Wer weiß, was der Kurzfilm ist?

Zwanzig Jahre AG Kurzfilm, zwei Jahrzehnte Medienwandel

Daniel Kothenschulte beim Jubiläumsempfang der AG Kurzfilm am 5. Mai in Oberhausen © AG Kurzfilm

Der Text basiert auf einem Grußwort zum Jubiläumsempfang 20 Jahre AG Kurzfilm am 5. Mai 2022 im Rahmen der 68. Kurzfilmtage Oberhausen

 

In der goldenen Zeit des Kurzfilms reichte man das Dessert vor dem Hauptgang: Nicht wenige Zuschauer kauften ihre Karte für zwanzig Minuten Chaplin oder sieben Minuten Mickey Mouse und kümmerten sich erst in zweiter Linie um den Hauptfilm danach. Kurzfilme brachten Zeitstimmungen auf den Punkt, bedienten populäre Dramaturgien noch effektvoller als die Langfilme und standen für den Reiz des Neuen.

Der gemütliche Stier Ferdinand etwa schnüffelte lieber an den Blumen auf seiner Weide, anstatt sich auf einen Stierkampf einzulassen. Das tat er schon 1938 in Walt Disneys 8-minütigem Zeichentrickfilm, als ein Bürgerkrieg in der Heimat aller Matadoren tobte, und er tut es auch heute noch auf der Streaming-Plattform „Disney plus“, in digital aufgefrischtem Technicolor, bereit, allen weiteren Auseinandersetzungen durch stures Aussitzen ein Schnippchen zu schlagen. Nur seine pazifistische Botschaft vermag plötzlich wieder zu irritieren.

So ist das ja wohl mit den Totgesagten: Auch der Kurzfilm hat sich gegenüber allen ihm gewidmeten Notwendigkeitsdebatten in der Kinolandschaft als resistent erwiesen. Zwar lange nicht mehr durch laute Rebellion wie etwa 1968, als Hellmuth Costards „Besonders Wertvoll“ die Oberhausener Kurzfilmtage entzweite, eher schon auf die weniger auffällige dafür umso beharrlichere Art von Ferdinand, dem Stier. Zwar findet der Kurzfilm im regulären Kinoprogramm längst kein Futter mehr – schon in der Spätzeit der Zelluloidprojektion packte kaum ein Vorführer mehr die aus Steuergründen mitgelieferten Rollen aus. Dafür findet er aber umso sattere Weiden, wo immer man ein Festival veranstaltet.

Im Forum der Webseite „Filmvorführer.de“ erinnert sich ein Mitglied: „1960 lagen die Vergnügungssteuersätze zwischen 15 und 25 % und reduzierten sich bei abendfüllenden Kulturfilmen, Märchenfilmen und prädikatisierten Filmen. Wer als Vorfilm und Hauptfilm jeweils einen Film mit Prädikat „besonders wertvoll“ zeigte, zahlte gar keine Vergnügungssteuer; war nur der Vorfilm besonders wertvoll, zahlte er die Hälfte. Die Verleiher wurden natürlich nicht müde, zum Hauptprogramm prädikatisierte Beifilme mitzuliefern; der Steuerersparnis wegen.“[1]
Als die AG Kurzfilm 2002 gegründet wurde, verschonten die meisten Kommunen die Kinos wegen ihrer kulturellen Bedeutung bereits von der Erhebung der Vergnügungssteuer – wenn sie nicht gerade Pornokinos waren (diesen interessanten Subaspekt des Kurzfilms lassen wir hier mal bei Seite, da der Pornofilm meines Wissens das einzige Genre des Kurzfilms darstellt, für das sich die AG Kurzfilm nie engagiert hat). Damals gab es in Deutschland bereits rund achtzig Filmfestivals, die auch Kurzfilme im Programm hatten. Inzwischen sind weit über hundert.

 

Empfang der AG Kurzfilm am 5. Mai in Oberhausen © AG Kurzfilm

 

Wenn die AG Kurzfilm in den letzten 20 Jahren ganz erheblich dazu beitragen konnte, dass deutsche Kurzfilme im In- und Ausland sichtbar blieben, verlangte dies eine beständige Suche nach neuen Wirkungsorten.

Jeder, der Filme zeigt, weiß, wie wichtig der richtige Kontext ist. 2022 ist ja auch ein Documenta-Jahr, und das erinnert mich daran, wie die 1997er Ausgabe plötzlich den Avantgarde-Kurzfilm im Kunstkontext einführte. Künstler wie William Kentridge, Steve McQueen oder Christoph Schlingensief fanden so eine zweite Öffentlichkeit. Der Kurzfilmkontext, der sie bekannt gemacht hatte, sah sie daraufhin nur noch selten. Zur selben Zeit verlor der klassische Experimentalfilm sein festes Standbein bei Filmfestivals.

