Anne Isensee

Von Megatricks, Rotwein und der Kunst kunstloser Kommentare

 

MEGATRICK von Anne Isensee @ Isensee / Der KurzfilmVerleih Hamburg

 

Anne Isensee kommt gern direkt auf den Punkt. In ihren Arbeiten, aber auch im Gespräch. Mit ihren teils sehr kurzen Filmen ist die in Berlin lebende Animationskünstlerin seit Jahren erfolgreich auf vielen Festivals präsent. 2017 gelang ihr mit dem nur 101 Sekunden langen Film „Megatrick“ (2017) ein beeindruckender Start, als der Film bei DOK Leipzig die Goldene Taube als bester Deutscher Kurzfilm gewann.

Dabei war „Megatrick“, der in einem Animationsworkshop von Gil Alkabetz an der Filmuniversität Babelsberg entstand, eigentlich eher als Fingerübung gedacht. Geprobt wurde die assoziative Ideenfindungen und die kreative Arbeit unter Zeitdruck. Eine Woche Produktionszeit für einen animierten Kurzfilm – da hilft es, wenn man nicht allzu lange hadert, sondern schnell auf den Punkt kommt. Anne Isensee nahm die Herausforderung an und entwickelte ein filmisches Kleinod, in dem sie mit trockenem Humor die stromlinienförmige Lifestyle-Optimierung als feige und schlicht langweilig entlarvt.

Mit einer einfachen, aber bestechend gelungenen Strichanimation, ihrem selbst gesprochenen, beiläufig lässigen Kommentar und einer von anderen Teilnehmer*innen des Workshops komponierten Filmmusik schafft „Megatrick“ in kürzester Zeit mehr als mancher Langfilm. Der Film überrascht und amüsiert, regt aber trotzdem auch zum Nachdenken an. Diese Mischung machte ihn zum Festivalliebling, der bis heute viel über verschiedene Kurzfilmverleihe gebucht wird. Sogar in der Filmvermittlung wurde „Megatrick“ schon erfolgreich eingesetzt. Kein Wunder, die Frage, wie man die eigenen Träume verwirklicht, kann für Jugendliche schon mal ganz interessant sein. Das extra für den Film erstellte Bildungsmaterial kann man sich online anschauen – genauso wie den Film selbst.

Hier kann man Megatrick online anschauen

 

Anne Isensee freut sich darüber, dass aus einem studentischen Experiment ein Film wurde, dessen Humor auch grenzüberschreitend wirkt. Nicht zuletzt deshalb, weil Humor bei ihr eine zentrale Position einnimmt – im Film wie im Leben. Einen ausschließlich ernsten Film zu machen, das würde ihr wahrscheinlich gar nicht gelingen, sagt sie im Gespräch. Ein Drama oder ein spannender Thriller, das wäre wirklich eine Herausforderung. Doch obwohl sie Herausforderungen liebt, auf Humor will sie trotzdem erstmal nicht verzichten.

„Meine Grundstimmung ist so eine Art Galgenhumor. Selbst wenn ich selbst mal düster bin, kann ich gar nicht anders, als das selbst sarkastisch oder ironisch oder manchmal auch ein bisschen zynisch aufzuheben. Ich will einfach nichts Tragisches auf eine tragische Art erzählen, sondern die Dinge und Geschichten immer mit so einem kleinen humorvollen Dreh bearbeiten.“

Sie ist auch im wirklichen Leben gern diejenige, die in schwierigen oder traurigen Situationen „das Licht anknipst“ und ein bisschen lüftet… Das passt zu der klaren und positiven Haltung, mit der Anne Isensee dem Leben begegnet. Wo andere Schwierigkeiten sehen, sieht sie die Chance, mal neue Wege zu gehen und etwas dazu zu lernen. Diese Offenheit für Neues und die Freude am bisher Unbekannten hilft, sich mit jedem Film ein Stück weit neu zu erfinden.

