Matthias Wermke und Mischa Leinkauf

Porträt
Die Neonorangene Kuh © Wermke/Leinkauf, 2005

Die Neonorangene Kuh © Wermke/Leinkauf, 2005

 

Auf die Frage, wie man zu der Kunst sagen soll, die Matthias Wermke und Mischa Leinkauf machen, antworten die beiden nach längerem Reden: Bildhauerei. Ist natürlich nicht ganz ernst gemeint, klingt komisch, trifft die Sache aber erstaunlich gut. Zum einen steckt in der Beschreibung der trockene Humor, ohne den die Arbeiten des Berliner Künstlerduos nicht denkbar wären. Zum anderen zwingt einen der Begriff, dem Sinn von „Bildhauerei“ einmal nachzulauschen – und festzustellen, dass hinter der ersten Assoziation (Hammer, Meißel, schweres Gestein) sich ein Wort verbirgt, das nichts anderes beschreibt als die Freilegung von Bildern mit einigem Aufwand. Zum dritten passt es übrigens schlecht zu den Arbeiten von Wermke/Leinkauf, ein schickes Label dafür finden zu können.

 

Der Prozess des Bildhauens zieht sich mitunter. Von der medial bekanntesten Aktion der beiden gibt es bislang vier veröffentlichte Fotos und den fünfzehnminütigen Film SYMBOLIC THREATS: In der Nacht zum 22. Juli 2014 stiegen Wermke/Leinkauf auf die New Yorker Brooklyn Bridge, um die dort wehenden farbigen US-Flaggen durch weiße zu ersetzen, eigens genähte, einfarbige „star-spangled banner“. Am nächsten Morgen wurde der künstlerische Eingriff in die städtische Ordnung entdeckt, was nicht nur das New Yorker Police Department in Aufregung versetzte, sondern die News-Shows des Landes einen Vormittag lang über die Aktion des Künstlerduos delirieren ließ.

Gerahmt von einer völlig zutreffenden Sonntagsrede über die Arbeit von Künstlern, die der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio bei der Ernennung des städtischen Kulturbeauftragten gehalten hat („die uns herausfordern, die uns nachdenken lassen, die uns provozieren und uns helfen zu verstehen, was der gesellschaftliche Diskurs ein- und ausschließt“), kompiliert SYMBOLIC THREATS Material von 40 Sendern. Lauter Versuche von aggressiver Exegese, denen das Bewusstsein abgeht, worum es sich bei den Bildern von den Fahnen, die am Anfang und Ende im Film zu sehen sind, handeln könnte: Gezeigt wird ein besinnungsloser gesellschaftlicher Diskurs im Moment seiner medialen Verfertigung, der starr vor Terrorangst und Sicherheitsalarmismus, Humorlosigkeit und Schimpfdruck keinen Begriff von so etwas Friedliebend-Schönem wie der Arbeit von Wermke/Leinkauf entwickeln kann.

 

Symbolic Threads © Wermke / Leinkauf, 2015

Symbolic Threats © Wermke/Leinkauf, 2015

 

Der schnappatmende News-Chor hat den Sinn dafür verloren, was Kunst ist. Er interpretiert, wenn man das nur so normativ sagen könnte, falsch, indem er die Aktion, das Making-of diskutiert, statt sich dem Bild der weißen amerikanischen Fahnen zu widmen, das – und da geht es erst los – ja immer noch genügend Deutungsmöglichkeiten offen lässt. So ist der Zeitpunkt der Aktion mit Bedacht gewählt. Es ist der Todestag von Johann August Roebling, dem aus Mühlhausen stammenden Konstrukteur der Brooklyn Bridge, der wie sein Sohn Washington August Roebling, der die Arbeit danach für kurze Zeit fortführte, nie einen Fuß auf das Bauwerk setzte (fertig gestellt wurde die Brücke von Emily Warren Roebling, der Frau des Sohnes). Washington August Roebling starb an einem 21. Juli – dass Wermke/Leinkauf in der Nacht zwischen den Todesdaten der beiden dort, aus dem Land Roeblings kommend, Nationalzeichen neu arrangieren, müsste also mindestens einem Zufallsbedeuter wie dem New Yorker Schriftsteller Paul Auster gefallen. Und das wäre nur ein Strang an Erzählung, dem sich aus dem Bild von den weißen US-Flaggen auf der Brooklyn Bridge folgen ließe.

