Die verborgene Filmgeschichte Argentiniens

Analyse

MARABUNTA (1967) Registro documental, original 16 mm © Narcisa Hirsch

Die synonyme Verwendung der Begriffe „Experimentalfilm“ und „Avantgardefilm“ ist ein relativ junges Phänomen: In Deutschland hatte die Bezeichnung eines Werkes als „experimentell“ lange Zeit eine negative Konnotation. Das hängt damit zusammen, dass einflussreiche Autoren wie Hans Magnus Enzensberger (Die Aporien der Avantgarde, 1962) oder Siegfried Kracauer (Theorie des Films, 1964) in den bewegten 1960er Jahren von Kunst im Allgemeinen verlangten, dass sie nicht „lebensfremd“ neben oder außerhalb der Gesellschaft stattfinde, sondern Verantwortung übernehme. Ihrer Lesart nach hatte Avantgardekunst einen gesellschaftlichen Wert; dem Experiment dagegen wurde Unverbindlichkeit und damit „Wertlosigkeit“ zugeschrieben. Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre entstanden auf dem ganzen amerikanischen Subkontinent ästhetisch „neue Wellen“, wie das Cinema Novo in Brasilien oder das Tercer Cine in Argentinien und mit ihnen Schlüsselwerke des lateinamerikanischen Kinos, die als Avantgarde definiert wurden. Tatsächlich handelt es sich dabei um engagierte Kunst, die das Kino von seinen kommerziellen Zwängen und ganz Lateinamerika von den Fesseln des Neokolonialismus sowie den sich ausbreitenden Militärdiktaturen befreien sollte.

Die weltweite Kanonisierung des lateinamerikanischen Avantgardefilms setzte in Deutschland ein – und zwar zu dem Zeitpunkt, als der Publizist Peter B. Schumann seine Mitarbeit bei der Berlinale begann. Er öffnete das Festival mit zwei Filmreihen für das Neue lateinamerikanische Kino und veröffentlichte maßgebliche Handbücher zum lateinamerikanischen (Avantgarde-)Film – mit für sich sprechenden Titeln wie Kino und Kampf in Lateinamerika. Verbunden mit diesem Kanonisierungsprozess des militanten Kinos durch diese Publikationen, die selbst heute noch auf internationaler Ebene zu filmgeschichtlichen Standartwerken zählen, ist eine bedauerliche Nicht-Beachtung des lateinamerikanischen Experimentalfilms, zu dessen wichtigsten Vertreter*innen Narcisa Hirsch (*1928) und Marie Louise Alemann (1927-2015) zählen. Sowohl Narcisa Hirsch als auch Marie Louise Alemann wurden in Deutschland geboren, mussten aber bereits in früher Jugend das Land nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlassen. Sie lernten sich Mitte der 1960er Jahre in Buenos Aires kennen, wo ihre Familien eine neue Heimat gefunden hatten und traten zunächst mit Performances und (illegalen) Happenings, etwa mit der ‚anthropophagischen Zeremonie’ Marabunta (1967), an die Öffentlichkeit.[1] In der Folge schufen die beiden Œuvre, das ein außergewöhnlich breites ästhetisches und konzeptionelles Spektrum aufweist und etablierten sich ab Mitte der 1970er Jahre als Protagonist*innen der so genannten Grupo Goethe. Die Mitglieder der Grupo Goethe – neben Hirsch und Alemann zählten dazu noch Claudio Caldini, Juan Villola, Horacio Vallereggio, Jorge Honik oder Juan José Mugni – wiesen nicht unbedingt einen gemeinsamen Stil auf, die Filmemacher*innen verband aber eine Freundschaft, eine gelegentliche Zusammenarbeit, vor allem aber der institutionelle Rahmen des Goethe Institutes.

