Adrian Figueroa

Szenisches im Dokumentarischen

PROLL! © Jakob Reinhardt

Für den kurzen Film mit dem auffallenden Titel PROLL! erhält der Filmemacher Adrian Figueroa im November 2021 den Deutschen Kurzfilmpreis[1]: ein goldenes, sich spiralig hochschraubendes Metallband auf einem Sockel, etwa so hoch wie eine Champagnerflasche. Glückwunsch!

 

Adrian Figueroa kommt vom Theater. Aufgewachsen in Frankfurt am Main hat er in England drama studies und applied theatre studiert, in einer ebenso theoretisch wie praktisch orientierten Ausbildung. Die englische Theatertradition, so erzählt er im Gespräch, sei stärker autoren- und schauspielbasiert, und der Fokus liege vielfach auf dem community theatre, mit dem sich der soziale Anspruch des Theaters immer wieder von neuem legitimiert. Theater erzeuge einen kollektiven Raum, keine Katharsis-Schleuder, sondern einen welterweiternden Ort, in aller Komplexität.

 

Figueroa gehört zum Netzwerk der Akademie der Autodidakten in Berlin, diesem aufsehenerregenden Labor postmigrantischer Kultur, das 2007 am Ballhaus Naunynstrasse gegründet wurde und wirkmächtige Standards für die Kulturelle Bildung setzte. Mit Theresa Henning war Figueroa ‚Spielleiter’ für das Theaterstück ONE DAY I WENT TO *IDL (2016) nach dem gleichnamigen Song des Rappers Afrikan Boy / Ojushola Ajose aus Nigeria. Die meisten der 13 (Mit)Spielenden zwischen 21 und 29 Jahren hatten selbst Flucht-Erfahrung. Afrikan Boy fand es naheliegend, den Song im Theater „in 3D“ zu spielen.

Das nächste Stück STRESS (2017) basierte auf Interviews mit Inhaftierten der Jugendstrafanstalt Berlin. Die Dramatisierung besorgten Figueroa und der Dramaturg, Kurator und Autor Tunçay Kulaoğlu. Aus der Figur des Hooligans für das Stück HOOL (inszeniert 2018 am Jungen DT (Deutschen Theater) nach dem Roman von Philipp Winkler) entwickelte Figueroa acht verschiedene spielende Personen und setzte weniger auf Adrenalin, sondern eher auf ruhige Monologe und stille Momente, so beschreibt es eine Kritik[2].

 

Über das Dokumentartheater kam Figueroa, der nie eine Filmschule besucht hatte, zum Film. Seine erste filmische Arbeit, eine begleitende Dokumentation, widmete sich dem Stück DIE LÜCKE (2015) des Theater- und Filmregisseurs Nuran David Calis über den Nagelbombenanschlag des NSU in der Kölner Keupstrasse im Juni 2006. Über Porträts und Bühnengespräche gewinnen die von der medialen Öffentlichkeit nahezu ignorierten Angehörigen der vom NSU Ermordeten ihre autonome Stimme zurück.

 

Im Lauf der Zeit experimentiert Figueroa in seinen Inszenierungen zunehmend mit audiovisuellen Mitteln, mit Projektionen, und lotet die Möglichkeiten medialer Überlagerungen aus. Oft arbeitet er mit Tunçay Kulaoğlu zusammen, ebenso mit seinem Bruder Philipp Figueroa und dem Musiker Miguel Toro. In AURORA, dem 2019 am HAU (Hebbel am Ufer) aufgeführten Theaterstück über das komplizierte Geflecht von Drogen-User*innen, Co-Abhängigen, den dabei hilflos Helfenden und den ebenfalls verstrickten Therapeut*innen entsteht mit projizierten Video-Dropout-Streifen, einander überlagernden Kuben und Zellen und sich verschiebenden Größenverhältnissen ein verstörend attraktiver halluzinativer Raum. Die Verschränkung von zeitbasierten Medien mit dem Bühnengeschehen wird auf signifikante Weise psychedelisch und exzessiv ausgeweitet.