Nach „Megatrick“, mit dem sie mehr als ein Jahr lang auf Festivals unterwegs war, wirkte sie bei der Produktion des animierten Dokumentarfilms „Tracing Addai“ (2018) in den Bereichen Animation und Layout mit. Der Animadok-Film der Regie-Studierenden Esther Niemeier wurde für die Emmy Awards nominiert und konkurrierte im Finale der Studierenden-Oscars. Er kombiniert Archivaufnahmen mit dokumentarischem Material und nachgedrehten Szenen, die aufwändig von Hand animiert wurden, um die wahre Geschichte eines jungen Berliners zu erzählen, der mit 20 Jahren nach Syrien ging und dort umkam.

Tracing Addai ist hier zu sehen

 

 

Im folgenden Jahr veröffentlichte Anne Isensee mit „Ich will“ (2019) ihren nächsten eigenen Film, der sich so gar nicht nach der in „Megatrick“ angesprochenen „geraden Linie“ anhört. „Ich will“ ist ein schwindelerregender Trip, getragen durch Beats und Rhythmus, getaucht in Farben und mit einem ähnlich starken, aber dennoch von einer anderen Dynamik getragenen Kommentar und wurde schließlich fast ebenso erfolgreich wie sein Vorgänger.

Hier kann man „Ich will“ online anschauen

 

 

Der dem Film zugrunde liegende Text changiert zwischen Gedicht und Songtext und feiert die weibliche Selbstbestimmung – lustvoll, fröhlich und laut. Anne Isensee spricht ihren Text selbst, oder genauer gesagt: sie flüstert, ruft und schreit. Ohne Zweifel ist der Film geprägt durch die Erfahrungen und Ergebnisse, die sie während ihrer Bachelorarbeit über weibliche Heldenfiguren in Animationsfilmen sammelte. Nach der Sichtung unzähliger historischer und aktueller Animationsfilme war klar, dass bis heute der überwiegende Teil der Animationsfilmheldinnen in veralteten weiblichen Klischees stecken geblieben ist. Während die männlichen Helden stark, durchsetzungsfähig und zielgerichtet „gezeichnet“ werden, bedienen sich die weiblichen Identifikationsfiguren eher im Fundus der typischen Hausfrauentugenden, sind zurückhaltend, geduldig und setzen sich aufopferungsvoll für andere ein. Bis heute scheint es im Animationsfilm zum guten Ton zu gehören, dass die weiblichen Figuren die eigenen Bedürfnisse zurückstellen und im letzten Jahrhundert festzustecken scheinen.

Binäre Kategorien und veraltete gesellschaftliche Zuschreibung werden weitergegeben an alle, die diese Filme schauen, seien es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. „Ich will“ begehrt gegen genau diese veralteten Sichtweisen auf und setzt den Klischees eine starke weibliche Figur entgegen, die ganz da ist und einfach bei dem bleibt, was sie selbst will, statt vorschnell Kompromisse einzugehen.

Die bewusst abstrakte Animation der Frauenfigur soll einem möglichst großen Kreis von Menschen die Identifikation ermöglichen und die teils „übersteuerten“ Aussagen gehören ebenso zum Konzept wie die kraftvolle und tempogeladene Sprechweise. „Ich will“ wirkt wie ein Empowerment-Shot – schnell, stark, laut, gut. Damit hat der Film viele Menschen begeistert und wird von manchen schon als kleines feministisches Manifest verstanden. In einem sehr lesenswerten Interview betont Anne, dass ihr Sendungsbewusstsein ziemlich fremd ist und sie sich eher als praktische Feministin denn als Aktivistin sieht. Sie betont auch, wie wichtig es ist, Feminismus nicht losgelöst von intersektionalen Beschränkungen zu diskutieren und kommt in diesem Zusammenhang auch selbstkritisch darauf zu sprechen, dass es einen Punkt gibt, der bei „Ich will“, möglicherweise ein Stück zu kurz gekommen ist. Heute würde sie den Momenten mehr Platz einräumen, in denen Menschen es nicht in der Hand haben, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Momente, in denen „man das Spiel auch mal verliert“, wie sie am Ende des Films bemerkt. Auch wenn diese Situation ihr während der Filmproduktion sehr fern vorkam, weil sie sich stark und unangreifbar fühlte, wäre es nicht verkehrt gewesen, auch die andere Seite sichtbarer zu machen. Der Soundscape zu „Ich will“ stammt übrigens von der Berliner DJ Sarah Farina, die für den Film auch als Producerin verantwortlich war und dem Sounddesigner und Komponisten Artur Sommerfeld, mit dem Isensee auch für ihren neuesten Film „Yay“ (2021) zusammenarbeitete. Aber davon später mehr.

