Armenische Kurzfilme auf dem Weg zur Neuerfindung eines nationalen Kinos

WORLD (USA/Armenien, 2020) © Christine Haroutounian

Der Kurzfilm, ein Synonym für eine gewisse künstlerische Freiheit in der vermeintlich von hohen Budgets abhängigen Filmindustrie, könnte eine entscheidende Rolle im Prozess der Neuerfindung eines nationalen Kinos spielen. Der Einfallsreichtum und die ästhetische Vielfalt der neuesten armenischen Kurzfilme fielen mir bereits 2021 auf, als ich das erste Mal das Golden Apricot Yerevan International Film Festival besuchte. Der Apricot Stone-Wettbewerb für Kurzfilme bietet dem lokalen Kino eine gute Gelegenheit, sich in einem internationalen Umfeld, aber auch in seinem eigenen kulturellen Kontext zu präsentieren. Da die Sektion Filme aus der weiteren Region zeigt, werden neben Titeln aus dem Kaukasus und dem Nahen Osten auch zahlreiche armenische Filme gezeigt.

In der Zwischenzeit positioniert sich Golden Apricot unaufdringlich, aber bestimmt als das führende Filmereignis im Kaukasus – nicht nur mit seinem starken GAIFF Pro Industrieprogramm, das Projekten aus der Region die Möglichkeit bietet, passende Unterstützung bei der Entwicklung und Finanzierung zu finden, sondern auch durch sein Filmprogramm, für das die Förderung regionaler Produktionen von größter Bedeutung ist, wie der künstlerische Leiter Karen Avetisyan in einem Interview für Cineuropa[1] bestätigte. Seiner Ansicht nach ist es noch zu früh, um von einem „neuen armenischen Kino“ als eigenständige stilistische Bewegung zu sprechen, aber bestimmte institutionelle Strategien könnten seine Entstehung fördern: Es ist geplant, in Eriwan eine internationale Schule zu gründen, die auf dem Konzept der Moskauer Schule des neuen Kinos basiert, die von dem georgischen Filmemacher Dmitry Mamuliya gegründet wurde und der zufolge jedes Land seine eigenen „Dämonen des Kinos“ hat, deren Suche ein neues Kino formt und schafft[2].

Fast alle Kurzfilme in dieser Sektion repräsentieren die aufstrebende Generation, nicht nur, weil das kurze Kino vermutlich häufiger von Newcomern gemacht wird, sondern auch, weil das „filmische Denken“ in Armenien heute fast ausschließlich von prominenten Filmemachern erzeugt wird, erklärt Avetisyan für das bulgarische Kino Magazin[3]. Und weiter fügt er hinzu: „Es ist schwer, von einer neuen Welle zu sprechen, aber es ist definitiv der Anfang von etwas Turbulentem und Hellem, das noch kommen wird. Es geht nicht nur darum, denjenigen, die jetzt ins Kino kommen, eine angemessene Finanzierung zu bieten; der eigentliche Schlüssel liegt darin, ihre Stimmen zu hören.“

Für einen aussenstehenden Betrachter wie mich ist die visuelle Aura der armenischen Kurzfilme unverwechselbar und kraftvoll präsent, genau wie das reiche lokale Erbe der bildenden Kunst oder die scharf erkennbaren Gesichtszüge buchstäblich aller Armenier. Dieser filmische Reichtum zeichnet ein vielschichtiges und authentisches Porträt der zeitgenössischen armenischen Gesellschaft durch Poesie – erzählerisch und visuell. Die poetische Filmsprache, die in Sergey Paradjanovs außergewöhnlichem Werk, das als nationaler Schatz gilt, verwurzelt ist, ist ein identitätsstiftender und verbindender Code für die armenischen Kurzfilme, ganz gleich, ob sie das schmerzliche Thema des Krieges oder soziale Turbulenzen behandeln oder die individuellen Schwankungen der Lebenswelt eines Menschen aufzeigen. Ein weiteres gemeinsames Merkmal ist ihr reifer Inhalt, unabhängig vom Alter der Autoren, was vor dem Hintergrund des westeuropäischen Kurzfilms, der, oft „verwöhnt“ durch Fördermittel und Ausbildungsprogramme, in vielen Fällen vor allem mit der Form spielt und den Inhalt vernachlässigt, einen besonders starken Eindruck hinterlässt.

