Schöpferische Konstruktionen – eine Einführung

Unter Fotofilmen verstehen wir Filme, die im Wesentlichen auf Fotografien basieren. Fotos im kinematografischen Kontext erzeugen eine filmische Erfahrung. In Fotofilmen wird das Medium Film in seine Bestandteile zerlegt. Fotofilmautoren experimentieren mit dem Verhältnis von Sprache, Ton und Bild, sie reflektieren über die Beschaffenheit des Kinematografischen. Sie lassen uns Kino denken.

Die Bilder des Lichtes, aus Fotoapparaten und Filmkameras, haben unsere Wahrnehmung nachhaltig verändert! Mit der Erfindung der Fotografie, die reflektiertes Licht von Körpern und Objekten abbildet, halten wir plötzlich einen unwiderlegbaren Beweis von etwas Dagewesenem in der Hand. Durch die Erfindung des Films, der die Bewegung aus der Wirklichkeit in sukzessiven Phasenbildreihen abbildet, führen wir uns das Dagewesene im Werden vor Augen. „Wir gewinnen dabei zum einen Phasenbilder für das Studium der Bewegung und zum anderen eine neue Zeitrechnung: die des Kinos, basierend auf 24 Bilder pro Sekunde. Seit die Zeit als Phasen-Bild-Abfolge vorstellbar ist, hat sich unsere Wahrnehmung von Zeit grundsätzlich verändert“ (Gespräch Frank Geßner)1  – und gleichzeitig haben wir damit eine Neudefinition von Bewegungsdarstellung erhalten, die auch Wissenschaft und Kunst beeinflusste.

Fotos stehen für die Wahrnehmung von Erinnerung, Filme für die natürliche Wahrnehmung von Bewegung. Aber was passiert, wenn das Bild auf der Leinwand auf einmal steht? „Das stehende Bild blieb sehr lange der Alptraum des Kinos. […] Ein stehendes Bild im Projektor bedeutete bis zur Einführung des Sicherheitsfilms in den frühen 50er Jahren unmittelbare Brandgefahr.“ (Daniel Kothenschulte). Bis heute erzeugt das unbewegte Bild im Kino Überraschung. Es beunruhigt, fordert uns und regt an. Die Filmbilder sehen wir, weil sie sich bewegen, die stehenden Bilder sehen wir, weil sich unser Auge auf ihnen bewegt. Dieses Abtasten ist mit den tastenden Bewegungen unseres Bewusstseins zu vergleichen, mit dem Hin- und Herspringen zwischen den verschiedenen Schichten der Wirklichkeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Der Gegensatz bewegt/unbewegt ist nicht einer von vielen Gegensätzen, sondern der Grundkonflikt, der unsere Wahrnehmung, Sprache und intellektuelle Auffassung ausmacht. Henri Bergson hatte 1896 in seinem Buch Matière et mémoire, gleichzeitig mit dem Beginn der Filmgeschichte, die „Existenz […] von Bewegungsbildern einwandfrei entdeckt“ .2 1907 formuliert er in L’Evolution créatrice, dass die menschliche Wahrnehmung dazu neigt, die
„Wirklichkeit“ in abgeschlossenen, erstarrten Zuständen (eine Art Momentaufnahmen, „Schnappschüsse“) zu denken. Die echte Bewegung, die wirkliche Dauer, kann unser Wahrnehmungsapparat nur intuitiv erschließen; wir können sie nicht fassen, nicht wirklich begreifen. Das bedeutet, dass im Kino unser abtastendes Bewusstsein zwischen dem Begreifbaren und dem Unfassbaren ununterbrochen hin- und herspringt.

Die Wahrnehmung funktioniert nach Bergson so, dass wir Momente, die wir als charakteristisch empfinden, aus der Realität in unser Gehirn aufnehmen. Unser „innerer Kinematograph“ nimmt diese „Momentbilder“ und reiht sie „längs eines […] auf dem Grunde des Erkenntnisapparats liegenden Werdens“ auf3.  Um zu erinnern, zu erkennen, oder zu sprechen, tun wir nichts weiter, als diesen „inneren Kinematographen in Tätigkeit zu setzen“. Damit ist die Kinematografie ein wesentlicher Bestandteil unseres Gedächtnisses.

