Für die freie Verbreitung von Kurzfilmen

Einige Generationen von Kinobesuchern erinnern sich wahrscheinlich noch an die Zeit – es ist noch gar nicht so lange her -, in der der Kurzfilm, obwohl noch sehr lebendig, fast von der Bildfläche verschwunden war, da es nur noch wenige Auswertungsmöglichkeiten gab: Im Kino wurde er durch Werbung ersetzt, vom Fernsehen völlig ignoriert. Um wirklich sein Publikum zu finden, gab es nur eine Handvoll Festivals. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren hat sich diese Situation stark verändert: Die Zahl der Produktionen und Auswertungsmöglichkeiten nimmt stetig zu und weltweit gibt es immer mehr Veranstaltungen, die sich dem Kurzfilm widmen.
Heute ist der Kurzfilm in gewisser Weise Opfer seines eigenen Erfolgs geworden. Das Interesse und die Einsatze sind zwar gestiegen, damit zeigt sich aber gleichzeitig die andere Seite der Medaille. Wenn man den Kurzfilm nämlich jetzt in der ersten Liga mitspielen lässt, muss er auch die dort geltenden Regeln hinnehmen, insbesondere die Forderung nach Exklusivität, die von einigen Festivals,
wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, erhoben wird. Dies kann bedeuten, dass der Film zuvor in der Region, in der das Festival stattfindet, noch nicht gezeigt worden sein darf, über verschiedene mehr oder weniger restriktive Varianten, bis hin zur strengsten Bedingung, nach der der Film bisher weder auf einem Festival noch im Fernsehen zu sehen gewesen sein darf.
Daraus ergibt sich ein Dilemma für Regisseure und Produzenten: Sollen sie die Karriere ihres Films mehr oder weniger erfolgversprechenden Spekulationen auf Teilnahme an einem der wenigen A-Festivals anvertrauen? Wie entscheidet man sich für das „richtige“ Festival? Was, wenn die Entscheidung für ein Festival die Entscheidung gegen ein anderes bedeutet? Hauptsächlich aus diesem Grund bewerben sich viele Filme erst ein Jahr später bei den Festivals, auf die sie zu Gunsten anderer, Premieren fordernde, vorerst verzichtet haben. Teilweise haben sie dann bereits Preise gewonnen.
Kann man aber denjenigen, die die Filme auswählen, vorwerfen, dass sie neuere Filme vorziehen, die noch nirgendwo prämiert worden sind und Aufmerksamkeit benötigen? Die Forderung nach Exklusivität schafft in der Tat eine Konkurrenz zwischen den Festivals, die es bei den Zuschauern gar nicht gibt. Das Fachpublikum, insbesondere die Fachpresse, ist auf den großen Langfilmfestivals vertreten, aber seltener auf Kurzfilmfestivals präsent. Es lässt sich somit schwer beurteilen, ob eine Kennzeichnung als „Weltpremiere“ oder „nationale Premiere“ wirklich die Meinung des Festivalpublikums über die Filme und den Wert des Festivals als einem Ort der Begegnung mit Filmkunst beeinflusst.
Wie zahlreiche andere hat sich das Festival in Clermont-Ferrand dem Prinzip der Exklusivität immer entgegengestellt. Dieses Prinzip wertet diejenigen Festivals, die es konsequent anwenden, auf, erschwert aber gleichzeitig massiv die frühzeitige Verbreitung der Filme. Die Schaffung von Bedingungen für die Verbreitung von Kurzfilmen wiederum war aber einer der essentiellen Punkte des
„Code of Ethics“, der 1996 von der Europäischen Koordination der Filmfestivals (The European Coordination of Film Festivals, 230 Mitgliedsfestivals, davon 40 deutsche) verabschiedet wurde. Beim Symposium zum Thema „How to Sell a Short Film“, das im November 2009 während der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur/ Schweiz stattfand, erklärte Reto Caffi, dass sein Film „Auf der Strecke“ 50 oder 60 Preise gewonnen hatte, nachdem er auf 150 Festivals gelaufen war. Es lasst sich aber auch leicht ausmalen, wie viele bzw. wenige Festivalteilnahmen und somit Zuschauer der Film in einer exklusiven Festivallandschaft erreicht hatte.
Der Langfilm bewegt sich ständig in konkurrierenden Bereichen, in dem der Markt auf Neuentdeckungen und enormen wirtschaftlichen Nutzen fixiert ist. Festivals stellen hierbei hauptsächlich ein medienwirksames Sprungbrett zum kommerziellen Erfolg dar. Der Kurzfilm hingegen unterliegt diesem Wirtschaftlichkeitsprinzip bisher meist nicht. Auf Festivals, teilweise auch durch Fernsehen und Internet erreicht er seine Zuschauer. Daher ist es vor allem wichtig, dass sich der Kurzfilm frei dorthin bewegen kann, wo auch sein Publikum ist.

Christian Denier ist Mitglied des Auswahlkomitees des Internationalen Kurzfilmfestivals Clermont-Ferrand und Mitarbeiter von La Jetée

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