„… ich wünschte ich könnte mehr für dich tun, ich wünschte wir könnten mehr für dich tun“. [1]

Ein geplanter Film, der niemals gedreht wurde, diente im April dieses Jahres als Vorwand, um die türkische Dokumentarfilmerin und Produzentin Çiğdem Mater als Unterstützerin der Gezi Park Proteste von 2013 zu einer Gefängnisstrafe von 18 Jahren zu verurteilen.

 

Çiğdem Mater beim Gezi Park Prozess, Istanbul, 24.6. 2019, Zeichnung © Murat Başol

 

Die damaligen Proteste, eine spontane, unorganisierte und führerlose Bewegung, sind mehr und mehr zu dem Exempel geworden, das die derzeitige Staatsmacht weiterhin gegenüber jeglichem Widerstand statuieren möchte. Zwar waren 2020 der Kulturförderer Osman Kavala[2] – Gründer der Stiftung Anadolu Kültür und schon seit 2017 inhaftiert – sowie sieben weitere Angeklagte, zu denen Mater zählte, vom Vorwurf des Umsturzversuchs freigesprochen worden. Jedoch werden die Stiftung mit ihren Aktivitäten für eine offene Gesellschaft, und damit alle, die mit ihr zu tun haben, von der Geheimpolizei der Regierung weiterhin besonders misstrauisch überwacht und sanktioniert.

 

Gezi Park Prozess, Istanbul, 18.7. 2019, Zeichnung © Murat Başol

 

Nach dem Freispruch, dem das Auswechseln des zuständigen Gerichts folgte, war der Fall neu aufgenommen und Kavala sofort wieder verhaftet und nach einem ‚ridiculous short trial’ im April 2022 schließlich zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.

Ebenso wurden Çiğdem Mater und die weiteren Angeklagten, darunter ein Stadtplaner, eine Architektin und ein Anwalt mit neuen hohen Haftstrafen belegt. Mater sitzt jetzt im überfüllten Frauen-Gefängnis Bakirköy. „… Alles Beton und Eisen“, beschrieb es die lange inhaftierte Schriftstellerin Aslı Erdoğan. 2020 war Mater zu einer Residency nach Deutschland gekommen, um rechtzeitig zum Prozessbeginn im Februar 2022 zurück in die Türkei zu reisen.

In der Reihe Un certain regard des diesjährigen Festivals in Cannes solidarisierte sich der Regisseur Emin Alper auf der Bühne mit seiner Co-Produzentin Çiğdem Mater. Für Filmemacher*innen in der Türkei ist es allerdings schon seit Jahren Usus, auf den Filmfestivalbühnen der Welt wieder und wieder an die vielen in der Türkei inhaftierten Kolleg*innen und Journalist*innen zu erinnern. Die politische Lage in der Türkei hat sich nochmals deutlich verschärft. Das Verfassungsreferendum von 2017 und die Einführung des Präsidialsystems gingen einher mit zunehmender Kriminalisierung jeglicher Opposition. Der Einfluss der Exekutive auf die Judikative eskalierte, wie in der Chronik dieses Justizskandals nachzuverfolgen ist. Der Europäische Gerichtshof verurteilt die Verurteilung Kavalas.

 

Gezi Park Prozess, Istanbul, 25. 4. 2022, Zeichnung © Murat Başol

 

Çiğdem Mater hat sich zuerst als Dokumentarfilmemacherin und in den letzten Jahren vermehrt als Produzentin und Co-Produzentin einen Namen gemacht. Für den Film HUMAN FLOW (2017) von Ai Weiwei organisierte sie bis zu zwanzig Teams in der Türkei. Sie wirkte an den Produktionen preisgekrönter Langfilme, dokumentarisch oder fiktional, aber auch einiger Kurzfilme – wie jüngst LETTERS FROM SILVIRI (2020) und DEAR OSMAN (2022) von Adrian Figueroa – mit. Figueroa hebt ihre gründliche und menschlich sensible hands-on-Vorbereitung für die Drehs hervor. Mater ist als wichtige, integre und gut vernetzte Figur aus der türkisch-deutschen Filmszene nicht wegzudenken. Nun arbeitet sie aus dem Gefängnis heraus.

 

 

Gezi Park Prozess, Istanbul, 22. 4. 2022, Zeichnung © Murat Başol

 

Gegen die Verurteilung von Çiğdem Mater protestieren auch hierzulande viele Institutionen, die schon lange mit ihr zusammenarbeiten: das Berliner Maxim Gorki Theater, die European Film Academy[3] und die Berlinale. Ein schönes Gespräch zu Maters Situation ist bei SWR2[4] zu finden. Neben ‚Free Osman Kavala’[5] gibt es nun auch die socialmedia-Aktionen ‚@freecigdemmater’.

Adrian Figueroas empfehlenswerte zwei Filme sind noch im Juni auf dem Online-Portal des Kinos Arsenal zu sehen.

 

[1] Brief an Osman Kavala im Film DEAR OSMAN von Adrian Figueroa, produziert von Çiğdem Mater, 2022

[2] https://www.gorki.de/de/can-duendars-theater-kolumne-27

[3] https://www.europeanfilmacademy.org/press/release-cigdem-mater/

[4] https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/produzentin-cigdem-mater-zu-18-jahren-haft-verurteilt-gezi-proteste-lassen-der-tuerkei-keine-ruhe-100.html

[5] https://www.osmankavala.org/en/