Die Zeit als die neuen Werke der verstorbenen Dore O., von Werner Nekes oder Lutz Mommartz in der „Zeit“ besprochen wurden, war da schon lange vorbei. Deshalb ist es so wichtig, dass die AG Kurzfilm mit Programmen wie „Emerging Artists – Contemporary Experimental Films and Video Art from Germany“ nicht nur den Kunstkontext, sondern speziell das Dispositiv Film anspricht, wie sie es tut. Hier ist es besonders wichtig, nicht nur Hochschulabsolventen zu repräsentieren, sondern die Gesamtheit der künstlerischen Filmproduktion.

Besonders ältere Filmemacherinnen und Filmemacher haben es oft schwer, ihr Lebenswerk fortzusetzen und dauerhaft präsent zu halten. Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Der Kurzfilm wird oft auf seine Bedeutung als Medium des Nachwuchses verkürzt. Umso wichtiger ist es, gerade in einer Zeit wo Diversität zu einem unverzichtbaren Kriterium jeder kuratorischen Arbeit zählt, Kurzfilmmacherinnen und -macher auch jenseits der 40 mit gleicher Aufmerksamkeit zu begleiten. Tatsächlich wenden sich viele Künstlerinnen und Künstler auch deshalb dem gut bezahlten Fernseh-Auftragsgeschäft und längeren Formaten zu, weil sie gar keine Möglichkeit mehr sehen, mit anspruchsvollen Kurzfilmen auf Festivals zu reüssieren.

Wir können hier in Oberhausen gerade das Werk von Rainer Komers erleben, einem Künstler der ganz überwiegend in der kurzen Form arbeitet. Seine Arbeit ist gleichermaßen kompromisslos wie zugänglich, aber jeder einzelne Film verlangt doch eine neue Kraftanstrengung. Anders als bei einem Galeriekünstler oder Spielfilmregisseur von gleicher Bedeutung verlangt jeder neue Film auch ein neues Werben um Öffentlichkeit. Wie wichtig ist es, Künstlerinnen und Künstlern dabei unter die Arme zu greifen.

Lassen Sie mich noch einmal in die Zeit eintauchen, bevor die AG-Kurzfilm gegründet wurde. 1999 schrieb ich einen Artikel für die Süddeutsche Zeitung über den damaligen Boom an Kurzfilmfestivals. In Regensburg gab es eines der schönsten, und das gibt es auch heute noch. Dort hatte ich Helmut Herbst kennengelernt, den Animations- und Dokumentarfilmpionier, den wir im letzten Jahr ebenfalls verloren haben. Er sagte mir: „Kulturell ist der Kurzfilm tot in Deutschland. Hilmar Hoffmann konnte früher für das Oberhausener Festival mit dem Diplomatenpass durch die Welt reisen. Heute dient der Kurzfilm nur noch zur Evaluierung der Produkte der Filmhochschulen.“

Man muss dazu sagen, dass sich Herbst wirklich für seine Studierenden engagiert hat. Aber natürlich sprach daraus auch ein Filmemacher, der der kurzen Form auch dann noch die Treue hielt, als das Fernsehen sie fast nicht mehr ausstrahlte.

Tatsächlich firmierten nach einer 1998 von den Oberhausener Kurzfilmtagen veröffentlichten Studie (Reinhard Wolf, Expertise zur Situation des deutschen Kurzfilms), bei 36,8 % aller immerhin 800 jährlich in Deutschland hergestellten Kurzfilme Hochschulen direkt als Produzenten. Das machte eine allgemein aufgestellte Institution wie die AG Kurzfilm umso wichtiger. Man erinnere sich: 2002, das Gründungsjahr, war noch drei Jahre vor YouTube. Das IPhone kam erst 2007 auf den Markt. Kino, Fernsehen und Kunstmuseen verloren endgültig ihr Gatekeeper-Monopol in der Verbreitung bewegter Bilder.
Wenn ich mich an den damaligen Kurzfilmfestivalboom jenseits vom stets etwas akademischeren Oberhausen erinnere mit seinem jungen Publikum, dann war da eine Neugier und Freude an der Vielfalt und Abwechslung der kurzen Form, die vielleicht sogar etwas von TikTok vorweggenommen hat. Schließlich gab es da immer auch eine Trash-Night, gern gefördert von einer Zigarettenmarke, nach dem Prinzip der Wundertüte.

Nach einer Studie von 2018 widmeten die überwiegend jugendlichen TikTok nutzer täglich 39 Minuten dieser Platform, heute sollen es noch mehr sein – was sie auch zu einer ernsthaften Konkurrenz für Kinos und Streamingdienste macht. Denn Bildschirmzeit ist begrenzt.