MARABUNTA (1967) Registro documental, original 16 mm © Narcisa Hirsch

 

In einem zunehmend repressiven politischen Klima im Land, bot die politisch dem deutschen Auswärtigen Amt unterstehende Einrichtung in Buenos Aires der Gruppe – bedingt auch durch die deutschen Wurzeln von Narcisa Hirsch und Marie-Louise Alemann – einen geschützten Raum, in dem sie ihr „Untergrundkino“ präsentieren konnten. Zusätzlich dazu wurden Künstler*innen wie Jeanine Meerapfel, Jutta Brückner, Peter Lilienthal, Werner Herzog, Werner Schroeter und Werner Nekes eingeladen, die Workshops anboten, in denen es zum interkulturellen Austausch kam. Das Goethe Institut positionierte sich deutlich politisch – durch die Auswahl der Gäste[2], selbst durch die Auswahl der gezeigten Retrospektiven[3] und riskierte dabei bewusst diplomatische Skandale – so endete der Workshop Schroeters „Tango y realidad en Argentina en 1983” mit der Ausweisung des Regisseurs aus Argentinien.[4]  Auf künstlerischer Ebene war es der Workshop Werner Nekes’ im Jahr 1980, der die Grupo Goethe am meisten beeinflusste: Narcisa Hirsch schuf zusammen mit Nekes den Kurzfilm La noche bengali (1980); Claudio Caldini wies in einem per Mail geführten Interview darauf hin, dass die Arbeiten von Nekes formalen Einfluss auf seine eigenen Werke wie Un enano en el jardín (1981), Gamelán (1981), Tiempo cerrado (1982), La escena circular (1982) hatten.[5]

LA NOCHE BENGALI (1980) original 16 mm © Narcisa Hirsch / Werner Nekes

 

Die Regisseure der Grupo Goethe griffen zwar im Gegensatz zu ihren Landsleuten, die als Avantgardefilmer subsummiert wurden, die regierenden Militärdiktaturen nicht direkt an, ihre Werke galten dennoch als latent subversiv; ganz einfach, weil die Militärs die freie Form ihrer Filme schlichtweg nicht verstanden. Das reichte in dieser Zeit bereits aus, um verdächtig zu werden.

Die Filme Narcisa Hirschs, die bis in die 1980er Jahre auf dem ‚intimen’ Format des Super 8-Films gedreht wurden, reflektieren die Beschäftigung der Regisseurin mit Musik, Literatur, der bildenden Kunst, mit Mystizismus (Rumi, 1995/1999) oder mit der Psychoanalyse (Pink Freud, 1973). Empfindung, Atmosphäre oder Sinneseindrücke in der beeindruckenden Landschaft des argentinischen Südens (Patagonia, 1972/1973; Diarios Patagónicos 1972/1974)), aber auch Empathie und sinnliche Wahrnehmung (Ama-Zona, 1983) gelten für sie mehr als direkte politische Agitation.

Das Politische ist aber dennoch als Spur in ihren Filmen präsent. Verschiedene, selbst frühe Arbeiten reflektieren politische Ereignisse, oftmals nur als Zitate, die entschlüsselt und gedeutet werden müssen. Come out von 1971 beispielsweise, eine Hommage an den kanadischen Filmemacher Michael Snow, löst in minimaler Kamerabewegung und Veränderung der Einstellungsgröße eine mikroskopische Ansicht auf den Tonarm eines Plattenspielers auf, der eine Schallplatte des Minimal Music-Pioniers Steve Reich abspielt. Das verleiht dem Film eine kontemplative Qualität. Das Stück von Reich besteht aus einem einzigen Satz, „I had to, like, open the bruise up, and let some of the bruise blood come out to show them”, der wiederholt, fragmentiert und verfremdet wird. Während auf der Bildebene ein immer größerer Ausschnitt sichtbar wird, wird das Loop auf der Tonebene immer weiter verdichtet, bis nur noch ansatzweise die Wörter „Come out“ zu verstehen sind. Narcisa Hirsch löst den Satz (der aus der Gerichtsaussage eines nachweislich unschuldigen und willkürlichen Opfers von rassistischer Polizeigewalt in den Südstaaten der USA stammt) aus ihrem Kontext heraus und überträgt ihn in das eigene Umfeld: 1971 wurde Argentinien von einer repressiven Militärdiktatur regiert, bei der Menschen aufgrund ihres Aussehens auf den Straßen aufgegriffen und verhaftet wurden.