Wir schlagen vor, Bergsons Konzept einen „inneren Fotografen“ hinzuzufügen. Denn die Filmkamera nimmt keineswegs charakteristische Momentaufnahmen im Sinne eines Erinnerungsbildes auf. Es ist ebenso paradox wie trivial, dass wir für Filmaufnahmen Bewegung erst in stehende einzelne Phasenbilder bannen müssen, um sie – in der Projektion wieder abgespielt – als Bewegung sehen zu können. Diese Einzelbilder werden nicht gezielt aufgenommen. Die Bildsequenzaufnahme beginnt mit dem Kommando „Kamera läuft“, und von da an zeichnet der Apparat nach seinem Belieben die Bilder auf. („Er zeichnet die Bilder mit der Zeit, die sich im Apparat befindet auf.“4 ) Die Kameraperson (der Operator) hat nun keinen Einfluss mehr darauf, welche Momente aufgenommen werden und welche ausgelassen werden. Der „innere Kinematograph“, der für den Wahrnehmungsapparat zuständig ist, zeichnet aus der Bewegung also nicht charakteristische, sondern beliebige Momentaufnahmen auf. Für den Gedächtnisapparat müsste dementsprechend ein „innerer Fotograf“ zuständig sein, der die charakteristischen Momentaufnahmen festhält, visuell dem vergleichbar, was wir im Kino beim Betrachten von Fotofilmen sehen.

Das Foto ist – nach Roland Barthes – eine direkte Referenz der Wirklichkeit, der Realität, der Welt: „die REFERENZ, die das Grundprinzip der PHOTOGRAPHIE darstellt. Der Name des Noemas der PHOTOGRAPHIE sei also: „ºEs-ist-so-gewesen“¹ [„ºí§a-a-ét铹], […] das, was ich sehe, befand sich dort an dem Ort, der zwischen Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt […] liegt.“5  Ein Fotoabzug enthält einen Augenblick, den wir in der Hand halten können. Er zeigt einen Augenblick so, wie wir ihn mit unserer natürlichen Wahrnehmung nicht sehen können. Auf einem Lichtbild werden wir mehr erkennen, als das, was wir in einem Moment natürlich erblicken können. Das Foto stellt etwas Gewesenes dar. Wir begreifen natürlicher Weise das fotografische Bild als Vergangenheit. Das in der Vergangenheit aufgenommen Foto zeigt uns etwas, das so nicht mehr ist. Wir denken – vom Foto inspiriert – die Zukunft des Vergangenen. Das Foto gibt uns zu denken: die Vergangenheit des Vergangenen, die Gegenwart des Vergangenen und die Zukunft des Vergangenen. Alles gewesen, alles vergangen.

Der Film ist eine indirekte Referenz der Wirklichkeit. Der Film enthält eine zeitliche Dauer (z. B. 24 Augenblicke/Sekunde), die wir als Bewegtbild-Projektion nicht anfassen können, die wir nicht in unseren Händen halten können. Der projizierte Film zeigt ein Bewegtbild, das uns wie-in-natürlicher-Wahrnehmung erscheint. Können wir im Kino mehr erkennen als das, was wir während der Aufnahmedauer natürlich sehen konnten? Vermutlich werden wir im Kino nicht dasselbe sehen, wie das, was wir natürlich gesehen haben. Der Film stellt etwas Gewesenes dar. Wir begreifen paradoxer Weise die Bewegtbildsequenz dennoch als Gegenwart. Ein Film ereignet sich immer jetzt, da die Illusion der Bewegung sich ständig aktualisiert und sich immer wieder aufs Neue im Jetzt herstellt. Der Film zeigt zwar etwas aus der Vergangenheit, aber der gegenwärtige Wahrnehmungsprozess lässt uns nicht an das Vergangene denken; unsere Aufmerksamkeit gilt ganz dem, was im Werden ist, der Zukunft. Was im Kino unseren Blick gegenwärtig fesselt, was uns interessiert, ist das Werden. Alles Zukünftige, alles im Entstehen.

