Vika Kirchenbauer: In 12.000 Zeichen

Porträt

KINGDOM COME: RITUALS (2014, mit Martin Sulzer) © Vika Kirchenbauer, Martin Sulzer; VG Bild-Kunst

Die Künstlerin Vika Kirchenbauer betreibt etwas, das der Idee von einer kritischen Kunst vielleicht recht nahe kommt – alle Potenziale und Hinderlichkeiten eines solchen Begriffs eingeschlossen. Entsprechend verweigert sie sich im Grunde einer Einordnung in Disziplinen oder Institutionen und deren innerer Sortierungslogik. Ob das nun möglich ist oder nicht, das bewegte Bild bringt nun eben erst einmal gewisse Definiertheiten mit sich. So könnte man ihre Arbeit mit Film vielleicht beschreiben: gründlich, forschend, recherchiert, methodisch und eben reichlich kritisch. Ihre formalen Entscheidungen funktionieren ganz gut als Gegenüber, manchmal beinahe als Antithese zum klassischen Kinobegriff. Das wäre nun aber noch nichts Besonderes.

 

Besonders fühlt es sich hingegen schon an, wenn sie sich in einer Videoperformance (YOU ARE BORING!, 2015) beispielsweise als Prototyp betitelt, der vielleicht jederzeit zusammenbricht. Das ist natürlich eine Kunstpersona, die das sagt. Aber es hat dennoch etwas Zweifelndes und Fragiles, auch etwas Fatalistisches. Überhaupt, was in dem Video gesagt wird, das ist gleichermaßen urkomisch und bewegt sich doch irgendwie auf einem sehr dünnen Eis. Weil es hier – aller Überzeichnung und Ironie und künstlerischen Verfremdung zum Trotz – am Ende um drastische Machtrealitäten geht: um Shaming und Ausgrenzung, um Unsicherheit und Ausverkauf, Ablehnung und Diskriminierung von Menschen als Gewohnheit einer Gesellschaft und eines bürgerlich-musealen Kunstbetriebs – und eben nicht einfach um reine Konstruktionen und ein bisschen ästhetische Verzierung. Vielleicht sind deshalb die Räume dieser und anderer ihrer Videoperformances auch leer, quasi nackt. Ein Satz bleibt hängen, während sich die Performer_Innen des Videos 15 Minuten lang selbst analysieren, präsentieren und portraitieren. Es geht um das Verhältnis zu den Zusehenden und deren Erwartungshaltung an ein Kunstwerk: „Whatever you want, darling. Because we know that you have either the economic or educational capital to consume us… ideally both.” Vika Kirchenbauer ist eine Überzeugungstäterin, insbesondere eine überzeugte Zweiflerin. Also quasi eine Überzeugungszweiflerin.

 

LIKE RATS LEAVING A SINKING SHIP (2012) © Vika Kirchenbauer; VG Bild-Kunst

 

Nachdem ihr autobiografisch inspirierter Experimentalfilm von 2012 (LIKE RATS LEAVING A SINKING SHIP) in der Filmfestival-Welt erfolgreich war und für die Filmemacherin eine fortdauernde Aufmerksamkeit generierte, setzte sie einen Schnitt und stellt seither den Frontalunterricht des Kinosaals ebenso in Frage wie die Mechaniken der Kunstszene. Im Bezug auf die gesellschaftliche Normierung von Körperbildern und Verhaltensweisen klingt in ihrer Arbeit der Ausstieg an:

 

Rats are glorious deserters. And we must admire them. “You’ll sink, I won’t. But thanks for everything!”, they say, and jump right into the ocean. Rats don’t want to be captains, trying to keep the cause afloat. But swim in open water.