 

AMA-ZONA (1983) original Super 8 © Narcisa Hirsch

 

Und kann nicht die mythische Kriegerin in ihrem Film Ama-Zona ein Verweis auf die mutigen Kämpferinnen für Menschenrechte während der Militärdiktatur (1976-1983), die Madres de la Plaza de Mayo, sein? Die Rezeption ihrer Filme verlangt einen aktiven Zuschauer, der die verschiedenen Verbindungen (von mitunter heterogenen Ideen und Formen) für sich verknüpfen muss. Das gleiche gilt auch für die Arbeiten Marie Louise Alemanns, die mit einer mal offenen mal enigmatischen Symbolsprache arbeiten, die von den Zuschauer*innen entziffert werden oder die auf Bild- und Tonebene Gegensätze herstellen, die von den Rezipient*innen intellektuell aufgelöst werden müssen. In den eher performativen Filmen Alemanns, die ihren Ausgangspunkt in autobiographischen Szenarien haben (z.B. Escenas de mesa (1979) oder Autobiográfico 2 (1974)) geht es immer wieder um Transformationsprozesse, Selbstbefreiung oder den Ausbruch aus überkommenen Ritualen; man kann aber auch eine politische Sichtweise auf geschlechterspezifische Fragen erkennen, welche etwa die von den Militärs in dieser Zeit propagierten Geschlechterrollen dekonstruieren. Ein Queer-Cinema wird in Legitima Defensa (1980) vorweggenommen, der in Paris und Buenos Aires gedrehte Kurzfilm Umbrales (1980), deutet intersektionale Repression und Exilerfahrungen an.

Im öffentlichen Raum hätten ihre Arbeiten, trotz der privilegierten und einflussreichen Stellung Marie Louise Alemanns[6] bis zum Jahr 1983 nicht aufgeführt werden können, das Goethe Institut bot den Experimentalfilmer*innen also nicht nur logistische Unterstützung, sondern im wahrsten Sinne des Wortes, einen Freiraum: „The screenings and discussions of experimental film in the late 1970s at the Goethe Institute of Buenos Aires […] constituted one of the scarce experessions of radical dissidence and resistance to the official culture of the dictatorship in Argentine cinema“.[7] Die Regisseur*innen der Grupo Goethe schrieben, eine im Sinne von Jorge Luis Borges ‚verborgene Filmgeschichte’, die lange Zeit in keiner Chronik auftauchte, die aber Ergänzungen und neue Perspektiven auf die kanonisierte Filmgeschichte des politischen Kinos der 1960er und 1970er Jahre bietet. Eine späte Würdigung der Grupo Goethe findet aber dennoch statt, durch anhaltende verschiedene nationale und internationale Retrospektiven, beginnend mit der Werkschau von Claudio Caldini und Narcisa Hirsch im MALBA (Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires) 2010; durch wissenschaftliche Publikationen,[8] oder durch die Dokumentationen Hachazos (über Claudio Caldini) von Andrés di Tella (2011); Butoh (über Marie Louise Alemann) von Constanza Sanz Palacios (2013); Reflejo Narcisa (Silvina Szperling, 2015) sowie Narcisa (Daniela Muttis, 2014).

 

ALEPH (2005) Beta SP © Narcisa Hirsch

Die Geschichte des argentinischen experimentellen Kurzfilms ist fragmentarisch und episodisch. Ein neues Kapitel, das aber formal durchaus an die Geschichte der Grupo Goethe anknüpft schreiben derzeit Regisseur*innen wie Ernesto Baca, Pablo Marín, Paulo Pécora, Magdalena Jitrik, Leandro Listori, Melina Parfundi, Daniela Muttis oder Melisa Aller, wobei letztere mit ihrem Film Caída (2019) sogar bei den diesjährigen Internationalen Kurzfilmtagen von Oberhausen im Wettbewerb vertreten war. Auch Narcisa Hirsch ist mit 91 Jahren noch aktiv. Ihr jüngstes Werk heißt Kosmos: The Uncertainity (entstanden in Zusammenarbeit mit Ruben Guzmán und Robert Cahen, 2018). Woraus ihr „Kosmos“ besteht, zeigte sie bereits in ihrer Borges-Adaption El Aleph (2005). Sie reduziert dort die Handlung der kurzen Erzählung aus dem Jahr 1949 auf 60 Bilder in 60 Sekunden, die sie mit einer Stimme aus dem off unterlegt. Sowohl in der Erzählung wie auch in der Adaption, ist der ganze kosmische Raum in einem Punkt, in dem „Aleph“, vereint. Narcisa Hirschs „Aleph“ zeigt Bilder aus den Filmen, die sie im Laufe von 30 Jahren gedreht hat.