 

STORGETNYA (Frankreich/Armenien 2021) © Hovig Hagopian

Im Jahr 2021 nahmen neun armenische Filme am Wettbewerb um den Apricot Stone teil, von denen zwei verdientermaßen die Hauptpreise gewannen: Die Golden Apricot für den besten Film ging an die amerikanisch-armenische Koproduktion World von Christine Haroutounian, die die kontroversen Emotionen einer jungen Frau, die ihre bettlägerige Mutter in einem verlassenen Dorf pflegt, eindringlich schildert; die Silver Apricot für die beste Regie ging an den Dokumentarfilm Storgetnya von Hovig Hagopian, eine dokumentarische Beobachtung des ruhigen Alltags in einem speläologischen Therapiezentrum, das 230 Meter unter der Erde im Salzbergwerk Aran in der Nähe von Eriwan gebaut wurde. Beide Filmemacher*innen stammen aus der armenischen Diaspora in den Vereinigten Staaten bzw. Frankreich und repräsentieren damit die sieben Millionen Armenier, die im Ausland leben, gegenüber den knapp drei Millionen Einwohner des heutigen Armeniens.

 

ORPHANHOOD (Armenien, 2022) © Ovsanna Gevorgyan

Im Jahr 2022 wurden sieben armenische Titel in der Sektion gezeigt, von denen keiner mit einem Preis ausgezeichnet wurde, die jedoch das einheimische Filmschaffen mit ihrer Originalität und Phantasie bereichern. Das wohl kühnste Beispiel in diesem Sinne ist Ovsanna Gevorgyans Orphanhood, eine phantasmagorische Geschichte an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, in der es einem Wissenschaftler gelingt, seine Albträume zum Leben zu erwecken. Der visuelle Stil des Films fasziniert durch die widersprüchliche Kombination von Sci-Fi-Handlung und Vintage-Ästhetik, die sowjetische „futuristische“ Infrastruktureinrichtungen, Retro-Möbel in den Innenräumen, traditionelle Stickereien in den Kostümen usw. miteinander verbindet. Nostalgisch, hochgradig allegorisch und prophetisch in seiner Beklemmung, ist Orphanhood eine abgeschwächte Version einer apokalyptischen Dystopie, die mit einem kuriosen Ansatz präsentiert wird.

 

NEXT STATION PARADISE (Armenien, 2021) © Harut Makyan

Ein weiteres extravagantes Werk ist die schwarzhumorige, achtteilige Tragikkomödie Next Station Paradise von Harut Makyan über einen jungen Dichter und seine exzentrische Entourage, die durch die verfallende Stadtlandschaft einer Geisterstadt in der Provinz streifen, versuchen, einen Platz an der Sonne zu finden und den ständigen Schikanen ihrer Umgebung zu trotzen. Anstatt offen die soziale Isolation zu beklagen, zu der sensible Seelen in einer gottlosen und von postsowjetischer Verzweiflung geprägten Umgebung verdammt sind, zieht es Makyan vor, eine absurde Welt zu schaffen, in der traurige Situationen die Form einer surrealen postmodernen Ballade annehmen.

 

A LONELY NIGHT (Armenien, 2021) © Arnaud Khayadjanian

Auch Arnaud Khayadjanians A Lonely Night vermeidet es, Themen direkt anzusprechen, und berührt den anhaltenden militärischen Konflikt in Armenien nur aus der Ferne – der Protagonist ist besessen von seinen Pflanzen, um seine Zeit als Soldat im Berg-Karabach-Krieg zu vergessen, dies erfahren wir zwischen den Zeilen, durch ein mitternächtliches Gespräch mit seiner Schwester, das in mystischem Licht inmitten von bezauberndem Grün stattfindet.

 

KOREAN DELICACY (Armenien, 2021) © Harut Makyan

Hambardzum Hambardzumyans Korean Delicacy hingegen erzählt mit abstoßendem Realismus eine anekdotische Geschichte von alltäglicher Grausamkeit – der Hund eines Jungen wird Opfer eines grausamen Scherzes, den sich sein Vater und ein Kumpel aus purer Langeweile ausgedacht haben, auch dieser Film spielt in einer abgelegenen ländlichen Gegend. Trotz der Geradlinigkeit der Erzählung ist die Handlung selbst ein weiteres Mal absurd, zweideutig und schwer zu fassen.