Damals schrieb ich über Kurzfilmfestivals als Eventkultur: „Die Toleranzschwelle des neugierigen Publikums könnte nicht höher sein. Im Gegenzug bekommt es Programme buntester Mischung: No-Budget neben teurem Kurzspielfilm, ernsthafte Kunst neben dem gespielten Witz, Dokumentarisches folgt auf Animiertes. Alles ist verzeihlich, denn nach 3-15 Minuten gibt es eine neue Chance. Während sich sonst das Programmkinopublikum dreimal überlegt, in einen sperrigen Film zu gehen, gilt eine ungekannte Offenheit allen denkbaren Formen und Formaten. Diese Neugier des Publikums ist kostbar. Nirgendwo sonst geht man noch aus reinem Vergnügen an der Vielfalt der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten ins Kino. Doch was wird von ihnen in Erinnerung bleiben? Nächstes Jahr werden es andere Filme sein. … Die Kunst eines Festivalkurators muss hier darin bestehen, nicht Fülle, sondern Freiräume zu kreieren; Kontexte, in denen die aus den unterschiedlichsten Produktionszusammenhängen stammenden Einzelwerke wirken können. Wenn als einzig verbindendes Element die Kürze im Vergleich zum Spielfilm steht, verliert sich beides: der Blick auf die Individualität des Kunstwerks und seine Einbindung in größere kulturelle Zusammenhänge… So sehr freilich die Kürze der Filme nahe legt, man könne beliebig mit ihnen jonglieren, widersetzen sich viele förmlich der Kopplung: Es liegt im Wesen dieser Filmform, die in wenigen Minuten alles erreichen muss, sich wenig um Kompatibilität zu scheren.

Aber was ist das überhaupt, der Kurzfilm? Das größte Problem im Umgang mit Kurzfilmen, ist das Fehlen einer Definition für eine Gattung, die alle Genres und Filmformen der Welt einschließt. ‚Ich weiß nicht, was der Kurzfilm ist‘, konstatiert Oberhausens Festivalleiter Lars Henrik Gass mit der Beiläufigkeit eines gestandenen Politikers.“

Entschuldigen Sie diesen langen Ausschnitt, aber viele dieser Beobachtungen bestimmen noch immer die professionelle Arbeit mit dem Kurzfilm. Den Satz von Lars habe ich immer in Erinnerung behalten, weil er so aussagekräftig ist, für die Offenheit, die wir einer Kunstform entgegenbringen, die allein durch ihre Länge definiert ist. Vergangene Woche habe ich Jean-Paul Goergen, einen Filmhistoriker, der auf große Archive alter Filmzeitschriften zugreifen kann, gebeten, einmal nachzuschauen, wann das Wort Kurzfilm das erste Mal auftaucht. Er fand es frühestens 1923, gehäuft erst Ende der 20er Jahre.

So wie man erst vom Stummfilm sprach als es einen Tonfilm gab, wurde der Kurzfilm ex negativo definiert als es sich lange Filmformen durchgesetzt hatten. Nun allerdings ist mit den neuen Bewegtbildformaten der sozialen Medien eine wichtige Zäsur eingetreten. Das lockt wiederum die Vermittlerinnen und Vermittler des Kurzfilms aus der Reserve, um vielleicht gerade jungen Leuten zu erklären, was der Kurzfilm wirklich ist.

Gerade traf ich Jessica Manstetten von den Kurzfilmtagen, die mir sagte, wie glücklich sie heute die Präsentation der Kinderprogramme für die jüngsten Besucherinnen und Besucher gemacht hat. Und was ist sinnvoller als die aktuelle Initiative der AG Kurzfilm, das Medium wieder verstärkt in die Schulen zu bringen?

Dort hatte der Kurzfilm während meiner Schulzeit noch einen festen Platz. Die Stadt- und Landesbildstellen aber auch viele Schulen selbst besaßen reiche Filmsammlungen, die es zum Teil auch heute noch gibt. In Köln hatte auch die Diözesanbildstelle eine Wunderkammer an osteuropäischen Animationsfilmen, meine ich mich zu erinnern. Aber man fand auch etliche 16mm-Kopien von „Ferdinand, dem Stier“ in diesen öffentlichen Filmbibliotheken. Für mich als Schüler waren die Kurzfilmvorführungen im Unterricht Glücksmomente.

Wenn wir uns heute angesichts der Kinokrise fragen, was dieses Medium eigentlich ausmacht, dann fallen mir auch diese Augenblicke ein, in denen sich ein Klassenzimmer in ein Kino verwandelte. Jessica Manstetten sagte, die Kinder hätten sofort begriffen, was das Besondere an Kurzfilmen im Vergleich zu den vielen Bewegtbildern in ihrem Alltag war. Als Kind hatte ich selbst einen Filmprojektor und sah die Kurzfilme in meiner Sammlung Hunderte von Malen. Keine Einstellung ist zufällig in einem guten Kurzfilm. Er ist die Essenz des Kinos. Wie ein Destillat in der Flasche. Machen wir sie auf, dann ist Kino. Kino ist da, wo der Kurzfilm ist, und die AG Kurzfilm sorgt dafür, dass das auch so bleibt.

 

[1] https://www.filmvorfuehrer.de/topic/14753-vergn/