Kino-on-Demand – neue Filmauswertungsmodelle

Analyse

Schaubild „20 Millionen Spanier müssen mindestens 100 km zurücklegen, um ins Kino zu gehen“ © film2es

Als vor etwa 10 Jahren neue Kommunikationstechniken auf Mobiltelefonen implementiert wurden, die heute gemeinhin als Social Media bezeichnet werden, hatten findige Nerds und Kinoliebhaber eine Idee, die damals alle gut fanden: Die Verknüpfung der lokalen Offline-Welt des Kinos mit der ubiquitären Online-Welt der viralen Kommunikation, um die gefährdete Kulturpraxis Kino mit der neuen Medienpraxis zu unterstützen. Es wurden Anwendungen geschrieben, die es ohne großem Aufwand ermöglichen gleichgesinnte Filmfreunde zu finden, die sich zu einem bestimmten Film oder auch Kurzfilmprogramm in einem Kino in ihrer Nähe verabreden.

 

In vielen Ländern starteten zwischen 2012 und 2015 solche Initiativen unter der Bezeichnung Kino-on-Demand beziehungsweise Theatre- oder Cinema-on-Demand. Inhaltlich unterschieden sie sich im Fokus auf Zielgruppen oder Communities und die Spezialisierung auf bestimmte Filmgenres. Die meisten Plattformen kooperierten mit Filmverleihen, manche aber auch direkt mit Produzenten und Filmemachern, um auch Filme ohne Verleih auf die Leinwand zu bringen. Die Zusammenarbeit mit den Kinos gestaltete sich aber immer gleich: ab einer bestimmten Zahl an Interessenten für einen Wunschfilm, wurde dieser von den Partnerkinos am verabredeten Tag gezeigt. Falls dies nicht rechtzeitig gelang, wurde die Vorstellung einfach abgesagt.

 

Eine Win-Win-Situation sollte man meinen mit Vorteilen für die Filmanbieter und die Filminteressierten. Und die beteiligten Kinos können zusätzlich zu garantierten Eintrittseinnahmen Leerkapazitäten außerhalb der Hauptvorstellungen und der starken Kinotage füllen (was aber möglicherweise einer der Fehler war).

 

Doch bereits Anfang 2016 meldete das Magazin Celluloid Junkie, das Modell sei allerorts und wohl für immer gescheitert. Zu den bekannteren Plattformen, die ihr Projekt aufgaben oder aufgeben mussten, gehören Gokino.ch in der Schweiz, We Want Cinema in den Niederlanden und La 7e Salle in Frankreich. Gokino, gegründet von den Kinoketten Pathé Suisse und Cinérive, begann auf fünfzehn Leinwänden in Zürich und dehnte seine Aktivitäten bald auf Basel, Bern und Lausanne aus. Angeboten wurden überwiegend Mainstream-Filme, aber keine aktuellen Neustarts. Nach einem Jahr Betrieb waren die Ergebnisse immer noch enttäuschend. Es kamen selten genügend Zuschauer, um die Kosten zu decken. Heute führt die URL von Gokino auf eine Erotikseite …

 

La septième salle in Frankreich setzte zunächst auf Filmkunst – in einem engen Zeitfenster nach dem Kinostart, aber vor der DVD oder VoD-Veröffentlichung. Später vermittelt La 7e Salle auch Dokumentarfilme und unabhängige Filme ohne Verleih. Ende 2012 hatte die Plattform mehr als 80 Leinwände unter Vertrag – viele davon in kleinen Städten und auf dem Land (nur zwei in Paris). Das ambitionierte Projekt scheiterte vor allem an der mangelnden Verbindlichkeit der Reservierungen – viel zu wenige der angemeldeten Interessenten erschienen tatsächlich zu den gebuchten Vorführungen. Heute existiert von La 7e Salle nur noch eine alte facebook-Seite.

 

In den Niederlanden wurde We Want Cinema als Spin-off eines Vertriebs für unabhängige Filme, Amstelfilm, gegründet. Für sein Crowd Ticketing System entwickelte We want Cinema sogar eine eigene App für mobile Endgeräte. Auf dem Programm standen überwiegend Independentproduktionen. Nach Aufbau eines Kinonetzes in Holland expandierte We Want Cinema sogar nach Deutschland. In Berlin erwarb Andreas Schaffner von Cinetrans (Kinomachern noch als Filmlager Schaffner bekannt) die Lizenz für Deutschland (wewantcinema.de). Mit Unterstützung des Medienboard Berlin baute er ein Netz mit fast 30 Kinos in und um Berlin auf und setzte dabei – vielleicht nicht ganz zeitgemäß – auf sogenannte Kultfilme. Auch dieses Projekt scheiterte an den niedrigen Zuschauerzahlen.