 

Was diese „Sache“ ist, auf die das Schiff zusteuert, das Dominante, die Agenda eines laufenden Betriebs, das bleibt zu ermitteln – in vielerlei Hinsicht. Ebenso wie die Konsequenzen von Absprüngen. Auszeichnungen bei zahlreichen Festivals und Aufführungen von Vika Kirchenbauers Bildarbeiten in 40 Ländern zeigen, dass der freie Ozean ein weiter ist, der aber eben nicht ohne Schiffe auskommt. Heute sind ihre Arbeiten vor allem in Kunstkontexten zu sehen, als Installationen oder als Teil von Performances. Die Bewegungsfreiheit reizt sie, die Sensibilität dieser labor-artigen Milieus für jedes platzierte Zeichen. Natürlich, ein weißer Würfel, der fühlt sich anders an als die gemütlichen Sessel eines Kinos. Über Formatgrenzen und Präsentationsräume hinweg bleibt das Visuelle in Vika Kirchenbauers Projekten jedoch wesentlich. Selbst wenn sie schreibt, dann ist das Sehen, das Wahrnehmen, vielleicht auch das, was Susan Sonntag einmal als Betrachten beschrieb, ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt.

 

Einer ihrer Texte zum Beispiel wurde 2014 in einem auffälligen Format veröffentlicht: Auf einem großen stabilen Papier, mehrfach gefaltet. Auf der einen Seite ist ihr Essay zu finden, das in mehreren Kapiteln von distanzierten und doch vermenschlichten Drohnen, technisierten Blickstrukturen und ihren Verbindungen mit Transparenz, Krieg, Voyeurismus und Liebe erzählt: INFRARED DREAMS IN TIMES OF TRANSPARENCY – THE LOVE LIFE OF DRONES AND OTHER WESTERN CYBORGS. Zwei Drohnen, MALE und FEMALE, werden darin zum Liebespaar imaginiert. Auf der anderen Seite findet sich eine Illustration in klaren Linien, fast mechanisch. Das Posterdesign ist von Amrei Hofstätter: ein kompliziertes, psychedelisches Schaubild in grellen Farben. Schema und Konstruktion, dominiert durch zwei große, starrende Augen: Schaltkreisaugen. Die starren auch dann noch, wenn sich das gesamte Bild auf den Kopf stellt. Und da sind riesige Hände, die kontrollieren. Raketen sind mit ihnen verbunden und steigen in einen Himmel, der an ein Fenstermosaik in der Kirche erinnert. Grelle Lichtstrahlen sendet dieser Himmel aus, die vielleicht Sonnenstrahlen sind, oder das Epizentrum von Explosionen. Eines der möglichen Gesichter ist eine Totenfratze.

 

Amrei Hofstätter reagierte mit ihrer visuellen Arbeit auf das bereits fertige Essay. Ein substanzieller, menschlicher Austausch bestand in diesem Fall nicht. Da wurde durch die Herausgeber_Innen Martin Müller und Inga Seidler (MARRIED PRINT) also eine Verbindung produziert, zwischen zwei künstlerisch-theoretischen Positionen, um ein Verhältnis zu veranschaulichen: bildhaft und als Gedankengang. Solche Verhältnisse zwischen künstlerischen Positionen, die sind, menschlich getragen oder nicht, dennoch real und gehaltvoll – letztlich sind sie vielleicht unvermeidbar, selbst in einem weniger deutlich inszenierten Rahmen. Die Dinge zirkulieren eben. Zusammenarbeit könnte man so etwas aber wohl nur schwerlich nennen. Und das ist auch ein Begriff, da würde Vika Kirchenbauer vermutlich direkt zustimmen, der natürlich aus der Wirtschaft stammt und Inspiration hinten anstellt. Vielleicht schließen heute wirtschaftliche Begriffe eine Art erzwungene Inspiration aber auch gerade ein? Das ist ein wesentliches Dilemma, was ihre Arbeit prägt; beispielsweise wenn sie von der „Experience Economy“, der Erlebnisökonomie des aktuellen Kapitalismus spricht. Zusammenzuarbeiten, für Kunst oder Firma, das heißt im Sinne von Vika Kirchenbauer, sich ein Miteinander auch wirtschaftlich und gesellschaftlich legitimieren zu sollen, individuelle Positionen miteinander abgleichen und gemeinsam in eine produktive Richtung führen zu sollen. Dieses komplexe Feld erfahrbar zu machen und dennoch anregend zu sein, das gelingt ihren Arbeiten ganz gut. Das Künstlerische in einer spätkapitalistischen Realität also. Das ist aber auch noch nicht alles.