Das Foto im Film lässt uns eine direkte Referenz der Wirklichkeit denken. Im Kontext der flüchtigen Bilder des Films steht das Foto für Beständigkeit, obwohl wir es nicht in unseren Händen halten können. Das Foto im Film versichert uns, dass das, was wir jetzt sehen, zweifellos dagewesen ist. Es gibt uns diese Referenz des Vergangenen in der „kinoeigenen Gegenwart“6 und lässt uns damit (an) alle weiteren Zeitdimensionen denken. Wenn wir im Kino auf der Leinwand ein Foto sehen, denken wir einerseits die abgeschlossene Zukunft der Vergangenheit des Fotos und anderseits erwarten wir eine Zukunft der Gegenwart des Kinos. Das Foto im kinematografischen Kontext enthält einerseits alle Zeiten, die sich auf das Vergangene beziehen (die Vergangenheit des Vergangenen, die Gegenwart des Vergangenen und die Zukunft des Vergangenen) und obendrein erwartet uns dort etwas, das noch im Werden ist.

Fotofilme funktionieren nach unserem Dafürhalten wie folgt: „Von der vorübergleitenden „ºRealität“¹ nimmt der Fotograf gezielt Momente auf, die das, was ihn interessiert, charakteristisch zum Ausdruck bringen. Dann werden diese Standbilder von dem Kinematografen, von dem Drang des Werdens getrieben, in einen filmischen Kontext gestellt. Das Foto wird auf der Kinoleinwand zu allen Himmelsrichtungen geöffnet. Es inspiriert uns, Bewegung, und damit alle Zeitschichten, zu denken.“ (Gusztáv Hámos / Katja Pratschke). „Chris Markers ultimativer Fotofilm LA JETÉE (F 1962) hatte erstmals in eindringlicher Weise demonstriert, dass das Typische des Filmmediums sich nicht in der Darstellung von Bewegung erschöpft, sondern sich in der Gestaltung und Abwicklung von Zeit entfaltet.“ (Thomas Tode).

„Bleibt ein Filmbild stehen, zerbricht die Illusion im selben Augenblick.“ (Daniel Kothenschulte). Genauer gesagt: Dann zerbricht die Illusion der Bewegung augenblicklich und eine Irritation tritt auf. Um sich das Ungewohnte zu erklären, wird unser Geist aktiviert. Sobald das Bild im Film steht, lädt es uns zur Kontemplation ein und wir finden Gefallen an dem „mehr Sehen“: daran, am Bilderstudium des Autors beteiligt zu sein, das Bild als Begriff zu interpretieren, an den imaginären Erweiterungen, zu denen wir inspiriert werden.

Fotofilme verlangen nach aktiven, denkenden Zuschauern. „Wenn man eine Fotografie vor sich hat und eine andere daneben legt, beginnt man automatisch, nach einer Verbindung zu suchen. Es gibt ein regelrechtes „Programm“¹, das dann im Gehirn abläuft um dieses Aufeinandertreffen in Verbindung zu bringen.“ (Gerd Roscher). Wir suchen automatisch nach Bedeutung, sehnen uns nach Interpretation. Agnès Varda bringt in ihren Foto- und Essayfilmen zwei Elemente zusammen: die sinnliche Ebene und die Reflexion: „Was dieser Essayfilm [ULYSSE (F 1982)] vorführt, in dem eine Fotografie zunächst ganz gezeigt, dann im Detail untersucht, mit In- und Off-Kommentaren versehen, mit anderen Aufnahmen verknüpft und schließlich wieder bildfüllend präsentiert wird, ist der Lektüreprozess, durch den eine Fotografie, die innerhalb eines Films gelesen und montiert wird, am Ende nicht mehr als dieselbe erscheint wie zu Beginn.“ (Christa Blümlinger).

Fotofilme führen Diskurse, analysieren, experimentieren. Für den Betrachter sind sie Labore, erfahrbare Forschungsarbeit, sichtbar gemachte Prozesse. „What am I looking for?“ fragt eine weibliche Stimme in Shelly Silvers gleichnamiger Videoarbeit. „What am I capturing here?“ Silver thematisiert das „Begehren, den Moment festhalten zu können – und ihn selbst in Bewegung zu setzen. Wieder und wieder. Sie spricht von der Sehnsucht nach Kontrolle über die Bilder, in der zugleich das Begehren selbst kanalisiert wird und zu sich selbst finden soll.“ (Verena Kuni).

