Filmfestivals: raumzeitliche Ausdehnung führt zu Verwerfungen in der Kino- und Festivallandschaft

Analyse

Fiktionaler Festivalkalender 2021,  © rww CC BY 2.0 (Vorlage Festivalkalender der AG Kurzfilm 2020)

Zu Beginn der Pandemie, als überall Kinos komplett geschlossen wurden, hatten Filmfestivals nur die Wahl zwischen absagen oder online zu gehen. Seit den Lockerungen für Kinos, also in Deutschland seit Juni/Juli, entspannte sich die Lage. Kinos investierten in Hygienemaßnahmen, um wieder öffnen zu können. Die Festivals schöpften Hoffnung, sind aber mit dem Problem konfrontiert, dass an ihren herkömmlichen Veranstaltungsorten die Platzkapazitäten schrumpften. Festivals reagierten schnell und flexibel, indem sie sich zuerst räumlich und dann auch zeitlich ausdehnten.

 

 

Räumliche Ausdehnung

 

Es ist eigentlich ganz logisch: wenn es an einem Ort zu eng wird, muss man sich ausbreiten. In größeren Städten haben Filmfestivals dafür teils Open-Air-Gelände, teils größere Kinos, gesucht. interfilm Berlin, zum Beispiel, hatte diese Absicht: »Einige kleinere Spielorte der letzten Jahre müssen wir dieses Jahr pausieren lassen, doch neue kommen hinzu«[1].

 

Dort, wo das nicht möglich war oder nicht reichte, dehnten sich Festivals geographisch aus. Eines der ersten Filmfestivals, das auf diese Idee kam, war wohl das Sundance Festival. Zunächst wurde die Ausdehnung für 2021 auf ganz Utah ins Auge gefasst. Im Juni verkündete die neue Leiterin Tabitha Jackson dann zusätzliche Spielorte an, »We are in exploratory discussions with cinemas from LA to Louisville, from New York to Nashville, from Austin to Atlanta, from Detroit to Denver, from Minneapolis to Mexico City — with many more to come«[2].

 

Die Ars Electronica ging sogar »an 120 Orten rund um die Welt und im Netz über die Bühne«.[3]

 

Unter den größeren Festivals in Deutschland hatte die Duisburger Filmwoche einen ähnlichen Plan. Im Juli verkündete das Festival man wolle, um Filme weiterhin auf der großen Leinwand zeigen zu können, Auslesen des Festivalprogramms auch in anderen Städten zeigen. In sechs ausgewählten Kinos in Deutschland, Österreich und der Schweiz sollten Anfang November „Satellitenprogramme“ gezeigt werden. Wie wir heute wissen, machte der zweite Lockdown diesem Vorhaben, mit der Ausnahme Zürich, einen Strich durch die Rechnung. Andere Festivals, die sich ausdehnen wollten, wurden von ihren Standort-Förderern ausgebremst.

 

Einschätzung: das Ausweichen auf Open-Air-Locations und größere Veranstaltungsorte ist für Festivals eine Lösung. Allerdings suboptimal, da sie ihr Festivalzentrum verlieren. Und kleinere Kinos werden im Stich gelassen werden. Die Ausdehnung über die Stadt-, Landkreis- oder Landesgrenzen kann förderungspolitisch nachteilig sein. Aus vermutlich eben diesem, gutem Grund betonte Tabitha Jackson ausdrücklich die 40jährige Verbundenheit des Festivals mit seinem Bundesstaat.

Noch nicht absehbar ist, welche Folgen es auf andere Festivals hat, wenn größere Festivals Satellitenprogramme in Städten veranstalten, die ihre ‚eigenen‘ Festivals haben.

 

 

Zeitliche Ausdehnung

 

Der nächste logische Schritt ist die Ausdehnung der Festivaldauer. Manche Festivals kombinierten die geographische Ausdehnung mit einer zeitlichen Verlängerung. So versprach Crossing Europe (Linz) ein „Festivalfeeling in Etappen“: »Über vier Monate erstreckt sich diese cineastische Entdeckungsreise quer durch Europa«[4]

 

Das erste Kurzfilmfestival, das eine zeitliche Ausdehnung ankündigte, war die Aesthetica Short Film Competition. Ursprünglich für den 4. bis 8. November vor Ort in York angekündigt, dehnte sich Aesthetica auf fast einen Monat aus! Nämlich vom 3. bis 30. November – allerdings fast auschließlich online. Verlängert haben auch das L’Alternativa Festival Barcelona (um sieben Tage bis 29.11.) und das hybrid geplante IDFA Amsterdam (um sieben Tage bis 06.12.).

Auch interfilm Berlin hat sein Angebot – anders als geplant, nur online – verlängert: Das Programm ist vom 10. November bis 13. Dezember auf der Streamingplattform Sooner zu sehen. Und die Kurzfilmtage Oberhausen planen eine Verlängerung mit Online-Wettbewerben an vier Tagen vor dem physischen Festival (5. – 10. Mai)[5].

Die Online-Dauer eines Festivals ist ein Sonderfall der zeitlichen Ausdehnung. Nicht an Orte gebunden kommen sich die Festivals wechselseitig ins Gehege, denn das Internet löst Zeit vom Raum.

Einschätzung: schwer zu sagen! Dafür ist es noch zu früh. Man könnte philosophisch werden. Das lineare fest getaktete und verortete Zeitkonzept ist aus den Fugen. Die Zeit wird elastisch, verflüssigt sich. Das zwingt uns ebenso elastisch zu reagieren. Nur Film kann Zeit einfangen, ohne sie aufzuhalten, sagte Andrej Tarkowskij[6], aber Festivals können ihn nur zeigen.

 

Fazit: Eines steht schon fest und das sagt mir ein Blick in meine Mailbox: In dem ohnehin festivalstärksten Monat November konkurrieren so viele Online-Filmangebote[7] um die, nicht unerschöpfliche Aufmerksamkeit potentieller Zuschauer, wie nie zuvor. Und, da sicher ist, dass irgendwann wieder Lockerungen mit neuen Auflagen kommen werden, deren Regeln sich ‚mitten im Spiel‘ ändern, ist auch sicher, dass Verschiebungen und Verlängerungen ein heilloses Chaos im normalerweise stabilen Jahresfestivalkalender anrichten.

 

 

[1] Pressemitteilung „interfilm findet statt!“ vom 22.09.20

[2] Offener Brief „Dear friends“ (Aktualisierung: PM vom 03.12.20)

[3] Pressekonferenz, 01.09.20

[4] Pressemitteilung „Crossing Europe EXTRACTS“, 31.09.20

[5] PM vom 22.09.20 

[6] Die versiegelte Zeit – Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films (2012 in der Übersetzung v. Hans-Joachim Schlegel); geplante Neuauflage Februar 2021

[7] siehe auch: „Zuviel Content

 

 

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