 

Überhaupt menschlich miteinander umzugehen, das heißt erst einmal, etwas voneinander zu lernen und als Resultat etwas über einander zu wissen. Und auch das bringt nicht eine Lösung, sondern weitere Herausforderungen. Denn Wissen, ebenso wie Inspiration, das sind Begriffe, die das Feld der Kunst ebenso prägen, wie das der Liebe. Und dann vermischt sich alles. In Ihrem Essay, in dem mit dem Poster auf der Rückseite, da heißt es:

 

Love is a power game and the utopia of love overcoming power structures of oppression is at best a naive illusion. What ties romantic lovers together is a pact that while holding guns on each other they refrain from firing them. […] Just like in war, the knowledge about the other—or ‘intelligence’ about the other—constructs power; it is the currency that economies of love and war operate on. Nevertheless, the collection of knowledge about the other rarely extends beyond pseudo-factual proof of prior suspicion, most frequently deployed to confirm an identity already inscribed onto the other. („INFRARED DREAMS IN TIMES OF TRANSPARENCY – THE LOVE LIFE OF DRONES AND OTHER WESTERN CYBORGS“)

 

Weil Kunst in ihren Videos als hochgradig verfänglich entlarvt wird und Intimität keine Zuflucht liefert, sondern einen neukapitalistisch vereinnahmten Drahtseilakt darstellt, erscheint als Grundproblem letztlich die eingangs berührte Frage nach einem zerstörerischen Pessimismus, oder sogar Fatalismus. Es scheint eigentlich keinen Ausweg zu geben aus den Logiken der Gesellschaften, in die wir hineingeboren werden. Wären einige ihrer Videoperformances nicht so urkomisch, dann wären sie noch aufreibender. Am Ende sind sie vermutlich beides.

 

Manchmal gibt es auch gar keine Brüche und alles fühlt sich hart an, irritierend und chaotisch und auf eine abstrakte Art auch wütend. Ein Video von 2014 entstand gemeinsam mit Martin Sulzer und liest sich eigentlich heiter: Kameras wurden erstmal auf ein paar Tauben geschnallt, die flogen dann über eine Demonstration hinweg, in der Nähe des Bundestags. Schnell deutet sich jedoch an, dass das kein eskapistischer Film ist. KINGDOM COME: RITUALS (2014) lässt besonders auf großen Leinwänden – wenn Vika Kirchenbauer sich doch mal wieder ins Kino verirrt – einen Angriff auf das Sehen und hören los, eine radikale audiovisuelle Desorientierung. Das Kino wird hier zum Bestandteil und zur Innenansicht einer Drohne, die biologisch und deshalb völlig unberechenbar ist. Das verbindet den Vogel mit dem Menschen.

 

SHE WHOSE BLOOD IS CLOTTING IN MY UNDERWEAR (2016) © Vika Kirchenbauer; VG Bild-Kunst

 

Vor Kurzem gab es eine Art Synthese: Romantische Hoffnung trifft zerstörerische Visualität. Die Videoarbeiten im Rahmen ihres Musik-/Performanceprojektes COOL FOR YOU sezieren menschliche Körper mit Wärmebildkameras. Sensoren messen Temperaturen und zeigen Spuren von Berührungen auf, protokollieren Veränderungen in Körpern und deuten Eingriffe in Unversehrtheiten an. In SHE WHOSE BLOOD IS CLOTTING IN MY UNDERWEAR (2016) packen zwei Liebende einander an, beißen und würgen sich. Dazu gibt es technisierte Ritualmusik und Gesänge, die rückwärts zu laufen scheinen. Hohe Stimmen gehen mit tiefen durcheinander und die Frequenzen steigen ins Unmenschliche – bis es fast Maschinen zu sein scheinen, die die Melodie angeben. Das Ganze bekommt eine infernalische Qualität. Ein Video, das in Oberhausen ausgezeichnet wurde, aber eigentlich als Teil einer Musikperformance entstanden ist. Während der wird das Publikum über Wärmekameras und Monitore gespiegelt und mit den eigenen Silhouetten, mit einer technischen Neuinterpretation, einem technischen Andern konfrontiert. Ebenso wie Vika Kirchenbauer in ihrem Arbeiten das Kino mit einem Anderen konfrontiert. Ein Anderes, das sich der Leinwand verweigert und doch Bild ist. Ein Anderes, das nicht verstanden werden möchte, das undurchsichtig, unverständlich, rätselhaft sein und bleiben will.

