Susann Maria Hempel

Porträt

Die Schönheit des Verfalls

SIEBEN MAL AM TAG BEKLAGEN WIR UNSER LOS UND NACHTS STEHEN WIR AUF, UM NICHT ZU TRÄUMEN © Susann Maria Hempel

Alltägliche Szenen des menschlichen Zusammenlebens surreal inszeniert, fast schon eine Art performative Installation zwischen Traum und Wirklichkeit – so wirken die aneinander gereihten bizarren Sequenzen in Susann Maria Hempels Film WIE IST DIE WELT SO STILLE (2012). Er ist die fünfminütige Essenz eines weitaus größer angelegten, aber aus Sicht der Regisseurin missglückten Projektes. Doch ausgerechnet damit überzeugte sie die Jury des Verbands der Deutschen Filmkritik, die diese, wenn man so will, „Resteverwertung“ 2013 als besten Kurzfilm auszeichnete.

Gedreht hat ihn Susann Maria Hempel im thüringischen Greiz, wo sie 1983 geboren wurde, wo sie aufwuchs und wohin sie inzwischen zurückgekehrt ist. Ort des Geschehens – das Kaiserliche Post- und Telegrafenamt, ein einstmals prächtiger Gründerzeitbau, der heute höchstens noch morbiden Charme versprüht. Hier, in den unzähligen leer stehenden Zimmern und auf langen Korridoren, hat sich Susann Maria Hempel ein eigenes kleines Reich geschaffen, in dem sie nahezu alle Ideen entsprechend in Szene setzen kann. So hat die zierliche junge Frau zusammen mit ihren Mitstreitern zum Beispiel für WIE IST DIE WELT SO STILLE die Flure mit Erde aufgeschüttet, kleine Bäume gepflanzt und in diese Landschaft hinein einen ausrangierten Barkas-Kleintransporter drapiert.

Susann Maria Hempel hat ein Faible für Müll, also kaputte Dinge, Schrott, eben das, was übrig geblieben ist. Auf den ersten Blick erinnert der Requisitenfundus im Postamt daher auch an das Refugium eines notorischen Messies, beim genaueren Hinsehen lassen sich jedoch eindeutige Abfallsammelkategorien ausmachen. Das Thema zieht sich durch ihre Arbeiten der letzten Jahre: Für ihr Konzept zur installativen Filmarbeit RETTET DEN MÜLL! ODER: VON DER UNMÖGLICHKEIT, ABFALL ZU ARCHIVIEREN wurde Susann Maria Hempel 2012 mit dem Bremer Autoren- und Produzentenpreis ausgezeichnet. Derzeit arbeitet sie an Umsetzung dieses Projektes, einem Animationsfilm über Seevögel und Fische, die sich von Plastikmüllpartikeln in den Weltmeeren ernähren, und daran zu Grunde gehen.

Die Resterampe unserer Gesellschaft dient Susann Maria Hempel als Inspirationsquelle. Angesichts des Zustands ihrer Heimatstadt habe sich ihr dieses Motiv geradezu aufgedrängt, sagt sie. Sie habe das Gefühl, dass hier die Gegenwart keinen Anschluss an die Zukunft findet. Wie in vielen ostdeutschen Kleinstädten sind auch in Greiz nach der Wiedervereinigung die ortsansässigen Industrien weg gebrochen, ist die Einwohnerzahl etwa um ein Drittel geschrumpft. Da bleibt vieles auf der Strecke, selbst Menschen, die scheinbar niemand mehr braucht, die ein Randdasein fristen. Mit ihnen trifft sich Susann Maria Hempel gelegentlich in einer etwas herunter gekommenen Bar, hört sich ihre Lebensgeschichten an und thematisiert sie in ihren Arbeiten.
Fasziniert ist die Filmemacherin in diesem Zusammenhang auch von verfallenen, leer stehenden Häusern. Dafür spricht ihr marodes Ateliergebäude, ebenso wie die Abrisshauskulisse in DIE FLIEGEN (THE BIRDS II) (2010), einer Reminiszenz an Oskar Sala, wie Susann Maria Hempel gebürtiger Greizer, der unter anderem die Filmmusik zu Alfred Hitchcocks DIE VÖGEL komponiert hat. Modell dafür stand ihr damaliges Wohnhaus in der Greizer Neustadt, die in ihren Augen mittlerweile Züge einer Geisterstadt trägt. Als schließlich das Theater in ihrer Heimatstadt abgerissen werden sollte, nahm sie auf ihre Art Abschied mit dem Film DER GROßE GAMMEL (2013). Dafür zerkratzte und verätze sie Filmmaterial, Dias und alte Tonbänder, Dinge, die sie in den scheinbar fluchtartig verlassenen Räumen des Theaters gefunden hatte, so, dass das Gebäude nicht nur aus dem Stadtbild von Greiz, sondern am Ende auch auf der Leinwand verschwindet.