 

Heute sind nur noch wenige der damals gegründeten Plattformen aktiv. Hierzu gehören Ourscreen (Arthouse) in Großbritannien, Gathr Films (Familienkino) und tugg (non-theatrical, eductional) in den USA. Die meisten Kino-on-Demand-Plattformen wurden interessanterweise in Australien und in Spanien gegründet, von denen einige noch aktiv sind. In Australien und Spanien sind auch die Geschäftsmodelle ausdifferenzierter als anderswo. So hat sich zum Beispiel FILM2 auf die Organisation von Filmvorführungen in Kulturzentren und multifunktionalen Sälen spezialisiert, weil es das Ziel verfolgt Filmkunst in kinolose Regionen zu bringen (s.a. Grafik oben). Ebenfalls geographisch weit verbreitet, aber mit einem Katalog von nur 200 Filmen, hat sich VeoBeo auf anspruchsvolle Independent-Filme spezialisiert und wird dafür vom spanischen Kulturministerium unterstützt. Die jüngste und zugleich erfolgreichste spanische Plattform ist jedoch Screenly.

 

Screenly wurde 2015 von der innovativen Love Streams S.L. („we make responsive cinema“) in Barcelona gegründet. Gegenwärtig hat Screenly 12.000 registrierte Benutzer und zeigt Filme auf 400 Leinwänden. Screenly arbeitet auch mit Filmschulen und Filmfestivals als ‚Kuratoren‘ zusammen. Der Katalog umfasst von Independents über Mainstream-Filme bis zu Filmklassikern ein breites Spektrum. Screenly spricht nicht nur Kinogänger und Kinobetreiber an, sondern unterstützt auch Filmemacher und Produzenten beim Vertrieb ihrer Filme.

 

Aus Australien kommt – seit Herbst 2018 auch in Deutschland – Demand.Film. Die Grundidee des Crowd Ticketing ist dieselbe wie bei allen Kino-on-Demand-Anbietern. Demand.Film startet aber mit neuen Konzepten der Verbreitung und der Einbindung potentieller Kinobesucher. So sollen Fehler und Schwächen der gescheiterten Vorgänger vermieden werden. Dazu gehört auch die Strategie möglichst viele „Gastgeber (hosts)“ als Multiplikatoren, die sich selbst um Buchungen kümmern, für Filmvorführungen zu gewinnen. Als Anreiz werden Nutzer der Plattform, die ihren Freundeskreis mobilisieren, Trailer verbreiten oder einen Film in den Social Media weiterempfehlen, belohnt. Zu diesem Zweck hat Demand.Film eine eigene Kryptowährung, die Screencreds, auf der NEM Blockchain als Bezahlungssystem eingeführt. Die Blockchain-Technik dahinter dient aber nicht nur der Auszahlung von Token, die gegen Kinokarten getauscht werden können, sondern registriert und berechnet zugleich die Aktivitäten und Erfolge der Plattformnutzer.

 

Demand.Film ist außerhalb Australiens bereits in Großbritannien, Irland, Kanada, Neuseeland und den USA vertreten. Zum Netzwerk gehören 2.500 Leinwände. Der Einstieg in Deutschland bedeutet zugleich die Markteinführung in Kontinentaleuropa.

Hauptpartner ist hier die CineStar-Gruppe, die bislang selbst zu einem australischen Konzern gehört. Überwiegend werden Genrefilme und Dokumentarfilme angeboten. Ähnlich, aber noch viel ausgeprägter als bei Screenly setzt Demand.Film auf die Direktverbreitung von Filmtiteln, die keinen Verleih haben. Damit werden aufwändige Absprachen und Abrechnungen mit Filmverleihen überflüssig. Solche Kino-on-Demand-Modelle schalten den Akteur Filmverleih als Zwischenhändler aus, indem sie diese Rolle allerdings selbst übernehmen. In Pilotprojekten geht Demand.Film noch einen Schritt weiter und erprobt auch die Abrechnung der Filmeinsätze mit der Blockchain-Technik und die Lizenzzahlung in der eigenen Kryptowährung.

 

Als Pilotfilm zur Markteinführung in Deutschland hat Demand.Film die anarchische Sci-Fi-Komödie „Schneeflöckchen“ auserkoren. Der Film entstand ohne Filmförderung oder Fernsehbeteiligung – nur von einer Crowdfunding-Kampagne unterstützt. Regisseur, Produzent und Schauspieler Adolfo Kolmerer meinte in einem Interview dazu, »Das Vertriebskonzept von Demand.Film ist eine gute Alternative zur klassischen Filmauswertung und hervorragend geeignet für Nischenprodukte wie „Schneeflöckchen“, für Dokumentarfilme und Low-Budget-Filme« (black box 276, 10/2018). Für eine Beurteilung ist es noch zu früh. „Schneeflöckchen“ startete im September und wird momentan an fünf Terminen im Dezember angeboten, von denen allerdings aktuell erst eine Vorstellung (in Köln) die nötige Mindestzahl an Besuchern erreicht hat.