Zunächst zu dem Kurzfilm mit dem wohl längsten Titel in ihrer Filmographie: „Dieser Film heißt aus rechtlichen Gründen Breaking Bert“, veröffentlicht im Corona-Jahr 2020, aber schon im Sommer 2018 begonnen. Am Anfang dieses Projekts stand tatsächlich der wunderbar mehrdeutige Titel, um den herum sich schließlich der Film entwickelte.

Eine luftig gezeichnete Strichfigur reinigt ihre Wohnung und findet dabei zufällig ein Buch mit Gedichten Bertolt Brechts. Die Botschaft ist deutlich: Wer sich nicht für eine Sache engagiert, der spielt der Gegenseite in die Hände. Dieser Aufruf, Haltung zu zeigen, bringt die Figur dazu, sich direkt ans Publikum zu wenden: sie fühlt sich ertappt und sucht nach einem Ausweg aus der Agonie, doch ihre drei groß angekündigten Reaktionen entpuppen sich lediglich als Varianten des Nichtstuns. Schließlich tritt die Figur (der Anne Isensee ihre – diesmal technisch hochgepitchte – Stimme leiht) aus der Szene heraus und beginnt, ihre Wohnung, die dadurch als Theaterkulisse enttarnt wird, zu drehen. Nicht nur in diesem Moment wird die Brecht’sche Idee des dialektischen Theaters aufgenommen, das sein Publikum nicht (emotional) fesseln will, sondern ganz im Gegenteil immer wieder damit arbeitet, die Schauspieler*innen aus ihrer Rolle heraustreten zu lassen, um die Inszenierung als solche sichtbar zu machen. Für Brecht, der jede Form des positionslosen l’art pour l’art verachtete, war Theater (ebenso wie Film) Werkzeug der politischen Bewusstwerdung. Indem Anne Isensee genau diese Idee ironisch bricht, schafft sie einen vielschichtigen Kurzfilm, der auch beim zweiten und dritten Sehen immer wieder neue Entdeckungen bereithält.

Den Trailer von „Dieser Film heißt aus rechtlichen Gründen Breaking Bert“ könnt ihr hier sehen

 

 

Ganz folgerichtig gibt es zu „Dieser Film heißt aus rechtlichen Gründen Breaking Bert“ die unterschiedlichsten Interpretationen. Die Veröffentlichung des Films mitten in der Corona-Krise hatte zur Folge, der er oft „mit der Pandemie-Brille gelesen“ wurde. Tatsächlich erinnert allein das kammerspielartige Setting und die aus China „importierten“ Hintergründe an die eingeengten Lebenssituationen im Lockdown und den Ursprungsort des Virus. Diese Interpretationsschiene wird noch gestützt durch den Titel des zitierten Brecht‘schen Gedichts: „Wer zu Hause bleibt“, so dass sich viele Interpret*innen sicher waren, all diese Hinweise könnten kein Zufall sein…

Es sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich erwähnt: Doch, durchaus. Zufälle passieren. Und es ist wirklich erstaunlich, wie stark ein Film durch veränderte Kontexte und neue Entwicklungen neue Lesarten begünstigen kann. Dieses unerwartete „framing“ nahm Anne Isensee im Herbst 2020, als der Film bei DOK Leipzig Premiere feierte, zum Anlass, den Entstehungskontext noch einmal zu verdeutlichen. Und so sehr es danach aussehen mag – es geht eben nicht um die erzwungene Isolation während einer Pandemie, sondern um die nicht minder aktuelle Frage, was eigentlich passieren muss, damit man ausbricht aus dem eigenen Alltag und der bequemen analytischen Zurückhaltung. Und natürlich – ganz nebenbei – auch darum, das Brecht’sche Theaterkonzept in Form eines Animationsfilms kritisch zu beleuchten.