 

ANDERSWO © Graz Diez

 

ANDERSWO / ELSEWHERE (2017), der erste Film Figueroas in einer geschlosseneren Form, entwickelte er aus seiner langjährigen Erfahrung mit Knast-Theaterprojekten. Fünf Insassen der JVA Tegel werden gerade nicht als Träger ihrer Delinquenz gezeichnet. Der Film zeigt zu Beginn die Agierenden porträthaft frontal vor hellem Hintergrund, das Licht ist grell und das Bild so lange gehalten, dass sich der Blick umdrehen könnte und die gefilmten Personen die Zeit haben, uns ruhig in unser Zuschauer*innen-Gesicht zu blicken. Erst dann sprechen sie aus dem off, später auch im on. Gleich zu Anfang wird so die Realitäts-Rezeption in eine retardierende Schleife geschickt. Der Film präsentiert Inszenierungen der Wunschbilder seiner weggesperrten Helden: Als Astronaut im Zellentrakt, bei Sonnenuntergang entspannt mit Shisha und Rüschenhemd, im Hintergrund die Istanbuler Bosporusbrücke, in einer Tiefgarage ein Salto rückwärts mit Hasskappe – es sind Tableaus, die die reality-Fiktionen durchlässig machen. In den gemeinsam erarbeiteten Texten liegt der Fokus nicht auf den Taten der Gefangenen, sie lassen ihnen den Raum, auch erfundene Geschichten zu erzählen, ohne ins Sensationalistische zu verfallen, so Figueroa. Lange Kamerafahrten evozieren den Kontroll-Blick auf die Zellenreihen. Gedreht wurde in einem leerstehenden Trakt der JVA, dessen Fensterhöhe nicht mehr den Regularien der Gefängnis-Administration entsprach, die Beteiligten haben ihre jeweilige ‚Zellenausstattung’ selbst entworfen und sich mit der Veröffentlichung ihrer Porträts einverstanden erklärt.

 

Bei einem Screening des Films DIE LÜCKE in der Kulturakademie Tarabya in Istanbul lernte Figueroa den Bürgerrechtsaktivisten und Mäzen Osman Kavala kennen, eine eindrucksvolle Persönlichkeit, die für zivilgesellschaftlichen kulturellen Austausch und fortwährenden Dialog steht. Am 1. November 2017 wurde Kavala von den türkischen Behörden verhaftet. In dieser Zeit hatte sich die politische Lage in der Türkei in der Nachfolge des Putschversuchs 2016 deutlich verschärft. Das Verfassungsreferendum von 2017 und die Einführung des Präsidialsystems gingen einher mit zunehmender Kriminalisierung jeglicher Opposition. Der Einfluss der Exekutive auf die Judikative eskalierte. Die Staatsanwälte warfen Kavala vor, hinter den Gezi-Park-Protesten zu stehen, im Februar 2020 wurde Kavala zwar von dieser Anklage freigesprochen, doch am selben Tag beschuldigt, am Putschversuch von 2016 beteiligt gewesen zu sein. Seit nunmehr über vier Jahren ist Osman Kavala nun im Hochsicherheitsgefängnis Silivri westlich von Istanbul inhaftiert. Es wurde 2008 als größte Haftanstalt Europas eröffnet, über 10 000 Menschen werden dort gefangen gehalten. Photovoltaikanlage, Solarzellen, Krankenhaus, 500 Bedienstete, eine Moschee, zwei Hochsicherheitstrakte, mehrere Gerichtssäle. Der inzwischen im Exil lebende Journalist und Filmemacher Can Dündar nennt es ein Internierungslager.

 

LETTERS FROM SILIVRI © Graz Diez

 