Fotofilme dekonstruieren das Kino, zerlegen es in Einzelbild, Sprache, Geräusch, Musik und führen seine Elemente bewusst als eigenständige Komponenten vor. Michaela Ott schreibt zu Silke Grossmanns Filmen: „Von Anfang an fällt eine Arbeit am Abstand, an vielfältigen Abständen auf. […] Nichts vorgeben, weder Ton- noch Bildzeichen auf Bedeutung festlegen, visuelle und auditive Erwartung irritieren, Aufnahme- und Montagekonventionen unterlaufen, Schockmomente serialisieren – mehr Arbeit am Abstand ist schwerlich vorstellbar.“ Elfi Mikesch experimentiert in EXECUTION. A STUDY OF MARY (D 1979) mit der Verdopplung von Bewegung: Die vorhandene Dynamik in den inszenierten Fotografien verstärkt sie in der Dunkelkammer durch eigene Bewegungen. Im „bewegten Bild“, das noch nicht Film ist, werden ihre Körperbewegungen sichtbar, sie gleitet mit der Filmkamera über das fotografische Bild, sucht neue Ausschnitte, spiegelt, dreht diese und wiederholt sie in der Montage. Das Resultat ist eine hochkonzentrierte Erzählung. „Das ist für mich der Fotofilm, […] eine Art Feld-Forschung!“ (Elfi Mikesch). In Sirkka-Liisa Konttinens THE WRITING IN THE SAND (GB 1991) fährt die Filmkamera über die Oberfläche der Fotografien, schwenkt sie ab, zoomt in sie hinein, montiert aus Fotoserien Bewegungsabläufe, steht die Kamera selten still. „Wir filmten die Fotografien so ab, als ob jedes einzelne Bild eine bewegte Einstellung wäre, als ob sich auf ihnen etwas Reales, eine lebendige Szenerie [live scene], abspielt.“ (Sirkka-Liisa Konttinen / Peter Roberts).

Töne und Musik behalten im Fotofilm ihre Eigenständigkeit. Der Ton zum unbewegten Bild wird meistens nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt aufgenommen – nur ein einziger uns bekannter Fotofilm stellt dazu eine Ausnahme dar: Morgan Fishers PRODUCTION STILLS (USA 1970). Nur wenige Fotofilme sind stumm, wie Silke Grossmanns DIE GEFÜHLE DER AUGEN (D 1985/87), der sich ganz auf die visuelle Erfahrung konzentriert: „Um [des Zuschauers] Sehneugier nicht zu behindern, wurde auf den Ton verzichtet.“ (Michaela Ott). Einige Fotofilme arbeiten mit O-Tönen oder Atmos. Töne im Fotofilm werden bewusst ausgewählt und eingesetzt (das Summen der Fliegen in LE SPHINX (B/F 1986), der Herzschlag in LA JETÉE, die Schüsse in RIEN NE VA PLUS (D 2005)).

In Fotofilmen wird der Sprache, dem gesprochenen Text und seinem Verhältnis zum Bild eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Im Moment der Aufnahme gibt es zu einer Fotografie einen alles übertönenden Kameraverschlusston7. Der Fotoabzug selbst aber ist stumm. Das ermöglicht, dass sich über eine Fotografie alles sagen lässt. In (NOSTALGIA) (USA 1971) von Hollis Frampton sehen wir, wie 13 Fotos auf einer Herdplatte nacheinander verbrennen, der dazugehörige Kommentar ertönt aber um eine Fotografie verschoben. „Man kann die Asynchronität auch als disparate „ºSynchronität“¹, als Interferenz zu lesen versuchen, und den Überlagerungen von Bild und Ton Raum geben. […] So gesehen bietet der Film zeitgleich jeweils zwei verschiedene Bilder – ein erzähltes Bild und ein gezeigtes Bild.“ (Gerry Schumm).