 

 

[1] Dokumentiert wurde Marabunta von Raymundo Gleyzer, einem der (kanonisierten) Filmemacher*innen, die ihren Aktivismus unter der argentinischen Militärdiktatur 1976-1983 mit dem Leben bezahlen sollten.

[2] So waren beispielsweise die Filme Peter Lilienthals in Argentinien bis 1983 verboten.

[3] So erinnert sich die argentinische Soziologin Beatriz Sarlo an ihre Besuche im Goethe Institut: „Ich habe Deutsche gesehen, die mitten in einem Film von Fassbinder fluchend hinausgingen. […] Die deutsche Gemeinschaft, wie alle ausländischen Gemeinschaften, war reaktionär. Damals, während der Diktatur, präsentierte ihnen das Institut die revolutionärsten Filme von Fassbinder, Wim Wenders – er ist nicht so revolutionär, aber die ersten Filme von Wenders schon – und Alexander Kluge. So hat uns das Institut gewonnen, hat uns Argentiniern den Hof gemacht, damit wir Schlange standen, um in den Filmsaal zu gelangen – und die deutsche Gemeinschaft zum Gehen bewogen.“ Zitiert nach Anna Kaitinnis: „Botschafter der Demokratie. Das Goethe Institut während der Demokratisierungsprozesse in Argentinien und Chile“. Wiesbaden 2018. S. 164.

Zwischen 1979 bis 1985 arbeitete Marie Louise Alemann sogar als Kuratorin für die Filmabteilung des Goethe-Instituts Buenos und war damit maßgeblich an der Auswahl der eingeladenen Gäste beteiligt. Sie hatte in den 1970er Jahren als Journalistin für das Argentinische Tageblatt unter anderem die Berlinale-Berichterstattung abgedeckt. Viele der eingeladenen Filmemacher*innen hatte sie auf ihren Reisen nach Europa kennengelernt.

[4] Dokumentiert ist dieser Skandal in dem Artikel „Las alas del deseo“ von Mariano Kairuz in der Kulturbeilage Radar der Tageszeitung Página/12 vom 11.8.2013 anlässlich der ersten Gesamtschau der Filme Werner Schroeters in Argentinien. Schroeter hatte mit der Kamera den geschützten Raum des Goethe Instituts verlassen und beispielsweise Vertreter*innen von Menschenrechtsorganisationen vor der Kamera interviewt. Obwohl das Militär seit der Niederlage im Krieg um die Islas Malvinas/Falklands (1982) in der Defensive befand, wurde dem Leiter der deutschen Institution mitgeteilt, dass das Goethe Institut (das sich mitten im Stadtzentrum von Buenos Aires befindet) in die Luft gesprengt werde, wenn Schroeter nicht unverzüglich das Land verlasse. Siehe: https://www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/radar/9-9049-2013-08-17.html (Letzter Zugriff am 28.5.2019)

[5] Das Interview wurde am 29.5.2019 per Mail geführt.

[6] Marie Louise Alemann hatte in eine politisch einflussreiche Zeitungsverlegerfamilie eingeheiratet, die auch unter der letzten Militärdiktatur (1976-1983) einen Staatssekretär und einen Minister stellte. Sie war damit vor Repression geschützt.

[7] Zititert nach Andrés di Tella. Di Tella beschreibt auch das Schicksal von Regisseur*innen aus dem weiteren Umfeld der Grupo Goethe, die keine institutionelle Unterstützung, keinen kreativen Freiraum hatten: „One of Claudio Caldini’s closest friends, filmmaker Tomás Sinovic, […] was abducted by the military along with his films, never tob e seen again.“ Andrés di Tella: „Experimental Film“. In Directory of World Cinema: Argentina (Hrsg. Von Beatriz Urraca/Gary M. Kramer), S. 235-239. Hier: S. 236.

[8] Man kann etwa die Monographie Narcisa Hirsch: cátalogo (Hrsg. von Alejandra Torres, Buenos Aires 2010), den jüngst erschienenen Sammelband Ismo Ismo Ismo (Hrsg. von Jesse Lerner/Luciano Piazza, Oakland 2018) oder die Publikationen Federico Windhausens nennen. Letztgenannter verwaltet zudem das filmische Erbe Marie Louise Alemanns.