Der Film LETTERS FROM SILIVRI (2020) entstand in Zusammenarbeit mit der Produzentin Çiğdem Mater und mit Tunçay Kulaoğlu als Dramaturg. In sechs 360-Grad-Drehungen um die eigene Achse erschließt die Kamera[3] wie eine sich unmerklich verändernde Spirale die Weite des städtischen Raums an der Peripherie der Großstadt in extremer Zeitlupe. In der Ferne staffeln sich Hochhäuser als dicht bebauter Ring am Horizont. Baukräne und neu gepflanzte kleine Bäume, Stichstraßen und Betonplateaus schildern diese Gegend des städtebaulichen Übergangs. Esenyurt, die ‚boomende Vorstadt’ Istanbuls, hat eine lange Geschichte mit einwandernden communities, inzwischen wird hier rasant gentrifiziert. Im zweiten der sechs Schwenks füllt sich das Bild mit Passanten, Anwohnern. Ein paar Männer sitzen auf Schemeln am Straßenrand und unterhalten sich. Einige hacken den kargen Boden. Kinder spielen, ein Hochzeitspaar steht vor der Neubaukulisse, ein paar Blätter schweben vom Himmel. In verdichtender Animation wirkt die Stadtlandschaft zunehmend verbaut. Ein paar Tauben fliegen in exaltierter Langsamkeit durchs Bild. Am Horizont sitzt hinter einigen modernistischen Flachbauten eine riesige Moschee. Neben dem Schaufelbagger dreht sich eine junge Frau mit weit wehendem Rock. Geräusche spielender Kinder. Ein junger Mann hält ein Luftgewehr in den Himmel. Daneben tanzende Männer mit weit ausgebreiteten Armen. Die Kamera dreht sich nun zusätzlich kopfüber und durchmisst Rauchschwaden, Nebelschwaden – oder sind es Tränengasschwaden? Eingefroren erstarrt stehen Statisten, andere bewegen sich in unwirklicher Slowmotion wie eine Gruppe fröhlicher Kinder, während im off aus privaten Briefen und offiziellen Erklärungen von Osman Kavala entlang der Chronologie seiner nunmehr 4-jährigen Gefangenschaft zitiert wird. Sprecher ist der Schauspieler Mustafa Avkıran:

„Zwischen Lesen, Notizen machen, Spazierengehen, Wäsche waschen und Putzen vergeht die Zeit. … Inzwischen sind es sechs Monate in Untersuchungshaft. Wir warten auf die Anklageschrift. … Monate meines Lebens gehen verloren. Noch immer warte ich auf die Anklageschrift. Bis heute wurde ich von keinem Staatsanwalt vernommen. Anträge auf meine Freilassung aus dem Gefängnis wurden 19-mal abgelehnt, ohne dass ich nur ein einziges Mal angehört wurde.“ –

“Ich vermisse es, die Erde, die Bäume, die Pflanzen zu berühren“

ist der letzte Satz. Bevor der Schwenk und der Film enden, sehen wir Menschen in die Weite der Stadt blicken, ein einfaches Sehnsuchtsbild als Echoraum für diese Erzählungen von Gefangenschaft. Stimme und Bild sind grundsätzlich getrennt, Stillstand und verlangsamte Bewegung könnten Bilder für die Konstitution einer angegriffenen Gesellschaft sein. Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Inhaftierung von Osman Kavala verurteilt und seine Freilassung verfügt. Obwohl die türkische Verfassung dieses Gerichtsurteil als bindend festgeschrieben hat, will der Staatschef das Urteil nicht anerkennen.

 

2019/2020 plante Adrian Figueroa ursprünglich ein Dokumentartheaterprojekt über den arbeitsrechtlichen Wildwuchs der ‚geringfügigen Beschäftigungen’ für das Berliner HAU (Hebbel am Ufer). Dem sollte eine ausführliche Recherche vorausgehen. Die Pandemie hatte wie ein Brennglas die Verhältnisse verschärft, der erste Lockdown ließ die Recherche jedoch 2020 bald scheitern.

So entstand der Film PROLL! (2020) als Produktion des HAU. Der Anfang wirkt wie ein Krimi: Nacht, Scheinwerferlicht auf einem Feldweg, ein Auto hält an, Fahrer und Beifahrer agieren wortlos, sie wissen, was zu tun ist. Der Fahrer geht im Licht der blendenden Autolampen auf uns zu, dann zerrt er ein Objekt, undeutlich als ein totes Schaf erkennbar, auf den Seitenstreifen, die beiden steigen ein, fahren weg. Die Soundscape lädt die nächtlich-nebulöse Aktion auf. Der Filmtitel PROLL! erscheint, grellgelb aufleuchtend in einer versachlichten Groteskschrift mit Ausrufezeichen[4]. Ein Kampfbegriff, der zwischen Proletarier und Prolet, zwischen Stolz und Diffamierung schillert, ein Schlagwort, das direkt in das Feld der Klassenfragen führt. Als Kurzform für Prolet oder Proletarier meint es laut Adrian Figueroa auch ein anachronistisches Konglomerat vieler universalistischer Annahmen. Sie greifen in der heutigen Arbeitsgesellschaft so gar nicht mehr, also ist es vor allem auch ein Filmtitel, der nicht beschwichtigend zusammenfasst, sondern Reibung und möglicherweise Widerspruch erweckt.