Obwohl sie nicht intendiert waren, kann Anne Isensee gut mit den verschiedensten Interpretationsansätzen leben, besonders dann, wenn sie ihr die Möglichkeit zum Gespräch eröffnen. Manchmal, so sagt sie, werde ihr sogar erst im Gespräch bewusst, welche diversen Interpretationsmöglichkeiten diese oder jene Setzung oder Filmszene mit sich bringt. Den Austausch darüber empfindet sie als ausgesprochen hilfreich, denn es komme gar nicht so selten vor dass „mir plötzlich andere Menschen meine eigenen Ideen erklären“ und sie so gemeinsam ein Stück weiter kommen als alleine.

Generell genießt Anne Isensee die Freiheit, selbst entscheiden, ob sie ein Projekt solo oder im Team verwirklichen möchte. Im ersten Corona-Lockdown 2020 entstand mit „1 Flasche Wein“ ein kleiner, solo produzierter Konzeptfilm, dessen Titel sehr anschaulich macht, in welche Gefühlswirren einen die Isolation (und eine nicht unerhebliche Menge Rotwein) stürzen kann.

Hier kann man „1 Flasche Wein“ schauen

 

Für ihren vorerst letzten Film „YAY“ (2021) wählte sie schließlich ganz bewusst eine andere Herangehensweise. Die dialogfreie, bunte und formenreiche Animation entstand während ihres Fulbright Stipendiums an der School of Visual Arts in New York, das ebenfalls stark durch die Pandemie geprägt war. Als all die internationalen Studierenden auf ihre Remote-Arbeitsplätze zurückgeworfen waren, entschied sich Anne Isensee ganz bewusst, die Isolation durch eine Kollaboration mit ihren Kommiliton*innen zu durchbrechen. Die Animationen, die ein wenig an klassische Cartoons und Talus Taylors Barbapapas erinnern, entwickelte sie gemeinsam mit Studierenden aus Südkorea, USA, Brasilien und Australien. Der Impact dieser internationalen Kollaboration prägte auch die Story des Films, die ohne Worte davon erzählt, wie man durch Zusammenarbeit und Kooperation andere Ebenen erreichen kann. In anderer Hinsicht betritt Isensee mit „YAY“ auch erzählerisch neue Wege, denn der Film unterscheidet sich durch den kompletten Verzicht auf Sprache schon sehr von ihren bisherigen Arbeiten, die besonders durch ihren Kommentar geprägt waren.

Hier kann man sich den Trailer von „Yay“ anschauen

 

 

In ihrem aktuellsten Projekt wendet Anne Isensee sich ganz bewusst wieder stärker der Sprache im Film zu. Genauer gesagt, der Frage, wie Animationsfilme auch von blinden oder sehbehinderten Menschen rezipiert werden können. Der Kurzfilm „Intro“ (AT) bildet das Zentrum des Gesamtprojekts „Cinaesthesie. Translating Animation“, in dem sie sich gemeinsam mit zwei Geisteswissenschaftler*innen Frage widmet, wie man Animationsfilme auch für Menschen mit einer Sehbehinderung wahrnehmbar machen kann. Indem sie eine Audiodeskription nicht nachträglich hinzufügen lässt, sondern von Beginn an mitdenkt, eröffnet sie neue Kanäle zur Wahrnehmung – und lernt bei diesem Projekt selbst von Tag zu Tag dazu. Ihre neuen Erkenntnisse (aber auch die Fehlschlüsse) werden auf einem begleitenden Blog aufgearbeitet. Letztlich geht es um mehr als um die Herstellung inklusiver Filmfassungen. Es geht um die Frage, wie wir (Animations-)filme wahrnehmen, und ob es nicht längst an der Zeit wäre, Alternativen zu den erprobten Methoden zu entwickeln.

Hier entsteht der Blog zum Projekt „Translating Animation“

https://translating-animation.com/

 

Gesucht wird: ein Animationsfilm, der auch Menschen, die in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt sind, mitnimmt, aber dennoch dem Publikum auch Freiräume lässt, damit man sich selbst mit dem Film verbinden und anknüpfen kann. Oder – um Anne Isensee das letzte Wort zu geben:

„Ich finde Filme gefährlich, die so eineindeutig und völlig geschlossen sind und suggerieren, die eine Wahrheit gefunden zu haben. Ich bin froh über Graubereiche und Interpretations- und Assoziationsspielräume und fest entschlossen, diese Freiräume auch zu verteidigen.“