 

Die Kunst von Wermke/Leinkauf komprimiert solche Lesarten. Die Bildhauerei, die in  Kurzfilmen, Installation oder einzelnen Bildern resultiert, zielt auf drastische Reduktion, die am Gewimmel um die Bildproduktion im Fall der Fahnen nur am deutlichsten hervortritt. Es geht eben nicht um die Abenteueranteile des Brücke-Erklimmens (Filme über masturbativ-riskantes Phallussymbolbesteigen finden sich auf Youtube zuhauf), und nicht um die detektivischen Vorbereitungen der Aktion, auch wenn das im ersten Moment die scheinbar aufregenden Fragen sein mögen. Es geht allein um das Bild, das herstellbar ist  – und das im Falle der Arbeit auf der Brooklyn Bridge auch deshalb noch nicht abschließend fixiert ist, weil ein Prozess gegen die beiden Künstler noch läuft; in der Perspektive, die der Film SYMBOLIC THREATS öffnet, könnte das Urteil durchaus in den Handapparat der Vulgärdiskussion eingehen.

 

Die Reduktion, das Herausmeißeln der entscheidenden Bilder, ist ein wesentlicher Teil der Arbeit von Wermke/Leinkauf. So ist schon bei früheren Arbeiten das Spektakuläre an der Bilderzeugung gebannt; was zählt, ist die Schönheit der Bilder, die Wahrnehmungsveränderung, die sie ermöglichen. Der alte Fischli-und-Weiss-Slogan „Plötzlich diese Übersicht“ wäre durchaus angebracht, wenn Wermke an öffentlichen Bauwerken Berlins in luftiger Höhe schaukelt (DIE NEONORANGENE KUH, 2005) oder sich mit einer selbst gebauten Draisine durch das Schienennetz des öffentlichen Personennahverkehrs der Hauptstadt bewegt (ZWISCHENZEIT, 2008). Sichtbar wird durch diesen anderen Gebrauch von Stadt, der von den Routinen des Alltags nicht gesucht wird und in der Vorstellung von öffentlicher Ordnung nicht angedacht ist, etwas Neues: Hierarchien geraten durcheinander, wenn die Kamera den auf der Schaukel sitzenden Wermke so in den Blick nimmt, als betrachte er, allein vor dämmerndem Himmel, die Kugel des Berliner Fernsehturms praktisch auf Augenhöhe (und die kopfähnliche Kugel, die den Fernsehturm so untechnisch-sympathisch macht, betrachte ihrerseits zurück). Unmögliche Wege werden aufgezeigt, wo Wermke auf der Draisine elegant und beschleunigt, im Vergleich zu Regionalzügen und U-Bahnen aber doch wie ein Fußgänger zum Bus die für persönliche Nutzung nicht vorgesehene Infrastruktur der Großstadt erfährt, nämlich wie ein Einzelner. Automobilität am falschen Ort.

 

Oder ENTSCHEIDUNGEN (2011), eine Videoinstallation für zehn Monitore, die Bilder ähnlicher Situationen zeigen: ein Mann (wie zumeist: Wermke) hängt, wiederum in herausfordernden Höhen, an Gerät und Architektur herum, lässt los, verschwindet aus dem Bild, kehrt wieder, kehrt nicht wieder. Das gedrehte Material hält eindrucksvolle großstädtische Panoramen bereit, die in der fertigen Arbeit aber bewusst nicht ausgestellt werden, um durch Gefahrengrusel von der Konzentration auf den titelgebenden Moment abzulenken. „Freiheit ist der Moment zwischen Loslassen und Fallen“, lautete das Zitat, das dieser Arbeit vorausging, und das lässt sich eben auch an den Händen zeigen.