In Leonore Mau und Hubert Fichtes Fotofilmen verschieben sich Sprache und Fotografie ständig gegeneinander. „Es gibt immer wieder Bilder, die sich mit dem Text nicht erklären, und auch Sätze ohne dazugehörige Bilder. […] Sie erzeugen ständig Zwischenräume, die andere Projektionen erlauben als die eines Vollständigen, Reinen, Musterhaften. [… In] der materialen Assoziation von Foto und Sprache im Film wird die Notwendigkeit deutlich, empfindlich zu sein …“ (Ole Frahm). Mau und Fichte arbeiten beide unabhängig voneinander in ihrem jeweiligen Medium, Fotografie und Sprache, und treffen sich auf ihre eigene Art und Weise im Film. „Sie brauchten sich nicht zu verabreden. Sobald es dunkel war, packte Irma [= Leonore Mau] die Kameras ein, und Jäcki [= Hubert Fichte] klappte die Suche nach der verlorenen Zeit zu.“ (Fichte in: Nathalie David). „Aufregend am Fotofilm ist nicht das Synästhetische. Sprache, Bild und Film schließen sich nicht zusammen. Es bleibt dialogisch, gelegentlich sogar disparat, wodurch sich offene Assoziationen bilden können, und es in diesem Dialog keine eindeutigen Antworten gibt.“ (Ole Frahm, Diskussion). Es herrscht im Universum des Fotofilms eine seltsame antihierarchische Ordnung der Einzelmedien.

Fotofilme praktizieren das Recycling „von Fremdmaterial, von eigenem Material, programmatische Wiederverwendung, deren Ergebnis […] „ºeine Komposition“¹ ist.“ (Stefanie Diekmann). Dieses Zirkulieren kann auf verschiedenen Ebenen geschehen: 1. Fotografien werden aus einem Kontext (Diashow, Internetprojekt, private Fotos, Familienalbum, Found Footage, fotografische Langzeitbeobachtung) in einen neuen, filmischen Zusammenhang gestellt, und erhalten so eine zweite Existenzform. 2. Die unbewegten Bilder im kinematografischen Kontext verändern ihre Bedeutung, durch Montage, durch Rekadrierung, durch Interpretation, Lektüre oder Umdeutung. Der Spaß an der Subversion ist spürbar, wie in Franz Winzentsens Arbeiten, in denen es darum geht, „Dinge umzudrehen und vom Rand her zu lesen. Eben nicht die einfachen Verbindungslinien zu bedienen, sondern durch kleine und scheinbar unwichtige Details, durch einen ironischen Blick, durch eine Brechung, das Bild für den Betrachter neu und anders aufzuschließen.“ (Gespräch Franz Winsentzen). 3. Fotofilme recyceln innerhalb ihres Ablaufs zuweilen ein und dieselben Bilder. Filme wie SALUT LES CUBAINS (F 1963), WHAT I’M LOOKING FOR (USA 2004), EXECUTION. A STUDY OF MARY konstruieren mit Fotosequenzen Bewegungen, indem sie bestimmte Phasen sukzessiv wiederholen, vor- und rückwärts abspielen. 4. In FREMDKÖRPER (D 2002) zitiert der Film sich selbst: Fotografien früherer Einstellungen werden später als Erinnerungsbilder von der Protagonistin betrachtet. „Sich zu erinnern, ist bereits eine schöpferische Tätigkeit, in der es zu Transformationen des Erlebten kommt, zu Remontage und Reorganisation.“ (Thomas Tode). Raoul Ruiz reduziert in COLLOQUE DE CHIENS (F 1977) das ganze Drama auf wenige Sätze, Gesten und Posen, die alle Protagonisten durchlaufen müssen, und dadurch entsteht ein Gefühl von Schicksalhaftigkeit und ewiger Wiederkehr des Gleichen.

Wenn das Foto im Bewegtfilm uns überrascht hat, wie verhält es sich dann mit den kurzen Bewegtfilmsequenzen, die in vielen Fotofilmen zu finden sind? Die Bewegtbilder setzen sich in Beziehung zu den stehenden Bildern und deren Wahrnehmung. Wir sehen und begreifen sie in kontemplativer, reflexiver Haltung. Wir sehen das Bewegtbild im Kontext der gedanklichen Zwischenräume, wir denken und empfinden zugleich. Die Bewegtbilder im Fotofilm können auf eine andere Welt verweisen – wie die Bierreklame in DER TAG EINES UNSTÄNDIGEN HAFENARBEITERS (D 1966) -, oder die Erzählperspektive definieren – aus dem Körperinnern in FREMDKÖRPER, aus der Sicht der kläffenden Hunde in COLLOQUE DE CHIENS. Helke Misselwitz montiert in 35 FOTOS / BILDER AUS DEM FAMILIENALBUM (DDR 1984/85) Familienfotos und unterbricht die Fotoserie mit Bewegtbildsequenzen, die die Protagonistin „heute“ zeigen: „In der Bewegtbildsequenz wird sie [Karin] real, steht vor der Kamera, und es kommt noch eine andere Dimension dazu. Es hätte ja auch sein können, dass sie gar nicht mehr existiert, also dass sie bereits Geschichte geworden ist.“ (Misselwitz). Die bewegten Filmsequenzen bilden auch Klammern und Rahmenhandlungen: die Eröffnung einer Fotoausstellung in SALUT LES CUBAINS, die wabernde Ursuppe als Umrandung des Ausflugs des Embryos in DIE ANPROBE (1938) (D 1985). Sie ermöglichen die direkte Gegenüberstellung von Stillstand und Bewegung ein und derselben Handlung. In LA JETÉE stellt der gefilmte Augenaufschlag der geliebten Person einen einzigartigen Moment dar, auf den der Film hinsteuert und der uns bis zum Ende in Erinnerung bleibt. Ganz anders verfahren LES PHOTO D’ALIX (F 1980), DAS KINO UND DER TOD (D 1988), ULYSSE und (NOSTALGIA), in denen das Foto als Objekt im Film in der Hand gehalten, analysiert, gegessen oder verbrannt wird.

