Quo vadis Kurzfilm? Notizen zum Status und zur Perspektive einer unterschätzten filmischen Gattung.

Hintergrund

Der wichtigste kinematografische Fundus, aus dem Retrospektiven mit Kurzfilmen auf Festivals schöpfen, gehört einer vergangenen Epoche an. Über mehrere Jahrzehnte hinweg entsprach es der Aufführungspraxis in Filmtheatern Europas und Nordamerikas, dass, bevor der Hauptfilm endlich gestartet werden konnte, ein mehrstufiges Vorprogramm ablief. Dies geschah teils aus wirtschaftlichen Gründen, teils aus Gründen der dramaturgischen Konvention. Nach dem Werbeteil folgte eine Wochenschau, danach ein Vorfilm, dann erst der Hauptfilm. Dieses Vorprogramm konnte insgesamt zwischen 20 und 45 Minuten dauern. Während die Funktion der Werbefilme naturgemäß eine kommerzielle und die der Wochenschauen eine mehr oder weniger ideologische war, kam dem Vorfilm die Funktion einer Pufferzone zu. Bevor das Publikum zum eigentlichen Teil der Abendveranstaltung geführt wurde, erfolgte eine quasi atmosphärische Konditionierung, eine Einstimmung auf das Hauptprogramm, das in der Regel von einem fiktional arbeitenden Langfilm bestritten wurde. Diese Struktur aus Werbung, Wochenschau, Vorfilm und Hauptfilm hatte systemübergreifend Bestand, hielt sich aber im Osten ein wenig länger als im Westen. Die Ursache für ihr Verschwinden liegt äußerlich in technischen Entwicklungen: Durch den Triumphzug des Fernsehens ab Beginn der 1950er Jahre in die zunächst kleinbürgerlichen, später in die allgemeinen Haushalte, wurden die Wochenschauen zunehmend obsolet1.  Über Antenne und Bildschirm ließen sich die Aktualitäten einfach viel schneller und effektiver vertreiben als über aufwendig auf Film gedrehtes und nachbearbeitetes Material. Parallel zu den technischen Veränderungen vollzog sich eine gewisse Demokratisierung der Rezeption. Im Kino wurde man zum Konsum der Wochenschau-Novitäten genötigt, im heimischen Haushalt verfügte man über die Entscheidungsgewalt des Ein- und Ausschaltens. Es ist ja auch kein Zufall, dass die Wochenschauen im bundesdeutschen Lichtspielwesen bis Anfang der 1970er Jahre Bestand hatten, in der DDR hingegen bis zum Ende des Jahres 1980.

Kurzfilme als Vorfilme in den Kinos waren meist Auftragswerke, hatten einen relativ klar umrissenen Zweck zu erfüllen. Je nach Dehnbarkeit der vorliegenden Rahmenbedingungen und vor allem auch abhängig von der Courage der beauftragten Filmemacher konnten diese Arbeiten angepasst oder subversiv, konventionell oder innovativ ausfallen. Dieser Spielraum wurde besonders unter totalitären Bedingungen spürbar. Bei den Recherchen zur Retrospektive „Ostwind“2  haben Anja Ellenberger und ich feststellen können, dass im sozialistischen Lager nicht nur zwischen den einzelnen Ländern eklatante Fallhöhen vorlagen, sondern auch innerhalb einzelner Länder zu verschiedenen Zeiten die Toleranzbereiche stark schwankten, ja sogar in ein und demselben Staat zum gleichen Zeitpunkt territoriale Unterschiede vorliegen konnten. Polen und Ungarn waren stets liberaler als Rumänien oder Bulgarien, die DDR der frühen 1960er Jahre war offener als in den beginnenden 1980er Jahren, 1962 konnten im sowjetischen Georgien äußerst lebendige Experimente unternommen werden, im sowjetischen Baltikum hingegen zum gleichen Zeitpunkt nicht. Diese Unterschiede zwischen Ländern und Zeiten sind bislang kaum untersucht worden, wie insgesamt bezüglich des Kurzfilms ein auffälliges Forschungsmanko besteht. Jenseits dieser Differenzen lässt sich festhalten, dass wohl niemals vor und nach den 1960er Jahren weltweit interessantere Filme der kurzen Form entstanden sind, dies in Ost wie West. Das „Goldene Zeitalter“ des Kinos, ungefähr zwischen 1950 und 1970 zu datieren, trieb auf dem Gebiet des  Kurzfilms besonders üppige Blüten. Unabhängig von den Kino-Vorfilmen entstanden natürlich auch jede Menge andere Kurzfilme, gattungsbedingt vor allem auf dem Gebiet des experimentellen Films.