 

Der Satz über die Freiheit könnte gut über dem gesamten Werk von Wermke/Leinkauf stehen. Denn die beiden Künstler operieren beständig an der Grenze, die zwischen öffentlichem und privatem Raum verläuft – was nichts anderes ist als eine Vermessung von Möglichkeiten. Die nicht immer als solche erkannt werden: In TROTZDEM DANKE (2006), einer frühen Arbeit, die unter anderem für den Deutschen Kurzfilmpreis nominiert war, putzt Wermke ungefragt die Frontscheiben von Straßen- und S-Bahnen, Bussen und U-Bahnen. Eine Tätigkeit, die als Instantservice im individualisierten Verkehr akzeptiert ist, weil sie als geschäftlicher Vorgang das Geldspenden erleichtert, die im eben öffentlichen Personenverkehr aber Irritation hervorruft, nach Erlaubnis und Auftragt fragen lässt. Frage nicht, was Du für die Öffentlichkeit tun kannst: Obwohl sie nichts kostet (eine U-Bahnfahrerin scherzt: „Aber einen Euro wollen Sie jetzt nicht von mir“), kann die freundliche Dienstleistung nicht entgegengenommen werden. Sie wirkt wie eine Bedrohung, wenn nicht Gefahr.

 

Freiheit, ließe sich sagen, erscheint bei den topografischen Erkundungen der beiden als ein Zwischenraum, der vorher nicht da war oder zumindest nicht sichtbar. Zwar wird der Begriff bei Wermke/Leinkauf viel nüchterner aufgefasst als etwa beim von sich tief ergriffenen Joachim „Lebensthema“ Gauck, der die Vokabel zum Zwecke des Selbstmarketings privatisiert hat. Aber das Pathos, das sich mit dem Moment verbindet, in dem Freiheit sich zeigt, findet sich eben auch in den Bildern von Wermke/Leinkauf; es erklärt die Größe der Arbeiten, die Tiefe der Gefühle, die noch ein Filmstill unmittelbar auslöst. Oder auch nur die Vorstellungskraft: der Brooklyn Bridge weiße Fahnen aufzusetzen, ist ein unerhörter Eingriff in die Ordnung der Zeichen, der ziemlich viele Assoziationen mobilisiert.

 

Immer aber nur sind es nur friedfertige. Nie käme man bei Wermke/Leinkauf auf den Gedanken, von Interventionen zu sprechen, einem Wort, das klingt wie ein Schlüsseldienst, wie eine rabiate Technologie, eine Kriegshandlung. Am Anfang der Freundschaft stehen gemeinsame nächtliche Spaziergänge durch das Berlin der neunziger Jahre, Entdeckungstouren durch eine Stadt im Umbruch. Diese Spaziergänge haben sich nicht an die vorgegebenen Wege gehalten, weshalb einem heute, beim Zugriff von Wermke/Leinkauf auf den öffentlichen Raum, eine Kulturpraxis wie Parkour in den Sinn kommen kann. Eine Fortbewegungsart, die direkte Wege durch den Beton der Städte sucht und damit ebenfalls Pläne von Ordnung durchkreuzt. Parkour betont allerdings den sportlichen Aspekt des spielerischen Umgangs mit der gebauten Stadt, es geht dabei immer auch um die Pose, das Ausstellen von körperlichen Fähigkeiten. Solche Äußerlichkeiten – und das trägt zum Aspekt des Friedfertigen bei – verschwinden hinter den Bildern, die Wermke/Leinkauf produzieren.

 

Auch wenn dafür Fitness nötig ist. So reenacted die 2013 in Heilbronn entstandene Arbeit DER HANDSTAND AUF DEM MÄNNLE einen historischen Lausbubenstreich. Bei ihren Exkursionen durch die Stadt stießen Wermke/Leinkauf auf eine alte Postkarte, die eine Aktion zweier Elektromonteure von 1921 historisierte („Erinnern Sie sich noch an den Handstand auf dem Männle?“) – eben einen Handstand auf der „Männle“ genannten Skulptur, die den Turm der Kilianskirche krönt. Die beiden machten sich mit der Höhe des Ortes vertraut und absolvierten die gymnastische Übung solange, bis sie sicher genug waren, sie durchführen zu können, um das merkwürdige Ereignis aus der Lokalgeschichte zu aktualisieren; zu den Grundlagen der künstlerischen Praxis von Wermke/Leinkauf gehört ein geduldiges Wissen um die Machbarkeit von potentiell allem, ein pragmatischer Begriff von so was wie Utopie, nämlich dass im Grunde jeder die waghalsig erscheinende Aktion auf dem Turm vollführen kann, wenn er sich darauf nur lang genug vorbereitet.