Eine weitere Methode, um das Bewegtbild zum Stillstand zu bringen, praktizieren Filme, die als Verbündete des Fotofilms mit Unbewegtheit oder extremer Verlangsamung von Bewegung experimentieren, wie beispielsweise Katharina Sieverdings LIFE-DEATH (D 1969): „Es ist der Antagonismus zwischen der kontinuierlichen Zeitlupentechnik des Films und den vereinzelt auftretenden Plötzlichkeiten (der Kamera- und Lichtveränderung, des Motivwechsels, des Schnitts), der eine Idee von der Fiktionalität der Zeit, d. h. von deren schöpferischen Konstruktion gibt.“ (Rainer Bellenbaum). Die Frage der Konstruktion von Zeit im Film rückt dabei in den Blickpunkt, wie Michaela Ott in ihrem Text zu Alain Resnais‘ L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (F 1960/61) betont: „Bereits der Minimalismus der dargestellten Handlungen und der sparsamen Dialoge scheinen dem Stillstand abgerungen und fallen fortgesetzt in diesen zurück, wodurch bereits auf die Herkunft des Filmbildes aus dem Fotografischen verwiesen wird.“

„Das Verhältnis von Fotografie und Film zu ergründen kommt einer Schwellenkunde gleich. Die Schwelle ist erst mal eine Trennung, […] die – mit Raymond Bellour gesprochen – „ºzwischen den Bildern“¹ ist, und die als Trennung die rasende Konsekutivität des Filmischen […] bedingt. Dieser unscheinbare Balken, das Schwarz zwischen den Bildfeldern, diese Schwelle, der Bildstrich, begründet das filmische Bild …“ (Hubertus v. Amelunxen). Der Fotofilm öffnet Zwischenräume: Zwischen den unbewegten Bildern im Film befinden sich „mögliche Räume“, „fruchtbare Plätze“, die durch Imagination aufgeladen werden. „Es geht hier um die Öffnung eines Spielraums und die Gestaltbarkeit von Leben. Im künstlerischen Sinne kann man das als „ºgestaltbarer Raum“¹, als Zeitraum denken. Das zeichnet den Fotofilm […] in einer besonderen Weise aus: Dieser Potencial Space, also der mögliche Raum zwischen den Bildern, wird im Fotofilm zelebriert und bekommt eine Entfaltungsmöglichkeit.“ (Siegfried Zielinski). Diese Zwischenräume im Fotofilm sind von ebenso großer Bedeutung wie die stehenden Bilder selbst. Wir spüren die Abwesenheit von etwas, die leeren Stellen, die sich als Freiräume erweisen, sobald wir sie mit Assoziationen füllen.