Realistische Arbeits- und Alltagsgeräusche. Der Verkauf eines Kleinbusses, mit nicht ganz zuverlässigem Keilriemen. Eine Frau schläft. Ein Handywecker klingelt. Die Kamera folgt Arbeitsabläufen und zeigt deren Umgebungen. Eine Klickarbeiterin, ein subsubsub-unternommener Paket-Transporteur und die Angestellten einer kleinen Kartonfabrik, die demnächst schließen wird. Wohnblocks, Treppenhäuser, Lagerhallen. Was der Film aber vor allem so spürbar mitteilt, ist der hautnahe Stress, der sich mit diesen Beschäftigungen in den Körpern ablagert, das Balancieren eines Alltags unter Bedingungen, die sowieso schon falsch sind. Ausgehöhlt. Bilder einer Schafherde auf Leibhöhe, die gelegentlich unvermittelt auftauchen, verstärken den Eindruck des Ausgeliefertseins, ohne sich als Metapher engführen zu lassen.

PROLL! nach dem Drehbuch von Maike Wetzel wurde über zwei Monate geplant, akribisch aufgelöst, so dass die Schnittzeit am Bildmaterial eineinhalb Wochen betrug, erst dann kam die Soundgestaltung.

 

DEAR OSMAN © Adrian Figueroa / Ersin Gök

Ein Perspektivwechsel. Figueroas zuletzt fertiggestellter Film DEAR OSMAN (2022) zitiert nun aus Briefen von Angehörigen und Unterstützer*innen an Osman Kavala in das Gefängnis hinein, in dem er seit November 2017 sitzt. Diesmal durchfliegt die Kamera im geschmeidigen Gimbal-Modus eine Wohnung, in der drei Generationen leben. Wehende Vorhänge, durch deren Gewebestruktur das Licht von draußen fällt. Leise ist der Autoverkehr von draußen zu hören. Vogelkäfig, Sitzgarnitur, wir blicken durch eine halb geöffnete Tür, ein Mann sitzt entspannt in einem Sessel, ihm gegenüber, ein rauschender Flatscreen. CD-Cover im Regal, ein Goldfischglas, ein dickes Taschenbuch über Hrant Dink[5], Nâzim Hikmet, The Armenian Genozide. In einem verdunkelten Zimmer schläft eine Frau auf einer Matratze, Alltagsszenen aus dem Leben einer bürgerlichen Familie, zugleich befangen in einem eigentümlichen Stillstand.

„Sie wissen sehr genau, dass dich dort zu halten uns alle verletzt“,

heißt es in einem Brief an Kavala,

„aber sie wissen nicht, dass wir wie Regen strömen werden, der durch die Wände drückt, Osman Bey[6], und was immer dafür nötig ist, wir werden dich immer erreichen. … Weder können sie dich uns nehmen, noch können sie unseren Dialog aufhalten.“

Adrian Figueroa selbst spricht von Echokammern und Resonanzräumen, die er mit seinen eigenwilligen kinematographischen und theatralen Gestaltungen erzeugt. Ein Bewusstsein für blinde Flecke und Realitäten, für Protagonist*innen und deren gesellschaftlich oft unsichtbare prekäre Erfahrungen, Grenzerfahrungen prägen seine Arbeiten. Immer wieder neu gelingt ihm eine ausdrucksstarke Aufladung und szenische Verdichtung der vielgestaltigen dokumentarisch recherchierten Realitäten.

 

[1] Im Mai 2021 1. Preis im Deutschen Wettbewerb der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen

[2] https://daskulturblog.com/2018/12/18/hool-theater-kritik/

[3] Eine Phantomflex-Kamera

[4] Die Schriftfarbe spielt auf die Gelbwesten an, die abgewandelte Fraktur-Schrifttype ‚mit Nazi-Hintergrund’ oszilliert zwischen Bedrohung und Ironie.

[5] Hrant Dink war ein Armenier mit türkischer Staatsbürgerschaft, Journalist und Mit-Herausgeber der in Istanbul erscheinenden zweisprachigen Wochenzeitung Agos. Der von nationalistischen Kräften in Gesellschaft und Justiz jahrelang mit Hasskampagnen verfolgte Redakteur wurde im Januar 2007 auf offener Straße erschossen. Den Trauerzug begleiteten 100 000 Menschen.

[6] In den Briefen wird Kavala meist ‚Sevgili Osman Bey’ angesprochen – lieber Osman Bey

Beitragsbild PROLL! © Jakob Reinhardt