 

Die Postkarte ist übrigens ein Bild, in dem man eine hübsche Metapher für die Arbeit der beiden Künstler finden kann. Im ersten Moment mag das komisch anmuten, weil Bewegtbild für Wermke/Leinkauf von Bedeutung ist. Aber gemeint ist die spezifische Ästhetik der Postkarte, die in ihrer kanonisierten Ausprägung öffentlichen und privaten Raum verdichtet: eine allgemeines Bild, eine Allerweltsansicht von einer Stadt oder Gegend auf der Vorderseite und Freiraum für einen persönlichen Gruß oder Text auf der Rückseite. Wermkes Abschlussarbeit als Meisterschüler an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (im Fach, genau, Bildhauerei; Leinkauf ist Absolvent der Kunsthochschule für Medien in Köln) trug den Titel STOßLÜFTEN und bestand in einer Aktion, bei der Wermke mit einer Eisenstange die Fenster des Foyers der Schule zerstörte, um dann für 24 Stunden dort als Gesprächspartner anwesend zu sein, ehe ein Glaser den ursprünglichen Zustand wieder herstellte. Ausgewiesen wurde die Arbeit auf einer Postkarte, auf deren Vorderseite der Titel stand und auf der Rückseite der Name des Künstlers.

 

In den ÜBERWINDUNGSÜBUNGEN (2015) schreiben sich Wermke/Leinkauf wiederum in einem Reenactment in die allgemein-anonymen Bilder von DDR-Grenzsoldaten ein. Beim Mauerbau wurden verschiedenen Konstruktionsmöglichkeiten getestet, indem Soldaten versuchten, die unterschiedlichen Modelle zu überqueren. Diese Test sind dokumentiert, den Fotos davon eignet etwas Künstlerisches, Performatives, das Wermke/Leinkauf aktualisiert haben, in dem sie heute an historischen Stellen des Mauerverlaufs Hindernisse erklommen/überwunden haben.

 

So sehr sich die beiden Künstler für die Geschichte interessieren, dafür, wie sie sich schreibt, wie gesellschaftliche Ereignisse Spuren im Leben des Einzelnen hinterlassen – wäre es falsch, in den Reenactments eine Methode erkennen zu wollen. Die Arbeit DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT, die Wermke/Leinkauf 2016 für den Kunstverein Neuhausen bei Stuttgart realisiert haben, weist zeitlich tendenziell endlos nach vorn. Für die Schau „Our Mind into a Brezel – Neue Sichtweisen auf Tauschmittel, Finanzwelt und Ökonomie“ investierten die beiden Künstler ihr Ausstellungsbudget von 1.000 Euro in Lottoscheine. Zu sehen sind die Zettel, Quittungen, der Vertrag mit dem Kunstverein und Loops von der Ziehung der Zahlen, an der jedes Wochenende neu teilgenommen wird: Das Geld, was gewonnen wird, wird wieder in Scheine investiert. Mit Ende der Schau landet diese Summe auf einem Konto, von dem die nächste Institution, die die Arbeit zeigt, dann weiter spielen könnte. Der Lottoladen kriegt Prozente, sonst gewinnt niemand. Außer der Kunst, die von der ebenfalls profitierenden Lottostiftung gefördert wird und die sich in dieser Arbeit lange am Leben halten könnte. Theoretisch endlos.

 

www.wermke-leinkauf.com

 

ausgewählte Arbeiten

2016 DAS ROTE MANSFELD

2015 ÜBERWINDUNGSÜBUNGEN

2015 SYMBOLIC THREATS

2015 ECLIPSE

2014 STADT DER 100 TÜRME

2013-2014 LANDMARKS

2013 DER HANDSTAND AUF DEM MÄNNLE

2012-2014 DRIFTER

2011 ONE MORE STEP TO THE TOP OF THE CITY

2011 ENTSCHEIDUNGEN

2010 KEINE ZEIT

2009 MENDIREGIN ÜSTÜNDE

2008 ZWISCHENZEIT

2007 NEW YORK – 59 SECONDS

2007 BALLOONS

2006 TROTZDEM DANKE

2006 GRENZGÄNGER

2005 DIE NEONORANGENE KUH