 

Der Rückgang der Besucherzahlen in Kinos, insbesondere unter den jüngeren Altersgruppen, ist weitgehend – da sind sich fast alle Studien einig – mit der zunehmenden Akzeptanz von Video-on-Demand als alternatives Angebot zum Filmegucken zurückzuführen. Es ist deshalb leicht nachzuvollziehen, das die Auswerter von Filmen im Kino versuchen Elemente des On-Demand-Modells und der Social-Media-Kommunikation samt ihrer Nutzergruppen für sich zu instrumentalisieren. So könnte der Onlinesektor vielleicht dem Kino etwas von dem zurückgeben, was es ihm genommen hat. Wie aber die ersten, gescheiterten Kino-on-Demand-Initiativen zeigen, lassen sich die Modelle nicht einfach ineinander integrieren. Viele der frühen Plattformen sind an eher banalen Umständen gescheitert, wie zum Beispiel der Fehleinschätzung über die Verbindlichkeit von Teilnahmezusagen von jungen Menschen, die aus der anderen Kultur der schnellen und unverbindlichen Likes kommen.

 

Viel gravierender ist wohl, das fast alle Kino-on-Demand-Initiativen schlicht übersehen (und das ist für Kinovertreter eigentlich überraschend), dass es sich bei Kino und Videostreaming um zwei gänzlich verschiedene Kulturpraxen handelt. Die neue Branche spricht in diesem Zusammenhang von User Experience. Zu einer gelungenen User Experience gehören Merkmale, die das Kino schlicht nicht liefern kann. Die wichtigsten Vorteile aus Sicht der Nutzer sind nämlich die zeitliche und örtliche Souveränität und individuell personalisierte Angebote. Streaming Videos können jederzeit und an jedem Ort auf eigenen Endgeräten ohne Absprachen individuell konsumiert werden. Das kann und will Kino nicht. Aber nicht nur die Rezeptionsform unterscheidet sich. Auch die präferierten Inhalte unterscheiden sich, wenn auch nicht so deutlich. Auf VoD-Kanälen werden eher kürzere Formate als die fürs Kino typischen abendfüllenden Filme bevorzugt. Und am Populärsten sind derzeit eindeutig Serienformate, die im Kino wohl kaum sinnhaft programmiert werden können.

 

Zumindest in einem Punkt muss man aber den Souveränitätsvorteil für Konsumenten von Online-Medien, nämlich bei der Auswahl aus einem viel breiteren Angebot, kritisch hinterfragen. Denn dieser Vorteil wird gleichzeitig von den selben Social-Media-Strategien untergraben, die mit ihren Rankings und Empfehlungsstrukturen zwangsläufig Echokammern und Filterblasen produzieren, also das tatsächlich wahrgenommene Angebot wieder einschränken.

 

Kino-on-Demand-Initiativen haben diese Erfahrung bereits gemacht insofern beobachtet wurde, dass die Nachfragen letztlich die Trends des Box-Office-Kino spiegeln. Um jenseits des Mainstreams ambitionierte ‚Nischenproduktionen‘, die außerhalb der öffentlichen medialisierten Wahrnehmung stehen, zu vermitteln, muss mehr getan werden, als sie einfach nur in einen Online-Katalog zu stellen. Das lokale Kino um die Ecke hat da, wenn es seine Potentiale nutzt, einen Vorsprung, insofern sein Publikum dem Betreiber vertraut und auch Filme von unbekannten Autoren besucht, die nicht auf allen Kanälen beworben werden.

 

Manche Vorteile von Social Media begleiteten Kino-on-Demand-Systemen ließen sich aber produktiv umsetzen: die nicht zu unterschätzende Vernetzungsleistung, die viel effektiver – auch im Nahraum des betreffenden Kinos – den Long Tail der Interessenten an bestimmten Themen und Filmtypen erreicht. Auch das Host-Modell verspricht Chancen. So könnten Gastgeber aus NGOs, lokalen Vereinen, zivilgesellschaftlichen oder subkulturellen Gruppen ihre Insider-Kontakte für Einladungen zu Screenings nutzen, die sonst nie stattfinden würden.

 

Bestechend an dem Modell ist natürlich auch, dass nur geringe finanzielle Risiken eingegangen werden müssen. Denn, Filme oder Vorstellungen, die nicht nachgefragt werden, finden einfach nicht statt. So zahlt das Kino bei Nichtgelingen keine Filmmieten und trägt keine oder nur geringe Personalkosten. Auch der Filminteressent, der einen Platz reserviert hat, bezahlt nur, wenn die Vorstellung tatsächlich stattfindet.

Und für alle Filmanbieter, die auf dem traditionellen Film- und Kinomarkt keine Chance bekommen – seien es unabhängige Produzenten, aber etwa auch Anbieter von Kurzfilmprogrammen – ist Kino-on-Demand zumindest eine Überlegung wert.

 

 

Links:

Demand.Film

FanForce (AUS)

Film2 (ES)

Gathr Films (USA)

I like cinema (F)

ourscreen (UK)

Rain Network (BR)

Screenly (ES)

tugg (USA)

We Want Cinema (NL, Abschiedsseite) / PowerPointSlide Pitch 2012

VeoBeo (ES)