Inspiriert von Roland Barthes lässt sich sagen, dass „das eigentlich Filmische (das Filmische der Zukunft) nicht in der Bewegung liegt, sondern in einem dritten, unaussprechbaren Sinn“8 Das kommerzielle Kino interessiert sich nicht für das „Filmische“, sondern stellt die rhetorische Frage „Was will der Zuschauer sehen? Und gibt sich selbst die Antwort: Das Publikum will märchenhaftes Erzählkino! Die bildende freie Kunst, um sich davon abzugrenzen, schlägt vor, die Narration zu zerstören. Es wird dabei vergessen, dass das Kino die Diegese gar nicht allein besitzt! Die Erzählung ist mit Roland Barthes gesprochen „ein tausendjähriges System“, „ein Feld von Permanenzen und Permutationen.“ Und er denkt weiter: „Es gibt andere „ºKünste“¹, die das Fotogramm und die Geschichte, die Diegese kombinieren: Fotoromane und Comics.“9 Barthes ist davon überzeugt, dass für diese gemeinhin in den Niederungen der Hochkultur angesiedelten „Künste“ eine Qualifizierung möglich ist. Es gibt nach Barthes „eine autonome „ºKunst“¹ […],[die] des Piktogramms („ºanekdotisierte“¹ Bilder…)“10, die einen diegetischen Raum eröffnen. „Bilderbögen von Epinal, Fotoromane, Comics“ konstituieren bereits das Filmische und stellen eine andere Textur des Filmischen dar.
Der Fotofilm, der nach aktiven Zuschauern verlangt, will die anekdotische, diegetische Darstellung nicht zerstören, sondern subvertieren, „die Subversion von der Zerstörung trennen“11. Das eigentlich Filmische ist weder in der Bewegung, noch in der Narration zu finden, sondern in einem „dritten Sinn“, der nach Barthes dort einsetzt, wo „die Sprache aussetzt“ und Platz macht für ein Verstehen, das bislang nicht in Worte gefasst werden konnte.12 Wir sind davon überzeugt, dass der Fotofilm über diesen sogenannten „dritten Sinn“ Auskunft geben kann, denn das stehende Bild im kinematografischen Kontext ermöglicht uns zum einen, die Bewegungsbildcharakteristika wahrzunehmen und zu interpretieren, zum anderen aktiviert die Ikonografie des Bildes, mit Eisenstein gesprochen das „Pathetische“, unsere Erinnerung. Zudem hebt das Foto den Zwang der Filmzeit, der Raserei des Films, auf und erlaubt uns, die audiovisuelle Erfahrung kontemplativ zu ergründen. Während der Mainstream-Film immer stärkere Beschleunigungsprozesse durchläuft, entstehen parallel dazu Filme, die mit der Verlangsamung experimentieren. Kein Wunder, dass am Ende die Bilder stehen bleiben, um den eigentlichen Sinn des Filmischen zu ergründen.

1 In Klammer gesetzte Namen verweisen auf einen Beitrag im Band „Viva Fotofilm bewegt/ unbewegt“.
2 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 14.
3 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, 2. Auflage, Jena: Diederichs 1921, S. 309.
4 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild, op. cit., S. 14.
5 Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 86.
6 Kinoeigene Gegenwart: Die Gegenwart, die wir als Zuschauer im Kino erfahren.
7 Der Verschlusston analoger Fotoapparate ist zu hören, wenn die Springblenden zur Belichtung des Negativs sich öffnen und schließen. Dieser charakteristische Ton des Kameraverschlusses wurde von der Industrie für digitale Kameras übernommen, um den Moment der Entstehung einer Fotografie zu signalisieren.
8 Roland Barthes: „Der dritte Sinn“, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 65.
9 Ebd., S. 65.
10 Ebd., S. 65.
11 Ebd., S. 62.
12 „Der technisch und mitunter sogar ästhetisch geborene Film muß noch theoretisch geboren werden.“, Ebd., S. 66.

Katja Pratschke studierte Regie an der Filmhochschule Lodz und Studium der Medienkunst an der Kunsthochschule für Medien Köln. Das Werk von Gusztáv Hámos umfasst Arbeiten mit Fotografie, Film und Video, die sich mit den komplexen Verhältnissen von medialen Vor-Bildern, privatem Leben und der kathartischen Funktion von Mythen beschäftigten.Gemeinsam realisieren sie Fotofilme, Filmreihen und Publikationen zum Fotofilm.  Thomas Tode ist freier Filmemacher, Kurator und Publizist in Hamburg. Er forscht und lehrt zu Essayfilm, Sowjetavantgarde, politischem Dokumentarfilm, darüber hinaus Re-education, Architekturfilm, Antikfilm.

Vorliegender Text ist das einführende Kapitel von VIVA FOTOFILM bewegt/unbewegt; Marburg: Schüren 2010, S. 9-16.