Der Experimentalfilm ist dann auch eines der wenigen Felder geblieben, auf denen Künstler kontinuierlich und konsequent mit der kurzen filmischen Form arbeiten – konsequent in der Hinsicht, dass die Dauer des Films aus der ästhetischen Gesamtkonzeption resultiert und nicht aus dem Umstand, filmische Übungen abliefern zu müssen, um beispielsweise Punkte für den Bachelor zu sammeln. Viele der deutschsprachigen Kurzfilmproduktionen entstehen an den großen Filmhochschulen sowie an den inzwischen zirka dreißig anderen akademischen Standorten, an denen Filmausbildung stattfindet. Jeder, der Kurzfilmfestivals besucht oder gar an der Auswahl für solche teilnimmt, weiß, was dies bedeutet. Nichts gegen Studentenfilme. Doch „Genies treten nicht in Rudeln auf.“3 , wie Heiner Müller in einem anderen Zusammenhang einmal meinte. In Verbindung mit den vereinfachten technischen Produktionsbedingungen ergibt sich eine Überfülle von Einreichungen, in deren Flut die qualitativ hochwertigen Beiträge leicht unterzugehen drohen. Sichtungskommissionen bedeutender Festivals schaffen es heute schon lange nicht mehr, gemeinsam alle eingereichten Filme anzusehen und zu bewerten. Wie aber umgehen mit dieser Entwicklung, ohne dabei als Multiplikator zum Zyniker zu werden oder gänzlich die Übersicht zu verlieren?

Mir scheint, dass noch lange nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, um für den Kurzfilm als eigenständige Gattung zu sensibilisieren und damit seinen Umgang in der Öffentlichkeit zu optimieren. Einer der Ansätze im kreativen Bereich liegt natürlich an den Filmhochschulen und anderen Ausbildungsstätten. Hier muss viel gezielter auf kurzfilmspezifische dramaturgische Besonderheiten und auf sich daraus ergebende ästhetische Konsequenzen eingegangen werden. In den narrativen Filmen resultieren die so oft erlebten stümmelhaften Handlungen und die chargierenden Darsteller mit ihren aufgesagt wirkenden Dialogen auch aus der Unkenntnis dessen, womit überhaupt umgegangen wird. Die weit verbreitete Plot-Gläubigkeit verengt die Blickweise enorm, hat auch für den Zustand der langen Filme verheerende Folgen. Wenn den Studierenden mehrere Jahre lang eingeredet wird, dass nur der „abendfüllende“ Film die Königsklasse des Filmemachens sein kann, dann bleiben große Bereiche der gestalterischen Palette sträflich vernachlässigt. Offene Erzählformen sind noch immer auffällig subdominant. Welche Filmhochschule bietet heute Kurse explizit für Kurzfilme, geschweige denn für Experimentalfilme an? Die klassische Filmavantgarde – die sich ja vorrangig in Kurzfilmen niederschlug – findet als Lehrinhalt viel zu selten statt. Davon erfährt man eher an den Kunsthochschulen; doch diese Ghettoisierung spricht ja wiederum für sich: Die einzelnen Sparten finden nebeneinander, weitgehend ohne wechselseitige Durchdringung statt.

