnäckigen Kontinuität bedürfen, hier wäre sie! „Die Filmwerkstatt“, schreibt Katrin Küchler, langjährige Ko-Direktorin vom Filmfest Dresden und heutige Redakteurin des MDR-Kurzfilmmagazins Unicato im Begleittext, „ist ein kreatives Atoll für Film- und Videoaffine, ein experimenteller Raum … mit dem engagierten Ansatz und Anspruch, durch Filmverstehen Filme entstehen zu lassen.“ Es ist alles andere als eitle Prahlerei, dass unter vielen der ausgewählten Streifen der Edition die internationalen Festivaleinsätze und Auszeichnungen aufgelistet sind.

 

SHORT FILM (Olaf Held, 2013) © Chemnitzer Filmwerkstatt

Horror, Drama, Thriller, Animation, Dok, Komödie – alles findet sich. Für Olaf Helds „Short Film“ gab es 2013 den Deutschen Kurzfilmpreis. Er ist für alle Beteiligten, und dazu zählen neben Regisseur und Autor Held eben auch die Kameramänner Zoglauer und Glaser, noch immer ein Höhepunkt. Vielleicht auch deshalb, weil sich die Chemnitzer Filmwerkstatt damit gegen die naturgewachsene Übermacht der Filmhochschulen durchsetzen konnte. Dort ist der Output mit Kurzfilmen ja per se ein hoher.

Gerade Olaf Held weiß, was er an und in der Filmwerkstatt hat: kreative Räume und Räume schlechthin, Cliquen und Freundeskreise, die „man immer wieder ansprechen und begeistern kann“. Mit ihnen drehte er weitere Kurzfilme wie „Duell in Griesbach“ (2005) und „Vatertag“ (2009), „Daheim“ (2011) und „Apollo 11 ½“ (2015), natürlich die skurrile Heimat-Kult-Kurz-Trilogie „Hammerthal“ (2015 bis 2019). Sein neuester Kurzfilm mit dem Titel „Seltsam, Ohio“ befindet sich in Postproduktion.

 

Dreharbeiten SELTSAM, OHIO (Olaf Held, 2022 – in Postproduktion) © Chemnitzer Filmwerkstatt

Über zwei Dutzend Frauen und Männer lang ist die Liste, die Ralf Glaser für die Recherche zusammenstellte, um zu benennen, wer in über 30 Jahren durch die Filmwerkstatt gegangen ist und heute deutschlandweit und professionell die Brötchen mit Film verdient, sei es in Schnitt, Ton, Produktion, Herstellungsleitung, an der Kamera oder als Regisseur und Regisseurin. Hunderte werden es hingegen sein, die in den Jahren einfach ihrer Freizeit einen Sinn gegeben haben.

Immer wieder fällt die Chemnitzer Filmwerkstatt als Synonym für eine Zelle der Kreativen. Bei Josefin Kuschela, die es als Kamerafrau sprichwörtlich in die Welt zog. Oder bei Benjamin Agsten, der gerade final an seinem Winter gedrehten Sechsminüter „Wiped Out“ arbeitet. Beate Kunath hat jüngst ihren dokumentarischen Langfilm „Abschied und Ankunft“ über Stefan und Inge Heym durchs Land geschickt. Jan Soldat, Jahrgang 1984, einer der Eigenwilligsten und Mutigsten, war mit neuem Material beim 2022er Filmfest Dresden dabei und wurde mit seinem brandaktuellen Kurzfilm „Staging Death“ nach Cannes ‘22 eingeladen und startete dort in der begehrten Sektion Quinzaine des Réalisateurs. Klaus-Gregor Eichhorn, Schöpfer unter anderem von Kurzfilmen wie „Stimmen“ und „Die Prüfung“, aber auch Regisseur und Autor von zwei langen Streifen („Drei Patienten“ und „Splitter“) hat immer wieder neue filmische Eingebungen, obwohl er seit 2017 Facharzt für Anästhesiologie ist. In die Filmwerkstatt kam er, da war er zwölf.

 

Workshop für Kinder und Jugendliche © Chemnitzer Filmwerkstatt

Aktuell warten fünf fertige Kurze auf ihre Premiere: „Phoebe“ (Kai Junge), „Minuten“ (Carl Lehmann), „Karl“ (David N. Koch), „Vakuum“ (Jonas Erler) sowie „Open Doors“ (Becky Hellwig/Eden Nafres). An sechs weiteren Arbeiten wird final gewerkelt. Neudeutsch muss man also sagen, dass die Chemnitzer Filmwerkstatt einen „flow“ besitzt. Nirgends ist ein Bruch zu erkennen, so als würden sie sich dort aus sich selbst heraus regenerieren und als würden vor allem auch die Jugendlichen noch immer ziemlich sicher erkennen, was sie im Siegmarer Medienhaus finden können. Torsten Neundorf benennt es so: „Wenn sie die fertigen Filme zeigen, wollen es manchmal Profis kaum glauben, dass hier alles von den Jugendlichen selbst bewerkstelligt wurden. Ein besseres Kompliment gibt es nicht. Wir waren, glaube ich, immer sehr gut darin, die jungen Menschen nicht zu beeinflussen, sondern nur zu stützen. Ansprechbar waren wir stets. Wir sind produktorientiert, keine reine Bespaßung. Es muss ein Film dabei herauskommen.“

Für ihre herausragende Jugendarbeit erhielt die Chemnitzer Filmwerkstatt 2021 den „Defa-Stiftungspreis für junges Kino“ und den Medienpädagogischen Preis der Sächsischen Landesmedienanstalt für die vierteilige Kurzvideoserie „Die NSU im Heckert-Gebiet“ als Projekt von jungen Menschen zwischen 16 und 26 Jahren.

Filmfreundschaftsgemeinschaft – hätten sie sich nicht selbst diesen Namen gegeben, man müsste sie der Chemnitzer Filmwerkstatt verleihen. Die Tore dort sind offen und die Visiere sowieso.

 

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