 

I am very fond of Édouard Glissant’s ideas around ‘opacity’ and the right not to be understood. As much as his philosophy is informed by experiences of racism and close analysis on the psychological and social repercussions of colonialism, his ideas address even deeper and broader structures. I don’t believe in comparison as a rhetorical tool or political strategy, so without wanting to equate or universalize any of these distinct situations, I think he works out in great clarity the violence inherent in understanding, in measuring the other by one’s own scale. (Interviewauszug Berlin Art Link )

 

Ein Sehen, das durch technische Augen, institutionalisierte Machtstrukturen und kulturelle Autoritäten inszeniert und durchgesetzt wird, erscheint in Vika Kirchenbauers Arbeiten in Anlehnung an den Dichter und Theoretiker Édouard Glissant stets auch als ein privilegiertes Sehen, steht unter Verdacht, ein verletzendes Sehen zu sein. Wenn Blicke töten könnten: Eine Frage, die Drohnen und Liebende gleichermaßen beschäftigt. Und wo Liebe ist, da ist auch die Kunst. Vika Kirchenbauers Perspektive auf das Visuelle legt, mal ironisch, mal fatalistisch, eine Gemeinsamkeit zwischen dem technisierten Blick der Aufklärungsdrohnen, dem Zwischenmenschlichen Erkennen und den Sehroutinen des Kunstbetriebs nahe. Weil das Sehen und das Wissen immer auch ein zugänglich Machen andeutet, ein Beherrschen des sichtbaren Gegenübers, welches in seiner Sichtbarkeit entblößt und vereinnahmt wird.

 

Um diese Verhandlung kommen Menschen nicht herum, wenn sie etwas zeigen. Das Zeigen an sich, im Bewusstsein all dieser Bedenken, das zeugt aber auch von einem notwendigen Mut. In PLEASE RELAX NOW (2014), der ersten Videoarbeit nach LIKE RATS LEAVING A SINKING SHIP, blendete Vika Kirchenbauer beinahe alles aus. Eine Art Trotz, dem Kino gegenüber und dem Publikum gegenüber, wurde da bisher am Deutlichsten. Sie inszeniert sich darin als Gastgeberin der ultimativen Kunsterfahrung: Die kollektive Selbstbefriedigung in der Galerie. Das Publikum soll sich angeleitet von ihrer Stimme in Wallung bringen, dabei werden ihre Kommentare zunehmend übergriffig. Was für einen Körper diese Moderatorin besitzen mag, das wird zur Leerstelle. Wer hier wen ansieht, wer hier wen begehrt, das wird zum Verhandlungsspielraum.

 

In allen folgenden Arbeiten ist mehr zu sehen, manchmal in 3D, bei den jüngsten Arbeiten dann sogar übernatürlich viel. Aber die Blicklinien zwischen Menschen, zwischen Performance und Publikum, die laufen dabei ins Leere. Das Blicken, ob menschlich oder maschinisch, findet darin keine Antwort, schafft keine Verbindungen. Das Sehen und Betrachten an sich scheint zu einem Prozess der Entfremdung geworden zu sein. Und wenn das Sehen schon schwierig ist, wie verhält es sich dann mit dem präzisen Wahrnehmen des Menschlichen und Zwischenmenschlichen? Die Filter zu sehen und nicht durch die Filter, das erfordert Übung. Vorsicht ist geboten im Umgang miteinander. Trotzdem: Augen auf und durch!

 

www.vk0ms.com

 

Videografie

MOOD MANAGEMENT (2017)

DEATH COACHES LLC (2017, mit Mysti)

SHE WHOSE BLOOD IS CLOTTING IN MY UNDERWEAR (2016)

GIVEN YOUR CONVENIENT ABSENCE (2016)

YOU ARE BORING! (2015)

CONVENIENT, SACRED, BLESSED (2015)

KINGDOM COME: RITUALS (2014, mit Martin Sulzer)

PLEASE RELAX NOW (2014)

LIKE RATS LEAVING A SINKING SHIP (2012)