 

EMMA (Armenien, 2022) © Martin Matevosyan

Drei armenische Kurzfilme vermitteln den weiblichen Blick, ohne darauf zu bestehen, feministisch im politischen Sinne zu sein. Martin Matevosyans Emma schildert recht unverblümt eine erstickende Familienatmosphäre, die die weibliche Freiheit einschränkt, und setzt sich so mit dem Thema häuslicher Gewalt auseinander.

 

CROSSING THE BLUE (Armenia, 2022) © Victoria Aleksanyan

Das in der armenischen Gesellschaft offenbar weit verbreitete Problem wird in Crossing the Blue auf subtilere Weise aufgegriffen, wo sich die Protagonistin den Behörden widersetzt, um mit ihrem Kind vor dem Missbrauch durch den Ehemann über den Atlantik zu fliehen. Die Themen, die hier im Mittelpunkt stehen, sind jedoch wesentlich existenzieller: die Abschiebung armenischer Emigranten in ihre Heimat, das Zögern vor Selbstmord und die komplexe Mutter-Sohn-Beziehung, die von Armine Anda in der Hauptrolle einer Mutter am Rande der Verzweiflung und der persönlichen Katharsis ausdrucksstark verkörpert wird.

 

WHEN I AM SAD (Armenien, 2021) © Lilit Altunyan

Sie überträgt diese kontroversen Emotionen und kanalisiert sie in einem universelleren Bild von Traurigkeit in dem rein poetischsten, wirklich persönlichen und sanftesten Werk aus der Auswahl, der haiku-ähnlichen gezeichneten Animation When I am Sad, bei der Lilit Altunyan Regie führte und die auf einem Gedicht von ihr basiert und von Anda selbst mitgeschrieben und gesprochen wurde. Das Gesicht eines Mädchens und die Natur um sie herum verwandeln sich in verschiedene Formen, die sich in Seufzern, spontan geäußerten Gedanken und unterschiedlichen körperlichen Zuständen manifestieren, und zittern nach den intimen Frequenzen des Gefühls der Traurigkeit und unbeständigen Stimmungen. Mit seinem asketischen, aber in seinen Ausdrucksmitteln reichhaltigen grafischen Stil, der organisch mit der Filmsprache kollidiert, gehört When I am Sad nicht von ungefähr zu den international erfolgreichen neuen armenischen Kurzfilmen, die von Spitzenfestivals wie Clermont-Ferrand, Oberhausen und Animafest Zagreb ausgewählt wurden.

 

Ein optimistischer Abschluss dieser kurzen Geschichte über ein wenig bekanntes Kino mit großem Potenzial ist wahrscheinlich die jüngste Ankündigung des neu angenommenen Gesetzes über Kinematographie in Armenien[4], das den lokalen Produzenten eine nicht rückzahlbare Unterstützung verspricht – ein großer Schritt nach vorn im Vergleich zum derzeitigen System, das eine Rückerstattung der aus den Einnahmen erhaltenen Mittel in Höhe des vom Staat investierten Prozentsatzes vorschreibt, der durchaus 40-50 % erreichen kann. Das Gesetz soll innerhalb eines Jahres verabschiedet werden, was ein vielversprechendes Signal dafür ist, dass in naher Zukunft weitere inspirierende Plots und individuelle Stimmen aus Armenien zu erwarten sind – die dominierende Vereinheitlichung in der globalisierten Filmwelt muss uns erst noch dazu bringen, ihre couragierte Einzigartigkeit zu schätzen.

 

 

 

 

[1] https://cineuropa.org/en/interview/427554/

[2] ebenda

[3] http://spisaniekino.com/archive-kino/spisaniekino-januari-2022/златната-кайсия-2021-рестарт-за-арменското-кино.html

[4] http://parliament.am/legislation.php?sel=show&ID=7743&lang=arm&fbclid=IwAR2fWnvl698AFntS-Ui8abISxVY1bPTAN_GVyFEG1xfPcDxM0tHBIgdjon8#1

 

 

 

 

 

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