Im Abspiel vollziehen sich ähnliche Ausblendungen. In das cineastische Paradies der 1960er und 1970er Jahre lässt sich nicht zurückkehren, auch nicht mittels großzügiger Förderungen. Initiativen zur Stärkung des Kurzfilms als Vorfilm zielen zu stark auf die Rekonstruktion bzw. auf die Reanimation eines irreversibel verlorenen Zustands. Dabei wird zudem ein Kardinalfehler aus dem „Goldenen Zeitalter“ übersehen und unfreiwillig wiederholt. Bei der Kombination von Vor- und Hauptfilm wurde oft völlig willkürlich vorgegangen: Welcher kurze Film den langen Filmen zugeordnet wurden, oblag oft der Augenblickswillkür; im Westen durch die Kinobesitzer oder Verleiher, im Osten durch Kulturbürokraten von Progress und der Bezirksfilmdirektionen. In den seltensten Fällen fielen diese Kombinationen sinnvoll aus. Damit wurden die Potenzen einer gegenseitigen Aufwertung allzu oft verspielt. Ironischerweise wiederholt sich heute diese Fahrlässigkeit: Die Kinobetreiber sind oft zeitlich überfordert, wirklich passende Vorfilme auszusuchen: Ist das Abo erst einmal gebucht, droht es schnell zum Selbstläufer zu werden, dadurch besteht die Gefahr eines stereotypen, zumindest uninspirierten Herangehens – was mitunter zu ungünstigen Paarungen führt. Der Konfrontation von Kurz- mit Langfilmen wohnen potentiell ungeheure Chancen inne; diese werden nicht annähernd ausgeschöpft. Nahe würde es zum Beispiel liegen, Spielfilmproduktionen, die sich mit historischen Sujets beschäftigen, einen Prolog voranzustellen, der authentisch aus jener Zeit stammt. Auch liegen zu viele Ressourcen brach, da die Begrifflichkeit des Kurzfilms zu eng gefasst wird. Denn auch Videoclips, Commercials, Amateur-, Omnibus4 – Aufklärungs-, Experimental-, Lehr- und Propagandafilme oder die bereits erwähnten Wochenschauen stellen in vielen Fällen Kurzfilme dar, sind aber im Bewusstsein von Veranstaltern selten als solche abgespeichert.

Noch immer kommt dem Kurzfilm zu oft der Status einer Spielwiese zu, wird er als eigenständige Gattung unterschätzt oder lediglich als Vorform „richtiger“, d.h. abendfüllender Filme eingestuft. Wenn sich spezielle Festivals, Fernsehsendungen, Tourneen, Vorträge, Retrospektiven, Preise, Stipendien, DVD-Editionen und Produktionstöpfe eigens dem Kurzfilm widmen, dann handelt es sich dabei nicht um eine Laune der Subventionskultur oder gar um ein anachronistisches Ankämpfen gegen Windmühlenflügel, sondern um elementar notwendige Fürsorgepflicht. Gleichzeitig bedarf es einer systematischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Und es müssen Fragen zum Status quo des Kurzfilms gestellt werden – um ein historisches wie ästhetisches Bezugsfeld aufzumachen und auf Folgen aus aktuellen Entwicklungen vorbereitet zu sein. Gefördert werden sollten Kurzfilme im Abspiel nicht nur für das Vorprogramm, sondern generell, in möglichst vielgestaltigen Aufführungsformen, also auch in Kurzfilmpaketen. In Workshops und Seminaren könnten die Besonderheiten der kurzen filmischen Form referiert und diskutiert, Archivbestände vorgestellt und Online-Plattformen wie Youtube, Vimeo oder UbuWeb dabei mit einbezogen und Beispiele gestreamt werden. Es könnten sogar kurze Etüden gedreht und gezeigt werden. Faktisch jede Maßnahme zur Förderung des Kurzfilms als Erinnerung und Praxis ist zu begrüßen – nur muss diese dynamisch ausfallen, d.h. auf die Veränderungen der medialen Gegenwart reagieren. Ohne eine solche lebendige Förderung droht der Kurzfilm aus dem Fokus der Wahrnehmung zu rutschen, drohen seine reichen Möglichkeiten zu verkümmern.

1Vgl.: Siegfried Zielinski, Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1989, S, 175-211
2Retrospektive auf dem 24. Filmfest Dresden, 17.-22. April 2012
3Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Köln 1994, S. 288
4Omnibusfilme sind abendfüllende Produktionen, bei denen die einzelnen Kapitel von verschiedenen Regisseuren inszeniert werden und oft auch als in sich geschlossene Kurzfilme funktionieren

Claus Löser ist Autor, Filmhistoriker und Fachjournalist. Seit 1990 ist Löser Programmgestalter für das Brotfabrik-Kino in Berlin-Weißensee. 1992 begann er seine Tätigkeit als freier Autor. Nach einem Studium an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg, das er 1995 mit Diplom abschloss, gründete er 1996 das „ex.oriente.lux“-Filmarchiv.

Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht in:„SHORT report 2012“, Hg. AG Kurzfilm, Dresden November 2012. Dier aktuelle „SHORT report“ kann als Printversion über die AG Kurzfilm bestellt werden oder auf www.ag-kurzfilm.de  heruntergeladen werden.

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