Dieser experimentelle Abgesang auf das alte Greizer Stadttheater ist Susann Maria Hempels ganz persönlicher Nachruf auf einen Ort, an dem sie ihren künstlerischen Erweckungsmoment erlebte. Hier stand sie mit 13 Jahren zum ersten Mal auf den Brettern, die die Welt bedeuten, schnupperte erstmalig Theaterluft und konnte seitdem nicht mehr davon lassen. Ihre Leidenschaft für die Bühne ging sogar so weit, dass sie mit 16 die Schule abbrach, erst nach Jena ans Theater ging und schließlich ab 1999 als Musikerin, Darstellerin und künstlerische Mitarbeiterin im Performance- und Künstlerkollektiv „Theaterhaus Weimar“ viele Jahre lang mitwirkte. Eine großartige Schauspielerin zu werden, davon träumte Susann Maria Hempel damals – insgeheim. Dass am Ende daraus nichts wurde, lag einerseits an ihrem noch  ungestillten Wissensdrang. Vor allem aber hatten ihre musikalischen Ambitionen einen wesentlichen Anteil daran, als sie sich entschloss zu studieren.

Sich an einer Musikhochschule zu bewerben, habe sie sich nicht zugetraut, gesteht Susan Maria Hempel. Allerdings hatte sie erfahren, dass der von ihr geschätzte Robin Minard, Klangkünstler und Professor für elektroakustische Kompositionen an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar, ebenfalls an der Bauhaus-Universität Kurse gibt. Also schrieb sie sich dort 2001, dank einer Begabtenklausel, im Fachbereich Mediengestaltung ein. Während Susann auf einen Platz in diesen bei Studierenden außerordentlich begehrten Lehrveranstaltungen wartete – vergeblich, nebenbei bemerkt –, versuchte sie, sich irgendwie zu beschäftigen, und dabei entdeckte das Medium Film für sich, genauer den Kurz- und Experimentalfilm.

Der Musik ist sie dennoch treu geblieben. Sie spielt Klavier, singt und komponiert. Als Teil des Bandprojektes Hempel & Sauter vertonte sie beispielsweise Gedichte von Else Lasker-Schüler. Daher stammt der Soundtrack zu ihren Filmen meist aus der eigenen Feder. So auch in ihrer bisher erfolgreichsten, mehrfach auf Kurzfilmfestivals, darunter Dresden, Oberhausen und Hamburg, ausgezeichneten Arbeit SIEBEN MAL AM TAG BEKLAGEN WIR UNSER LOS UND NACHTS STEHEN WIR AUF, UM NICHT ZU TRÄUMEN (2014). Darin begleitet sie sich selbst auf einer Celesta, einem ausrangierten Tasteninstrument, das sie übrigens bei einem ihrer Streifzüge durch das alte Greizer Stadttheater entdeckt hat.

Der Titel des Preisträgerfilms ist angelehnt an einen Psalm und dementsprechend hat Susann Maria Hempel den Film wie eine Art mittelalterliches Andachtsbuch gestaltet, mit animierten Miniaturen, Ornamenten und Spruchbändern, die wild ineinander wuchern. Erzählt wird die traumatische Lebensgeschichte eines Mannes, in der die Regisseurin Passagen aus Interviews mit ihm verarbeitet hat – verstörend, skurril und sinnlich zugleich oder wie es in der Jurybegründung der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen heißt: „Grauen und Niedlichkeit liegen hier untrennbar beieinander.“ Wieder ist es eine Geschichte über Übriggebliebene, über die randständigen Existenzen in unserer Gesellschaft, doch mit dem Film erfahren sie eine bisher ungekannte Wertschätzung. Das möchte Susann Maria Hempel auch künftig mit ihren Projekte erreichen: die Zerstörung, den Verfall nicht mehr nur zu dokumentieren, sondern den Menschen und Dingen Anerkennung und vielleicht eine Perspektive zu bieten.

Grit Krause

Filmographie:

2008 Der weinende Dritte / The Crying Third
2009 Der Mann, der nicht weinen wollte / The Man Who Did Not Want To Cry

2010 DIE FLIEGEN (The Birds II) / THE FLIES (The Birds II)

2012 Wie ist die Welt so stille / The World in Stillness Clouded

2013 DER GROSSE GAMMEL / THE BIG ROT

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